reflexe 79: Jörg Noller. Ethik des Anthropozäns

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JÖRG NOLLER

Ethik des Anthropozäns

Überlegungen zur dritten Natur

REFLEXE

Schwabe reflexe

Band 79

Jörg Noller
Anthropozäns Überlegungen zur dritten Natur Schwabe Verlag
Ethik des

Gedrucktmit freundlicher Unterstützungder Geschwister

Boehringer IngelheimStiftung fürGeisteswissenschaftenin

IngelheimamRhein

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-4715-7

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4716-4

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Inhalt Dritte Natur ... ... ... .. .. ... .. .. ... .. .. .. .. ... .... 7 Sein und Sollen .. .. ... ... ... .. .. ... .. .. .. .. ... .... 29 Ethik der Natur ... ... .. .. .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... 51 Ethik des Anthropozäns .. .. ... ... ... .. .. .... .. .. ... 59 Aufklärungdes Anthropozäns .. ... .... ... .... .. .. ... 69 Ästhetik des Anthropozäns ... .. .. ... .. .. .... .. .. ... 73 Phänomenologie des Anthropozäns .... ... .... .. .. .. . 85 Metaethik des Anthropozäns .. .. .. ... .. .. .... .. .. ... 91 Ethos des Anthropozäns .. .. ... ... ... .. .. .... .. .. ... 99 Anmerkungen .. .. ... .. .. .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... 109 Literatur .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... .. .. .. .. .. ... . 119 Personenregister .. ... .. .. .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... 123 5

Warum solltesich die Philosophie mit dem Anthropozän befassen?Mit einem Begriff, der umstritten ist und mit einem Phänomen, das, wenn überhaupt, erst seit kurzem existiert?1

Gibt es überhaupt in der Philosophie ‹neue› Phänomene und Gegenstände,die einer neuen Ethik bedürfen?Der Begriffdes Anthropozäns ist geistesgeschichtlich so jung wie erdgeschichtlich die von ihm bezeichnete Phase. Er wurde Anfangder 2000er-Jahre von dem Meteorologenund Nobelpreisträger Paul Crutzen (1933–2021) geprägt. Crutzen führt das Anthropozän als eine neue (kainós), wesentlich vom Menschen (ánthropos) geprägte geochronologische Epoche ein. Er lässt das Anthropozän Ende des 18. Jahrhunderts einsetzen und macht es an Funden in Eisbohrkernen fest, deren Zusammensetzung Aufschluss über die sich seit dem verändernde Zusammensetzung der Atmosphäre geben.2 Crutzen datiert das Anthropozän genauer auf das Jahr1784, in welchem durch JamesWatts Erfindungen die Technologie der Dampfmaschine einen gewaltigen Schub erlangte und somit Wegbereiterin für die industrielle Revolution wurde, die seit dem unentwegt anhält und die ganze Welt erfasst hat.3 Damit fällt der von Crutzen festgesetzte Beginn des Anthropozäns bezeichnenderweise mit Immanuel Kants Beantwortung der Frage:Was ist Aufklärung? zusammen, die in eben diesem Jahr erschien.

Diese zeitliche Koinzidenz mag konstruiert erscheinen, doch sollte sie nicht über eine wichtige inhaltliche Nähe hin-

Dritte Natur
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wegtäuschen:Wennder Begriffdes Anthropozäns ein sinnvoller Begriff ist, dann ist er nicht allein auf naturwissenschaftliche und technologische Phänomene beschränkt, sondern bringt das Verhältnis von Natur und Kultur, von Mensch und Technik, von Sein und Sollen, in Bewegung.4 Damit abererhält er auch eine genuin philosophische Bedeutung. Die transformative Bedeutung des Anthropozäns zeigt sich also nicht nur durch das Entstehen anthropogener klimaethischer Probleme, wie sie uns immer mehr betreffen. Sie zeigt sich auch an den transformativen Implikationendes Begriffs selbst. Der Titel «The Human Epoch», der einen Band des Magazins «Nature»imJahr 2015 zierte, trug dennauch den bezeichnenden Untertitel «Defining the Anthropocene». Darin wurde auf die Vagheit des Begriffs und die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Definition hingewiesen,5 auch wenn sich diese Definitionsfrage vor allem als eine Frage nach der angemessenen Datierung erweist.6 Wenn der Begriffdes Anthropozäns bereits aus naturwissenschaftlicher Perspektive einer eindeutigen Definition bedarf, dann umso mehr aus einer philosophischen – weniger im Sinne einer Datierung seines Epochenbeginns als im Sinne einer Verhältnisbestimmung der Begriffe von Natur und Kultur.

