Pragmatismus und Existentialismus
William James und Jean-Paul SartreBibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alfred Betschart
Pragmatismus und Existentialismus –die beiden letzten großen Erzählungen der Philosophie ................................. 7
Hans-Martin Schönherr-Mann
Ist der Existentialismus ein Pluralismus? Ein Weg von James zu Sartre und darüber hinaus .......................................... 25
Jens Bonnemann Eine schwierige Ehe zwischen Phänomenologie und Pragmatismus: William James’ Einfluss auf Jean-Paul Sartres Wahrheitstheorie .................. 51
Oliver Victor
Eine Ethik a priori als „Ding der Unmöglichkeit“. Humanismus und Ethik bei James und Sartre 75
Alfred Betschart James, Sartre und die Kritik an der Assoziationspsychologie. Oder: Über das Verhältnis von Geist und Materie bei James und Sartre ................ 97
Marcel Siegler
Der Regelkreis der Geschichte – Sartres Überlegungen zur Gewohnheit im Spannungsfeld von Aristoteles und William James ................................... 121
Ana Honnacker James, Sartre und die Hoffnungslosigkeit. Überlegungen zu einem neuen Humanismus für das Anthropozän............. 149
Paul*A Helfritzsch
Großzügigkeit. Oder: Wonach man nicht fragt
Abstract: Pragmatism and existentialism have much in common, not only that they were the last two metanarratives. They share their relativism with regard to truth as well as ethical values, their advocacy of pluralism and a meliorist attitude due to which both James and Sartre were involved in the anti-colonialist movement. What they also hold in common is that they both embraced a philosophy based on scientism, or more precisely, psychologism. At least in part, the proximity of James’s and Sartre’s philosophies can be explained by the fact that they were part of one and the same rhizome, at the center of which were French spiritualism and Bergson.
1979 veröffentlichte Jean-François Lyotard seine für die Québecer Regierung verfasste Studie La condition postmoderne. Seine Zeitdiagnose vom Ende der „großen Erzählungen“ hat auch heute noch, fast ein halbes Jahrhundert später, ihre Berechtigung – zumindest für den westlichen Kulturkreis 1 . Lyotards Befund betraf alle drei Ausprägungen von métarécits, neben der Religion auch die später entstandenen konkurrierenden Formen von Philosophie und politischer Ideologie. Obgleich sie sich im Gegensatz zur Religion (und den politischen Ideologien) exklusiv an ein gebildetes Publikum richtete, war die Philosophie in ihrer Geschichte ein bedeutender Produzent großer Erzählungen. Unübersehbar sind hierbei die Parallelen zwischen ihr und der Religion. Sind die wesentlichen Fragen, die Religionen beantworten, jene nach der Erklärung der Welt (inklusive Weltschöpfungsmythos), der Moral und dem Leben nach dem Tode, so sind nach Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft die zentralen Fragen der Philosophie: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen?“ 2 . Eine
1 Außerhalb dessen sind der christliche und vor allem der islamische Fundamentalismus stark im Aufschwung und in Asien und Russland arbeiten Xi Jinping, Narendra Modi und Vladimir Putin erfolgreich an neuen métarécits
2 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 522.
Pragmatismus und Existentialismus –die beiden letzten großen Erzählungen der Philosophie
Differenz gibt es nur in Bezug auf den ersten Themenkomplex, jenen nach der Welterklärung, der bei Kant aufgrund des Aufstiegs der Naturwissenschaften durch eine epistemologische Fragenstellung abgelöst wurde.
Mit Kants kognitiver Wende war das Ende der Produktion großer Erzählungen in der Philosophie noch nicht erreicht. Neben dem Hegelianismus und dem Nietzscheanismus zählen zu den bedeutenden philosophischen Metaerzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts der Pragmatismus und der Existentialismus. Beide fanden Widerhall weit über die Gebiete ihrer ursprünglichen Entstehung, die USA und Frankreich, hinaus. Die modernen Transport- und Kommunikationsmittel ermöglichten eine rasche Verbreitung dieser beiden métarécits rund um den Globus. Welch Bewunderung James damals genoss, zeigt uns dessen Brief, in dem er den Empfang am Philosophiekongress 1905 in Rom beschreibt:
This morning I went to the meeting-place of the Congress to inscribe myself definitely, and when I gave my name, the lady who was taking them almost fainted, saying that all Italy loved me, or words to that effect, and called in poor Professor de Sanctis, the Vice President or Secretary or whatever, who treated me in the same manner, and finally got me to consent to make an address at one of the general meetings […] to be told that my name was attracting many of the young professors to the Congress! 3
James war 1910, in seinem Todesjahr, der bedeutendste amerikanische Denker in Europa, hier vielleicht sogar bekannter als auf der anderen Seite des Ozeans. 4 Später sollte John Dewey ihm mit Vortagsreisen, die diesen bis nach China und Japan führten, in nichts nachstehen. Sartres Breitenwirkung war vergleichbar, nur dass der technologische Fortschritt eine noch schnellere und umfassendere Rezeption ermöglichte. Er hatte Auftritte in vielen Ländern rund um den Globus, beginnend mit Tourneen in den USA, der Schweiz und Italien unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Situation im Jahr 1948, als Sartre unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit Berlin besuchte, beschreibt Mechtild Rahner wie folgt: unter den Intellektuellen habe es nur drei Lager gegeben, jene von Karl Marx, Jean-Paul Sartre und Jesus Christus 5. In den 1950er und anfangs der 1960er Jahre war Sartre in den islamischen Ländern des Nahen Ostens der renommierteste europäische Philosoph mit bedeutender Wirkung über den engeren Kreis der Philosophie hinaus.
3 James, Henry (Hg.): The Letters of William James, Vol. 2 (Brief 25.4.1905 an seine Frau), S. 225–226.
4 Nubiola: „The Reception of William James“, S. 74.
5 Rahner: „Tout est neuf ici“, S. 209. Zur Rezeption Sartres zwischen 1944 und 1968 siehe Betschart/Werner (Hg.): Sartre and the International Impact of Existentialism.
Seine Reisen nach Brasilien 1960 und Japan 1966 waren absolute Medienereignisse und lösten dort jeweils einen richtigen Hype aus.
Zwar gab es auch weitere Philosophen, die im 20. Jh. teilweise spektakuläre Erfolge erzielten, unter ihnen Oswald Spengler, Karl Jaspers, Michel Foucault, Jürgen Habermas und Judith Butler. Doch fehlten ihren Erzählungen zu sehr die Breite – entweder in der Theorie oder in der Wirkung –, um als große Erzählungen in die Geistesgeschichte des Westens einzugehen. Pragmatismus und Existentialismus waren die letzten in der Philosophie entstandenen großen Erzählungen.
Pragmatismus und Existentialismus –
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Aufgrund der Tatsache, dass der Pragmatismus und der Existentialismus unter den bedeutenden philosophischen métarécits die zuletzt entstandenen sind, wäre zu erwarten, dass es ausreichend wissenschaftliche Arbeiten über deren gegenseitiges Verhältnis gäbe. Dies trifft jedoch nicht zu. Eine Erklärung liegt vielleicht darin, dass ihre Arten des Philosophierens zu divergent sind. Bringt James seine Ablehnung gegenüber der klassischen Metaphysik klar zum Ausdruck 6, pflegt Sartre ein ausgesprochen klassisches Verständnis von Philosophie. Philosophie ist für ihn ein System 7. Seine Ethik und Ästhetik, aber auch seine politische Philosophie bauen auf seiner aus der (Sozial-)Psychologie in L’être et le néant und der Sozialontologie in der Critique de la raison dialectique bestehenden Anthropologie auf und diese wiederum auf den in L’être et le néant veröffentlichten Grundlagen einer Ontologie und Epistemologie. James ist von solch einer Auffassung einer systemischen Philosophie weit entfernt und steht einem Jaspers, der Philosophieren nur als systematisches und nicht als systemisches Nachdenken verstand 8, aber auch unseren zeitgenössischen Philosophen viel näher als Sartre. Auch bezüglich des Verhältnisses zu Religion und dem ganzen Bereich des Übersinnlichen – im vorliegenden Buch durch SCHÖNHERR-MANN und BETSCHART 9 thematisiert – liegen unübersehbare Gegensätze vor. Einerseits haben wir James,
6 James: Pragmatism, S. 62.
7 Siehe hierzu Margaret Simons Interview mit Simone de Beauvoir, das wohl auch Sartres Verständnis von Philosophie widerspiegelt (Simons: Beauvoir and The Second Sex, S. 11)
8 Jaspers: Philosophie, Bd. I, S. 131.
9 Namen in Kapitälchen verweisen auf den Beitrag des entsprechenden Autors in diesem Band.
den Mitbegründer der American Society for Psychical Research, einer Gesellschaft zur wissenschaftlichen Erforschung parapsychologischer Phänomene. Überzeugt von der Möglichkeit der Telepathie mittels Medien gab er dieser Gesellschaft Briefe zur Verwahrung, deren Inhalt er zwecks Beweises der Korrektheit seiner Auffassung nach seinem Tod via Medium mitteilen wollte. Zum Thema der Unsterblichkeit veröffentlichte er 1898 sogar ein Buch mit dem Titel Human Immortality: Two Supposed Objections to the Doctrine. Diese Auffassungen stehen in klarem Gegensatz zu jenen Sartres, wonach die Existenz des Subjekts mit dessen Tod definitiv beendet ist. Auch bezüglich der Existenz Gottes sind die Gegensätze zwischen dem an einen Gott glaubenden James und dem selbsterklärten Atheisten Sartre unübersehbar, auch wenn letzterer gem. BETSCHART wohl eher Nontheist als Atheist war.
Neben diesen Gegensätzen, die einerseits die Methode in der Philosophie und andererseits zwei von Kants drei Postulaten der reinen praktischen Vernunft betrafen, könnte noch manch andere Differenz zwischen James’ Pragmatismus und Sartres Existentialismus erwähnt werden. Doch – bei allen von den Autoren festgehaltenen Unterschiede – der Akzent in den Beiträgen dieses Buches liegt eindeutig auf den Gemeinsamkeiten und Parallelitäten. Was James und Sartre verbindet, ist insbesondere ein gemeinsamer Ausgangspunkt, der mit VICTOR als die doppelte Singularität der Subjektivität beschrieben werden kann, die Einmaligkeit einer jeden Situation und die Einmaligkeit der Perspektive, die ein Individuum auf eben diese Situation einnimmt.