Eine eindeutige Bestimmung desBegriffsdes Anthropozäns istbereits insofern problematisch, alserdurch unddurch interdisziplinärist.7 Doch istdiese Interdisziplinarität nichtnur so zu verstehen, dass verschiedene Disziplinen an ihmbeteiligt sind oder in ihneingehen. Vielmehr bestehtdie Bedeutungdes Begriffs darin, dass sich darindiese DisziplinenaufsEngstebegrifflich durchdringen undinBewegunggeraten.Diese begriffliche Bewegung nachzuvollziehen undethisch zu reflektieren,darfals eine derwichtigsten Aufgaben dergegenwärtigen Philosophie gelten.Freilichist dieInterdisziplinaritätdes Anthropozän-Begriffs auch problematisch, denn er lässtaufgrundseinervielfältigenAnschlussmöglichkeitengeradeentgegengesetzteanthropo-

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logische Deutungenzu: «Der Kollapsder Mensch-Natur-Differenz kannsoeinerseitsals Ermächtigung oder andererseits als weitere Dezentrierung desMenschenverstandenwerden. Am Begriffdes Anthropozänund desAnthropos in ihmvollzieht sich so […]ein Deutungskampfumdie diskursive Wiederkehr des Menschen.»8 Währendinder geisteswissenschaftlichenForschung zumeistauf dieanthropologischen Implikationendes Anthropozäns reflektiertwird,9 soll im Folgendender Fokusauf denihm zugrunde liegendenund problematischgewordenen Naturbegriff ruhen.10 Es wird sich dabeizeigen, dass derNaturbegriffimAnthropozän einreflexiverBegriff ist, insofern sich unserNaturverhältnis als einvielfach vermitteltes Selbstverhältnisherausstellt.Diese Reflexivität istnicht nurschwach analogischzuverstehen,sondern muss ontologischgefasst werden: Wirbegegnenuns tatsächlichinder Naturdes Anthropozäns wieder,weilwir in ihrzutiefstverstrickt sind.

Aufdie begriffliche Dynamikdes Anthropozäns wurdebereitsaus geologischer Perspektivehingewiesen.Sohat Reinhold Leinfelder dafürargumentiert, dasAnthropozän alsÜbergang

«von derUmweltzur Unswelt»11 zu verstehen. Im Gegensatzzur Position desAnthropozentrismus, dieden Menschen insZentrum derBetrachtung stellt,argumentiert Leinfelder dafür,«dass wirvom Dualismus(gute)Natur versus (böser) Mensch (samt seiner Technikund Kultur)wegkommen undstatt dessen den Menschen undseine Aktivitätenals Teil derNatur verstehenlernenmüssen»12.«Naturazentrismus stattAnthropozentrismus» –mitdieserFormelkönnteman dieseAnsichtauf denBegriff bringen. So zutreffend dieBeschreibungder Bewegung derBegriffe im Anthropozänauchist,sowenig analytischist dabeider Begriffder Natur. Verstehenwir unterNaturimGegensatzzur Kultur – dermenschengemachten, ‹zweitenNatur›– allgemein dasjenigeunserer Umwelt,was nichtmenschengemachtoder menschengeformtist13 – ursprünglicheLandschaftenund Kli-