Mit dieser Sichtweise verbunden ist, dass James und Sartre die von der griechischen Klassik bis zum Idealismus und auch darüber hinaus vertretene Auffassung der Existenz eines ens unum, verum, bonum, pulchrum ablehnen. James wie Sartres Vorstellung von der Welt ist eine pluralistische, die die synchron wie diachron feststellbare hohe Diversität bezüglich der Vorstellungen von Wahrheiten wie Werten als nicht überwindbares Faktum anerkennt. Gleich mehrere Beiträge befassen sich mit dem Thema der Wahrheit bei James und Sartre, so jene von BONNEMANN und SCHÖNHERR-MANN, aber auch VICTOR, BETSCHART und HONNACKER. James und Sartre sind sich einig, dass die Subjekte ihre jeweiligen Wahrheiten immer aus ihren individuellen Perspektiven heraus formulieren. Mit der Anerkennung dieser Vielfalt von Wahrheiten wollen die beiden Philosophen allerdings nicht einem anything goes das Wort reden. Beide sind Realisten und gehen von den hard facts of life aus: James spricht vom cash-value, Sartre vom Widrigkeitskoeffizienten, die der Willkür in der Wahrheitsfindung Grenzen setzen. Einig sind sich auch beide, dass die Findung von Wahrheit grundsätzlich immer in sozialen Handlungszusammenhängen eingebettet ist (BONNEMANN).
In noch größerem Ausmaß gilt James’ und Sartres relativistische Sichtweise für die Ethik, wie insbesondere VICTOR, aber auch SCHÖNHERR-MANN und BETSCHART darlegen. Unzweifelhaft vertrat Sartre in moralischen Fragen eine radikalere Position als James. Mit seiner Aussage in L’être et le néant, dass alle menschlichen Tätigkeiten äquivalent seien, ob man sich nun einsam betrinke oder regiere 10, nimmt Sartre wie Friedrich Nietzsche in Bezug auf die herrschende Moral eine ausgeprägt nihilistische, James fremde Position ein 11. Insbesondere für Sartres Werke der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1944 bis 1948/49 – mit L’existentialisme est un humanisme und den Cahiers pour une morale – sieht VICTOR jedoch eine bedeutende Gemeinsamkeit zwischen den Ethiken von James und Sartre, insofern sie eine Ethik des Humanismus teilen, in der der Mensch als Maß aller Dinge im Zentrum steht. HONNACKER spricht mit Bezug auf das Thema der Bewältigung der Klimakatastrophe gar von einem neuen Humanismus, der auf James’ und Sartres Denken beruhen könnte.
Beide, James wie Sartre, vertreten in ihren Philosophien einen klar pluralistischen Standpunkt. Bei James war dieser mit seinem Kampf für das Viele und gegen das Eine resp. gegen Idealismus und Rationalismus sogar ein zentraler Punkt seiner Philosophie 12. Während es bei ihm jedoch weitgehend beim abstrakten Bekenntnis für eine pluralistische Gesellschaft blieb – eine Ausnahme ist vielleicht sein Eintreten für eine religiös vielfältige Welt –, wurde Sartre nicht zuletzt für sein konkretes Eintreten für die Anliegen der Andern bekannt, ob diese nun Juden, Schwarze, Frauen oder Schwule waren. Es ist ein Potential, das Ana Honnacker allerdings auch für James’ Pragmatismus in Anspruch nimmt 13 HELFRITZSCH fordert in diesem Sinne unter Berufung auf Sartre wie James Raum für irritierende und ungewöhnliche Andersheiten im Sinne einer Großzügigkeit, wie sie den beiden Philosophen zu eigen war.
Angesichts ihrer pluralistischen Sichtweise wenig erstaunlich neigten James wie Sartre – insbesondere gegen Ende ihres Lebens – politisch dem Anarchismus zu. 1900 schrieb James in einem Brief an William Dean Howells: „I am becoming more and more an individualist and anarchist and believer in small systems of things exclusively.“ 14 Diesen Standpunkt wiederholt er in einem Brief an Pauline
10 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 1071.
11 Betschart: „Nietzsche, Sartre und der Vorwurf des Nihilismus“, S. 85.
12 Siehe James’ vierte Vorlesung The One and the Many in Pragmatism (S. 63–79) und sein Buch A Pluralistic Universe.
13 Honnacker: „William James“, S. 15.
14 Coon: „‚One Moment‘“, S. 71.
Goldmark 1903, in dem er seinen Respekt vor denen äußert, die ein unkonventionelles Leben führen 15. Und in Pragmatism bezieht sich James sich gleich mehrfach auf den anarchistischen Sozialtheoretiker Morrison I. Swift.
Die Parallelen zur Entwicklung Sartres, der fälschlicherweise immer wieder als Marxist, Kommunist oder sogar Maoist eingestuft wird 16, sind unübersehbar. Sartre, der schon in den 1950er Jahren, als er zu Zeiten des Tauwetters mit den Kommunisten zusammenarbeitete (1952/54–56), seine Sympathien für die Anarchosyndikalisten äußerte 17, trat in seinen letzten Jahren, von 1972 bis 1980, immer deutlicher für den Anarchismus ein. Anfangs geschah dies noch versteckt, indem er sich als der „antihierarchisch-libertären“ Bewegung nahestehend bezeichnete, dann jedoch zunehmend expliziter, so in Interviews mit Juan Goytisolo 1978 und mit Raúl Fornet-Betancourt, Mario Casañas und Alfredo Gómez-Muller 1979 18: „Persönlich habe ich mich immer als Anarchisten verstanden“ 19 .
Eine weitere bemerkenswerte Entsprechung zwischen Pragmatismus und Existentialismus existiert in Bezug auf James’ Meliorismus und Sartres Konzept von Verantwortung und Engagement. Für James ist Meliorismus eine Haltung „[that] treats salvation as neither inevitable nor impossible“ 20 . Damit verbunden ist auch die Vorstellung, dass das Individuum eine Verantwortung für sein Tun hat (HONNACKER). Dies entspricht in hohem Maße Sartres Verständnis von Verantwortung und Engagement. Auch wenn der Mensch immer wieder mit dem Scheitern seiner Handlungen konfrontiert ist, soll er sich auf der Basis einer optimistischen Grundhaltung und in Übernahme seiner Verantwortung gegenüber dem Andern engagieren. Albert Camus’ Bild von Sisyphos, den wir uns als „einen glücklichen Menschen vorstellen“ 21 müssen, gilt auch für Sartre. Frederick J. Ruf liegt mit seinem sonst lesenswerten Essay Is James an Existentialist? falsch, wenn er James wegen der fehlenden „existentialistischen“ Angst näher bei Ralph Waldo Emerson als bei Sartre sieht. Das Problem seiner These ist eines der angelsächsischen Terminologie, die die pessimistische deutsch-dänische Existenzphilosophie
15 Coon: „‚One Moment‘“, S. 85. Zu James Anarchismus siehe auch Livingston: Damn Great Empires!
16 Siehe Betschart: „Sartre Was not a Marxist“.
17 Sartre: „Die Kommunisten und der Frieden“, S. 260–265.
18 Sartre/Gavi/Victor: Der Intellektuelle als Revolutionär, S. 60; Sartre/Fornet-Betancourt/ Casañas/Gómez-Muller: „Anarchie und Moral“, S. 366–367. Zu Sartres anarchistischer politischer Spätphilosophie siehe Betschart: „Vom Marxisten zum Anarchisten“.
19 Sartre/Goytisolo: „Conversación con Jean-Paul Sartre“, hier S. VII.
20 James: Pragmatism, S. 137.
21 Camus: Der Mythos des Sisyphos, S. 160.
– mit der Angst, den Grenzsituationen und dem „Sein zum Tode“ – und den „melioristischen“ französischen Existentialismus anders als die deutsche Sprache unter einem einheitlichen Terminus, jenem des existentialism, zusammenfasst. 22
Die Parallele zwischen James und Sartre reicht sogar hin bis zum Engagement auf ähnlichen Gebieten. Sartre, der politische Intellektuelle par excellence der Jahre von 1945 bis 1970, profilierte sich vor allem mit seinem Einsatz gegen den Algerien- und den Vietnamkrieg. James war als Mitbegründer der American Anti-Imperialist League 1898 Sartres Vorläufer. Mit seinem Eintreten gegen den Philippinisch-Amerikanischen Krieg profilierte er sich wie Sartre politisch durch sein Engagement gegen den Kolonialismus. 23
Die Gemeinsamkeiten zwischen Sartre und James gehen über die doppelte Singularität der Subjektivität und die damit verbundenen Themen wie Relativismus bezüglich Wahrheit und Ethik, Pluralismus, Verantwortung und Engagement hinaus und sind auch auf den Gebieten der Sozialontologie und der Anthropologie feststellbar. So betont SIEGLER in seinem Beitrag die Gemeinsamkeiten, die es in den Konzepten beider Denker bezüglich der Analyse der Gesellschaft gibt, was er am Beispiel von Hexis bei Sartre und habit bei James illustriert.
BETSCHART wiederum macht darauf aufmerksam, dass hinter dem Relativismus von James und Sartre eine ähnliche Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Geist und Materie beim Menschen steht. Gegen die Assoziationspsychologie und die verwandten Formen von Determinismus, Materialismus und Mechanismus betonen James und Sartre die Bedeutung des Willens und dessen Freiheit, von Kreativität und Spontaneität und dass das Individuum gleichzeitig Geist und Materie ist. In der Terminologie des ersteren ausgedrückt halten James und Sartre Äquidistanz zu den reinen Typen von tender-minded (rationalistic: going by ‚principles‘, intellectualistic, idealistic, optimistic, religious, free-willist) und toughminded (empiricist: going by ‚facts‘, sensationalistic, materialistic, pessimistic, irreligious, fatalistic) 24 .
22 Ruf: „Is James an Existentialist?“, S. 294. Zum angelsächsischen Existentialismus-Verständnis, auf das Ruf rekurriert, siehe William Barretts The Irrational Man, wo Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger und Sartre unter dem Ausdruck existentialism zusammengefasst werden.
23 Siehe Kamber: William James. Essays and Lectures, S. 7–8.
24 James: Pragmatism, S. 13.
James und Sartre in der Philosophiegeschichte
Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten in den philosophischen Konzepten von Sartre und James stellt sich unmittelbar die Frage nach derer philosophiegeschichtlicher Verortung. Im Fall von James ist diese Frage einfacher zu beantworten, da er sich hierzu immer wieder äußerte. In A Pluralistic Universe stellt James die unterschiedlichen Typen von Philosophien, die ihren ultimativen Ausdruck im Gegensatz von Pluralismus und Monismus finden, einander gegenüber. James positioniert sich hier klar gegen Hegel und verwandte Formen eines absoluten und monistischen Idealismus, gegen die englischen Hegelianer genauso wie gegen seinen Freund und Harvard-Kollegen Josiah Royce. Mit dieser Kritik einher geht ein sehr großes Lob für Henri Bergson und dessen Verurteilung des Intellektualismus. Stellungsbezüge finden sich auch in James’ andern Werken, so bspw. in The Meaning of Truth, wo er seinen Relativismus mit dem „Absolutismus“ des Neukantianers Heinrich Rickert vergleicht und seine Philosophie als in der Tradition von Protagóras’ homo mensura-Satz stehend bezeichnet (BETSCHART). 25
Es ist offensichtlich, dass James seine Philosophie sub specie aeternitatis philosophiae deutlich im Lager eines pluralistischen Anti–Essentialismus verortet, der im Gegensatz zur Auffassung eines ens unum, verum, bonum, pulchrum steht, die den philosophischen Mainstream seit ihren Anfängen in der älteren ionischen Naturphilosophie und Pláton prägte. James schlägt sich im Streit zwischen der ionisch-attischen Philosophie, die in Plátons Theaítetos durch Thalés verkörpert wird, der im Himmel das Wesen der Welt sucht, und der thrakischen Philosophie auf die Seite letzterer. Diese Philosophie, verbunden mit Ábdera, jenem multikulturellen Ort griechischer Kolonisten, der im „barbarischen“ Thrakien lag und unter persischer Herrschaft stand, wird im Theaítetos durch die Magd repräsentiert, die sich nur für das ihr zu Füßen liegende Konkrete, das Ontische interessiert. 26
Im Vergleich zu James gestaltet sich die Positionierung von Sartres Philosophie ungleich komplexer. Das herkömmliche Narrativ sieht Sartre in der Nachfolge von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Hegel. Während von Heidegger zumindest verschiedene Konzepte in überarbeiteter Form Eingang in L’être et le néant (1943) fanden, sind es von Hegel nur die Herr-Knecht-Dialektik und von Husserl – eigentlich müsste hier eher auf Franz Brentano verwiesen werden – die Intentionalität. Nachdem Sartres philosophische und psychologische Werke von