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maverhältnisse, dieunberührteVegetation, dasnichtmenschliche Tierreich –,sostellenwir bald fest,dassdiese Naturmittlerweile aufnur wenige Residuen schrumpftund im Begriffe ist,ganzin Kultur aufzugehen.Vollziehenwir diebegrifflicheBewegungim Anthropozänanhandder traditionellenUnterscheidung vonerster, vorgefundenerNatur undzweiter,hergestellter Naturbzw. Kultur weiter nach,soerkennenwir,dassein Hybrid entsteht, welchesweder aufdie erste noch aufdie zweite Naturreduziert werden kann.14 Dieses Hybrid soll im Folgendenmit demBegriff der«drittenNatur»gefasst undauf seineethischenImplikationenhin befragtwerden. Demnachsinddie Phänomenedes Anthropozäns wederunabhängigvon dermenschlichenKulturzu verstehennochgehen sievollständig undunmittelbardarin auf. DerMenschüberformt im Anthropozändie ersteNatur nicht derart,dassersie vollständigdurchdringt, transhumanistischersetztoderbeherrscht. Es geht im Anthropozänvielmehrum ökologischeStrukturenund Verhältnisse,die durchden Menschenüberformtwerden, unddie mittelbarwieder aufihn zurückwirken.Diese reflexiveÜberformung istfreilichnicht ohne weiteres zu erkennen.Sie erfolgtnicht so sehr material alsvielmehr strukturellund transformativ, indemerstnatürlichePhänomene,Zuständeund Prozesse modifiziert, Dynamikenumgelenktoderradikalisiert werden.Die anthropozänische Transformation nimmtzunehmend globaleAusmaße an,dadie menschlichen Handlungen technologischimmer weiterreichende Folgen haben, diewir nichtmehrüberblicken.

DiedritteNatur desAnthropozänsweist durchtechnologische Mensch-Natur-Interaktion eine komplexe Doppelstruktur auf, in welcherdie ersteNatur selbstzum Medium desMenschen wird.Nicht mehr sind es also nurbestimmte Technologien – sei es dieDampfmaschine,die Elektrizität,die Atomkraftoderdie Digitalisierung –,die als Medien fungieren, sonderndie Natur selbst wird zu einemMedium, in welches sich dieseTechnologie-

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Medien,und damitvielfachvermitteltdie Menschheit,einschreiben. DiedritteNatur istdeswegenein Meta-Medium,auchwenn siefaktischnocherstnaturaleResiduen enthaltenmag,deren medialeDurchdringung jedoch im Folgendenphilosophisch konsequentzuEndegedacht werden soll.15 Dieses Zu-Ende-Denken deranthropozänischen Perspektivesollunabhängigvon derFrage unternommenwerden, inwieferndiese Epoche nunwirklich schonexistiert,erstnochbeginnenwird, oder vielleicht niemals in globalen Dimensionenanzutreffen sein wird.

Betrachten wirdie dritte Naturunter denBedingungen des Anthropozäns auseiner epistemischenPerspektive, so stellenwir fest,dasssie nichtohneweiteresals solche erkanntwerdenkann, oder genauer: erkanntwerden will,sondern allzuoft fälschlicherweisefür die erste Naturgehaltenwird. AusdiesemGrund bestehtdie ethische Problematikdes Anthropozäns nichtetwanur in einermenschlichenSelbstüberschätzung,die sich in Form einesTranshumanismus manifestiert,gemäß demdie ersteNatur durchdie zweite Naturvollständig ersetztwerdensoll,16 sondern – subtiler – in fatalenFormenmenschlicherSelbsttäuschung undmisslungenerSelbsterkenntnis – da,wogeradeanthropogene Katastrophen füruns selbst zurBedrohung werden.Die vermeintlicherste Naturals dritte Naturzuerkennen, da,wowir unsnichtinihr erkennen wollen, darf damitals genuineForm von Aufklärung im Zeitalterdes Anthropozäns gelten.Umdie Beschreibung,Bewertung undAufklärungdieserdritten Natur soll es im Folgendengehen.NichtJames Watt,sondernsein ZeitgenosseImmanuelKantwirddabei im Zentrumstehen. KantsPhilosophiewirdsichzugleichals einAnknüpfungs-und Abstoßungspunkterweisen, undder Begriffdes Anthropozäns undderjenige derdritten Natursollendabei konsequent einer Ethikdes menschlichen Natur- undSelbstverhältnisses zugrunde gelegt werden.Esgiltinsofern, dienormativenVerpflichtungen, Implikationenund Bewegungen zu explorieren, diesichaus dem

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Naturbegriff desAnthropozänsergeben.Aufgrundder Multiperspektivitätdes Begriffs unddes Phänomensmussdazugleichermaßeneinephänomenologische, eine hermeneutische undeine begriffsanalytischeMethode zugrunde gelegt werden,umdiejenigennormativenVerhältnissezuexplizieren,die durchdie dritte Natureröffnetwerden. Es gilt daher, im Folgendenden ethischenÜbergang vonder ersten zurdritten Naturkonsequentzu denken,und dabeidas menschlicheNaturverhältnis neu zu bestimmen, insofern es sich alswesentlich reflexiv erweist. DerNaturbegriff desAnthropozänserweist sich damitals dialektisch, insofern er nichtals unserGegenbegriff, sondernals Verstrickungsbegriffsichtbarwird.17