25 James: The Meaning of Truth, S. 263.
26 Platon: „Theaitetos“, 174 St. 1 A. Mit Ábdera verbunden werden neben Protagóras auch Leúkippos und Demókritos.
La Transcendance de l’ego (1934/36) bis zu L’imaginaire (1940) stark unter Husserls Einfluss gestanden und er 1939 Sein und Zeit gelesen hatte, teilte Sartre 1940 in einem Brief an Beauvoir mit, dass seine neue „realistische“ Philosophie, d.h. jene, die er drei Jahre später als L’être et le néant veröffentlichte, keine Ähnlichkeit mehr mit jener von Husserl und Heidegger habe, sondern eher mit seinen alten Ideen von vor 1933 27. Was diese Zeit vor 1933 anbetrifft, ist allerdings relativ wenig bekannt. 28 In diesem Zusammenhang erwähnenswerte Namen sind insbesondere jene von Bergson, Kant, Baruch de Spinoza, Alain, Nietzsche und Jaspers (siehe auch BETSCHART).
Um James und Sartre auch in ihrem Verhältnis zueinander und zur übrigen Philosophie deutlicher zu positionieren, möchte ich deshalb im Folgenden jenes Modell der Entwicklung der Philosophie benutzen, das Herbert Schnädelbachs Buch Philosophie in Deutschland 1831–1933 zugrunde liegt: Diesem gemäß wendet sich die deutsche Philosophie in Reaktion auf Hegels Idealismus einem wissenschaftsbasierten, „szientistischen“ Approach zu. Je nach Leitwissenschaft dominieren Historismus 29 und Psychologismus 30; als weniger bedeutende Varianten sind auch Biologismus 31 und Soziologismus 32 zu erwähnen. Gegen Ende des 19. Jhs. kommt es hernach zur Gegenbewegung der „reinen Philosophie“, die dem Szientismus Relativismus vorwirft, da empirische Wissenschaften nie die Gewissheit von a priori-Urteilen liefern können. Getragen wird diese Gegenbewegung neben den Neukantianern vor allem von Gottfried Frege als einem der Väter der analytischen Philosophie und von Husserl und danach Heidegger mit ihrem Kampf gegen den Psychologismus.
Dieses Modell erweist sich für das Verständnis des Verhältnisses von James’ und Sartres Philosophien als sehr erklärungsmächtig. Die übliche Unterscheidung in analytische und kontinentaleuropäische Philosophie, in die der Pragmatismus als „uramerikanische“ Philosophie so gar nicht hineinpasst, wird durch jene zwischen szientistischen Philosophien und der „reinen Philosophie“ ersetzt. Die Philosophien von James und Sartre gehören wie auch jene von Bergson, Wilhelm Dilthey und Jaspers zur Untergruppe der psychologistischen Philosophien,
27 Sartre: Briefe, S. 53–54.
28 Eine Übersicht hierzu bietet Betschart: „Deconstructing Sartre“, S. 92–99.
29 U.a. Johann Gustav Droysen, Karl Marx, Nietzsche, Oswald Spengler, Arnold J. Toynbee, später die Neomarxisten und Michel Foucault
30 U.a. John St. Mill, James, Bergson, Wilhelm Dilthey, Gabriel Marcel, Sartre, Beauvoir, Camus und Maurice Merleau-Ponty.
31 U.a. Spencer, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und z.T. Bergson
32 U.a. Auguste Comte und Marx.
d.h. Philosophien, die von einem von der Psychologie geprägten Verständnis des Menschen ausgehen. Anders als die Assoziationspsychologie, die auch zu dieser Kategorie zählt, verstehen sie die Psyche jedoch nicht als durch Kausalbeziehungen determiniert, sondern als Produkt gleichermaßen von Geist und Materie (BETSCHART). Als szientistische Philosophien pflegen sie den diesen eigenen Relativismus, nicht zuletzt auch bezüglich der Ethik.
Dass Sartre im internationalen Vergleich relativ spät noch eine psychologistische Position einnahm, hängt mit der Sonderentwicklung der französischen Philosophie zusammen. Anders als die deutsche und die englische, bei denen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die „reinen Philosophien“ zu dominieren begannen, war die französische Philosophie bis in die 1970er von einem szientistischen Verständnis von Philosophie geprägt. Der Strukturalismus der 1950er bis 1970er Jahre war zwar gegen den Psychologismus, nicht aber gegen den Szientismus des Existentialismus gerichtet. Der Streit zwischen Sartre und Foucault um 1966 war „nur“ einer um die Leitwissenschaft der Philosophie, ob Psychologie oder Geschichte.
Dass Sartre, der sich zwischen 1933 und 1939 durchaus als Husserlianer verstand, offensichtlich die antipsychologistische Ausrichtung des mittleren Husserl und Heideggers 33 unbekannt war, mag damit zusammenhängen, dass er 1933/34 in Berlin nur Husserls Ideen und nicht die Logischen Untersuchungen gelesen hatte. Wie die Distanzierung von Husserl und Heidegger um 1940 zeigt, wurde er sich der Inkompatibilität seines „psychologistischen“ Denkens mit deren Philosophien zunehmend bewusst. Nicht nur wollten erstere die für Sartre zentrale Subjekt-Objekt-Spaltung überwinden, ihm wurde auch bewusst, dass sein primäres Interesse nicht in den Fragen nach dem Wesen der Sachen und dem Sein lag als vielmehr in den Akzidentien und dem Seienden, im Ontischen und nicht im Ontologischen 34 .
Sartre und James – verbunden durch ein Rhizom
Angesichts der vielen Parallelitäten zwischen Sartres existentialistischer und James’ pragmatistischer Philosophie und der Tatsache, dass beider Philosophien
33 Nicht nur lehnte Heidegger 1937 in einem Brief an die Société française de philosophie eine psychologisierende Interpretation von Sein und Zeit ab, sein Brief über den Humanismus (1947) könnte als Brief gegen Sartres Psychologismus bezeichnet werden.
34 Sartre: Briefe, S. 53–54.
zu den psychologistischen zu zählen sind, stellt sich die Frage, ob es allenfalls direkte oder indirekte Einflüsse von James auf Sartre gab. Eine Analyse von Sartres Werken zeigt, dass sich Sartre allerdings nur einmal tiefergehend mit James auseinandersetzte, nämlich in seinem 1939 erschienenen Werk Esquisse d’une théorie des émotions 35 mit Bezug auf James’ Theorie der Emotionen 36. Für Sartre ist diese zwar grundsätzlich unzureichend, weil sie die Emotionen zu sehr als Folge von Veränderungen im Körper versteht und darob den Geist vernachlässigt. Doch Sartre hebt auch ihre Stärke hervor, insofern sie die Emotionen mit dem ganzen Körper in Verbindung bringt – dies gegen die später entwickelte Theorie von Walter B. Cannon, die die physiologische Ursache von Emotionen mit dem Verweis auf die zentrale Stellung des Thalamus, eines Teils des Zwischenhirns, stärker betont.
Weniger bedeutende Fundstellen zu James finden sich auch in Sartres anderen Werken. In L’imagination (1936) gibt es ein längeres Zitat aus der französischen Übersetzung von Psychology. Briefer Course, wonach die scharfkantigen Bilder der traditionellen Psychologie nur einen sehr geringen Teil eines konkreten und lebenden Bewusstseins konstituieren 37 . Unsicher ist hierbei allerdings, ob Sartre direkt aus der französischen Übersetzung zitiert oder das Zitat von Émile Meyerson übernahm, so wie er später im selben Werk auch auf ein James-Zitat bei Édouard Claparède verweist. Weitere kurze Referenzen auf James kommen in Sartres Carnets de la drôle de guerre (1939/40, publ. 1983; bezüglich Emotionen), in L’être et le néant (1943; u.a. bezüglich des Bewusstseinsstroms) und in den Cahiers pour une morale (1947/48; publ. 1983; bezüglich Emotionen) vor 38. Zusätzlich gibt es Aussagen zu James’ Wahrheitstheorie in Vérité et existence (1948, publ. 1989; BONNEMANN, VICTOR), wobei es auch hier Probleme um deren Status gibt 39 . Eine letzte Referenz auf James findet sich im Flaubert, L’idiot de la famille (1971), wo Sartre Flauberts existentielle Erfahrung mit der religiösen Erfahrung bei James
35 Sartre: „Skizze eine Theorie der Emotionen“, S. 255–321.
36 Sartre: Entwürfe, S. 552–553.
37 Sartre: „Die Imagination“, S. 173; James: Psychology. Briefer Course, S. 150–151.
38 Sartre: Tagebücher, S. 76. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 1043; Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, S. 553.
39 Sartre: Wahrheit und Existenz, S. 48. Sartre ordnet die Aussage, dass der Beweis, dass der aufgehobene Bleistift derselbe wie der heruntergefallen ist, in der Tatsache liegt, dass ich ihn aufhebe, richtigerweise Bergsons Vorwort zu James’ Pragmatism zu, Arlette Elkaïm-Sartre, die Herausgeberin von Vérité et existence, jedoch fälschlicherweise direkt James. Sartre führt unmittelbar danach ein weiteres „Zitat“ von James an, nämlich dass „[d]ie Wahrheit des Puddings […] ist, gegessen zu werden“; dieses allgemeinbekannte englische Sprichwort konnte jedoch in James’ Werken nicht gefunden werden.
vergleicht 40, ein offensichtlicher Verweis auf James’ The Varieties of Religious Experience
Angesichts von Sartres voluminösem Werk – Sartre soll durchschnittlich zwanzig Seiten pro Tag geschrieben haben – scheint die Zahl der Hinweise auf James minimal zu sein. Sartres Arbeiten – mit Ausnahme jener der 30er Jahre, als er sich noch mit dem Gedanken einer akademischen Karriere trug 41 – zeichnen sich allerdings generell durch wenige Referenzen auf andere Autoren und Werke aus. Die meisten dienen nur dazu, sich von andern Philosophen abzugrenzen. Unter diesem Blickwinkel fallen Zahl und Art der Referenzen auf James – die meisten sind als neutral bis zustimmend einzustufen – eher positiv auf. Besonders bemerkenswert sind zwei Erwähnungen von James’ Namen in Sartres Diplomarbeit L’image dans la vie psychologique 42. Nicht nur zeigt der erste Hinweis, bei dem es um den Ausdruck „sub-universes“ 43 geht, dass Sartre mindestens indirekt auch die damals nicht übersetzten Principles of Psychology und nicht nur Psychology. Briefer Course kannte. Damit ist auch klar, dass wir zum Aufspüren der Verbindungen zwischen Sartre und James bis in die Zeit seines Studiums an der École Normale Supérieure (ENS) zurückgehen müssen.
In der Tat zeigt die Liste der von Sartre in der Bibliothek der ENS ausgeliehenen Bücher, dass zu diesen auch James’ Précis de psychologie, die französische Fassung von Psychology: The Briefer Course, gehörte 44. Sartres Unterscheidung von Ich (Je) und Mich (Moi), dem Subjekt-Ich und dem Objekt-Ich, in La transcendance de l’ego könnte durchaus aus The Briefer Course stammen 45. Sartres Interesse am Pragmatismus – Sartre war damals sehr amerikanophil, v.a. des Films, der Musik und der Literatur wegen – beweisen auch weitere Bücher, die er in der Bibliothek der ENS auslieh: John Deweys How We Think (Comment nous pensons), Emmanuel Lerouxs Le pragmatisme américain et anglais von 1922 und Jean Wahls Les philosophes pluralistes d’Angleterre et d’Amérique von 1920. 46 Ist Lerouxs Buch breit aufgestellt, insofern es neben James auch Charles S. Peirce, Dewey and F. C. S. Schiller ausführlich behandelt, so fokussiert Wahl ganz deutlich auf James. Wahl ist auch der Verfasser von Vers le concret (1932), das Sartre
40 Sartre: Der Idiot der Familie, Bd. I, S. 488.
41 Betschart: „Sartre und der Lehrstuhl“.
42 Sartre: „L’image dans la vie psychologique“, S. 151, 181.
43 James: The Principles of Psychology, Vol. II, S. 920.
44 Dassonneville: „Liste des emprunts“, S. 283.
45 Sartre: „Die Transzendenz des Ego“, S. 39; James: Psychology. Briefer Course, S. 159.
46 Dassonneville: „Liste des emprunts“, S. 267, 270.
später mehrfach als Ideengeber für seine Generation lobte. 47 Was wie eine Anspielung auf Husserls Schlachtruf „zu den Dingen selbst“ anmutet, war tatsächlich ein Buch über James, Alfred North Whitehead und Gabriel Marcel. Welcher Teil dieses Buchs – oder war es das Vorwort? – Sartre so tief beeindruckte, teilt uns dieser allerdings nicht mit.
Dass Sartre schon früh mit James’ Denken in Kontakt kam, ist auch deshalb naheliegend, weil die beiden für ihn während seines Studiums bedeutendsten Professoren wichtigen Anteil an der Verbreitung des Pragmatismus in Frankreich hatten. Henri Delacroix, Professor für Philosophie und Psychologie an der Sorbonne, war der wichtigste Förderer des frühen Sartre. Nicht nur schrieb Sartre bei ihm seine Diplomarbeit, er verschaffte ihm auch den Studienaufenthalt in Berlin (1933/34) und gab ihm die Möglichkeit zur Publikation von L’imagination (1936), Sartres erster wissenschaftlicher Monographie. Mit seiner Besprechung von James’ The Varieties of Religious Experience (1903) war Delacroix einer der allerersten, der James einem breiteren wissenschaftlichen Publikum in Frankreich bekannt machte. Er publizierte selbst mehrfach zum Thema des christlichen Mystizismus. Dass sich Sartre in seiner Diplomarbeit auch mit Mystikern beschäftigte, erstaunt deshalb nicht.
Der zweite wichtige Professor für Sartre war Georges Dumas, der neben dem Lehrstuhl für experimentelle Psychologie an der Sorbonne eine leitende Position an der psychiatrischen Klinik Sainte-Anne innehatte, wo Sartre und seine Freunde oft dessen Präsentationen beiwohnten. Es war Dumas, der die Einleitung zu La théorie de l’émotion schrieb, der 1902 veröffentlichten Übersetzung des Kapitels über Emotionen aus James’ Principles, dem ersten auf Französisch erschienen Text von James. Der Ursprung für Sartres Interesse an Emotionen, wie es sich später in seinem Text Esquisse d’une théorie des émotions manifestierte, kann wohl bei Dumas gefunden werden.
Dazu kam noch die Rolle, die Bergson in der philosophischen Entwicklung des jungen Sartres spielte. Zwar ist nur bestätigt, dass Sartre 1923/24 für eine Arbeit bei François Colonna d’Istria, seinem Philosophielehrer im Vorbereitungskurs (khâgne) zur Aufnahme an die ENS, Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience las. Angesichts Bergsons überragender Bedeutung zu jener Zeit ist dessen Einfluss auf Sartre wohl nicht zu unterschätzen. Durch Bergson lernt Sartre eine Philosophie kennen, die sich mit dem Thema des Verhältnisses von Geist und Materie auseinandersetzte, die Freiheit des Subjekts mit seiner
47 Z.B. in Sartre: Fragen der Methode, S. 25; Astruc/Contat: Sartre. Ein Film, S. 28.
Spontaneität betonte und der subjektiven Sicht der Welt Vorrang vor der objektiven der Wissenschaften einräumte. Sartre dürfte das enge Verhältnis zwischen Bergson und James kaum entgangen sein. Nachdem James 1902 Bergsons Essai und Matière et mémoire gelesen hatte, sprach er von diesem nur in den höchsten Tönen, so bspw. in A Pluralistic Universe 48. Bergson seinerseits verfasste 1911 das Vorwort zur französischen Ausgabe von Pragmatism, auf das Sartre in Vérité et existence verwies. 49
Diese Beziehungen allein würden schon erlauben, von einem Rhizom zu sprechen, das James und Sartre verband. Unterstützt wird diese Annahme durch das Notizbuch Shuzo Kukis, eines japanischen Studenten, dem Sartre 1928, nachdem Kuki bei Husserl und Heidegger studiert hatte, Unterricht in moderner französischer Philosophie erteilte. Kukis Notizbuch besteht überwiegend aus Namen, die ihm Sartre nannte. In nach der Zahl der Erwähnungen absteigender Reihenfolge sind dies Léon Brunschvicg, Alain, René Descartes, Bergson, Maurice Blondel, Octave Hamelin, Émile Boutroux, Pierre Maine de Biran und Spinoza. Überraschend in dieser Liste ist das Erscheinen der Namen von Blondel, Hamelin, Boutroux und Maine de Biran, die alle zum weiteren Umfeld des französischen Spiritualismus zählen. Maine de Biran war der Gründervater des französischen Spiritualismus. Auf ihn berief sich Sartre, wenn es um die Trennung von physischen und psychischen Tatsachen ging 50. Von jenem beeinflusst waren Félix Ravaisson und Jules Lachelier, die beide auch in Kukis Notizbuch erscheinen. Zu deren Schülern wiederum zählten Jules Lagneau und Boutroux. Letzterer war nicht nur der Autor des Vorworts zur französischen Übersetzung von James’ The Varieties of Religious Experience und verschiedener Beiträge über James in der Revue de métaphysique et de morale, sondern auch James’ persönlicher Freund. Boutroux war zudem ein Lehrer von Bergson und Blondel. Letzteren traf James in Frankreich, und er bezeichnete ihn – unter dessen eigenem Namen wie unter dessen Pseudonym Bernard de Sailly – im Vorwort zu seinem Werk Pragmatism als einen der wenigen Philosophen, denen er zustimmen könne. Neben Blondel erwähnt James dort auch Édouard Le Roy, der wie Delacroix bei Bergson studiert hatte. 51
Wie nahe mehrere dieser Autoren dem Pragmatismus standen, belegt die 1918 erschienene Dissertation von Paul Simon mit dem Titel Der Pragmatismus
48 James: A Pluralistic Universe, S. 97–98.
49 Perry: „William James et M. Henri Bergson“, S. 21–24.
50 Sartre: „L’image dans la vie psychologique“, S. 80.
51 James: Pragmatism, S. 6.
in der modernen franzœsischen Philosophie, in dem Boutroux, Blondel, Bergson und Le Roy als Vertreter des französischen Pragmatismus bezeichnet werden. Zum weiteren Umfeld des ursprünglich stark katholisch geprägten 52 französischen Spiritualismus zählten aber auch Alain, ein Schüler Lagneaus, und Hamelin. Ersterer, Philosoph, bekennender Atheist und Chefideologe der linksliberalen Radikalen Partei PRRRS, war Sartres großes Idol zu dessen Zeit an der ENS; Sartre verehrte ihn zeitlebens. Hamelin wiederum hatte bei Charles Renouvier studiert, dessen Werk bei der Bewältigung von James’ Lebenskrise 1870 eine große Bedeutung zukam, nicht zuletzt in Bezug auf die Abkehr vom Determinismus hin zu einer Philosophie der Freiheit des Geistes. 53
Es ist offensichtlich, dass die vielen Parallelen, die die Autoren des vorliegenden Buches zwischen James und Sartre feststellen, nicht dem Zufall geschuldet, sondern einerseits das Resultat einer Problemstellung in der Philosophie sind, wie sie die Zeit nach Hegels Tod kennzeichnete, und andererseits die Folge eines Rhizoms, das James mit Teilen der französischen Philosophie verband, die für Sartres frühe philosophische Entwicklung zentral waren.
Diese große Nähe zwischen Pragmatismus und Existentialismus war nicht absehbar, als die Sartre-Gesellschaft in Deutschland und das William James Center der Universität Potsdam die Veranstaltung einer Tagung unter dem Titel „Pragmatismus und Existentialismus – William James und Jean-Paul Sartre“ vereinbarten. Umso größer ist der Dank der Leiter dieser Tagung, Michael Anacker und Alfred Betschart, dass diese Veranstaltung am 22./23.10.2021 an der Universität Potsdam stattfinden durfte. Deren Dank gilt einerseits den Vortragenden und andererseits jenen, die die organisatorische Arbeit vor Ort erledigten, Stefanie Erxleben und Gizem Kaya, und insbesondere Logi Gunnarsson, Professor für Ethik und Ästhetik an der Universität Potsdam und Leiter des dortigen William James Centers, ohne dessen Unterstützung die Tagung nicht möglich gewesen wäre.
52 Sartre: „Die Imagination“, S. 123.
53 Siehe auch Henry James: The Letters of William James, Vol. 1, S. 186.
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