Zunächst jedoch muss der Begriff des Anthropozäns selbst problematisiert werden. WelcheGründesprechen dafür, ein geochronologisches Zeitalter nachdem Menschen zu benennen? Gab es nicht zu allen Zeiten an verschiedenen Orten der Welt schon anthropogene Eingriffe in die Natur, die diese tiefgreifend verändert und ‹kultiviert› haben?Crutzen argumentiert dafür, dass die menschlichen Veränderungen der ersten Natur nicht nur äußerlich zu verstehensind,sondernstrukturell. Er nennt folgendeFaktoren18 :Die beschleunigte Zunahmeder Weltbevölkerung und der vonMenschen gezüchteten Nutztiere,die (Aus)Nutzung bis zur Hälfte derErdoberfläche, die enorme Steigerung des Energieverbrauchs, der signifikante Ausstoßvon Treibhausgasen,die damit verbundeneZunahmeder globalen Temperatur, womit freilichauchder Anstiegdes Meeresspiegels einher geht. Er schließt seine Beobachtungen mitfolgendem Zitat:

Solange es nicht zu einer globalen Katastrophe kommt – einem Meteoriteneinschlag, einem neuen Weltkrieg oder einer verheerenden Pandemie etwa –,wird die Menschheit auf Jahrtausende hinaus einen maßgeblichen ökologischen Faktor darstellen. Wis-

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senschaftler und Ingenieure stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: Sie müssen der Gesellschaft den Weg in Richtung eines ökologisch nachhaltigen Managements des Planeten im Zeitalter des Anthropozäns weisen. Dies erfordert angemessenes menschliches Verhalten auf allen Ebenen und möglicherweise auch groß angelegte Geoengineering-Projekte, zum Beispiel zur «Optimierung» des Klimas. Zum jetzigen Zeitpunkt wandeln wir jedoch noch weitgehend auf einer terra incognita.19

Diese terra incognita,von der Crutzen spricht, und vonder er fordert,dasssie weiter erkundet werden muss, istdie dritte Natur.Für Crutzens Anthropozän-These sprichtdie Tatsache, dass die Entwicklungder Dampfmaschine und die darauffolgende Industrialisierung globale Konsequenzen hatten,die sichim Laufe der Zeit – als Globalisierung – überdie ganze Welt verbreitet haben.Die daraufemergierenden Technologienwie Elektrifizierung und Digitalisierung gehen einher mitumweltethischen Problemen, die vorallem unserenRessourcenverbrauch betreffen und unsinletzterKonsequenz selbst gefährden. Auf die Bedeutung derDigitalisierung hat der OxforderInternetEthiker Luciano Floridi sehrtreffend hingewiesen:

Bislang scheint das ‹Anthropozän› eine ziemliche Erfolgsgeschichte zu sein. Allerdings wurde dieser Erfolg unter zunehmend hohen Kosten für die Umwelt erreicht, von denen manche in letzter Zeit untragbar geworden sind. Die Entwicklung der Infosphäre setzt jetzt das Wohlergehen der Biosphäre aufs Spiel.20

Floridi unterstreicht damit die intime Verwobenheit von erster und zweiter Natur im Anthropozän – eine Verwobenheit, die sich genauer als menschliche Natur- und Selbstverstrickung aufklären und kritisieren lässt.

Fakten und Faktoren dieser Art ließen sich noch beliebig weiter aufzählen. Doch soll es im Folgenden nicht so sehr um

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eine deskriptive Beschreibung des Anthropozäns gehen, auch nicht so sehr um die Frage, ob er sinnvoll ist – das wird im Folgenden vorausgesetzt –,sondern darum, welche philosophischen, genauer:ethischen Konsequenzen sich daraus begrifflich ergeben. Nicht nur die Naturwissenschaft und Technik stehen angesichts des Anthropozäns vor einer gewaltigen Aufgabe, sondern auch die Philosophie. Denn ohne vorhergehende und begleitende begriffliche Klärungendes Anthropozäns im Umkreis von Natur, Kultur, Technik und Anthropologie, aber auch Ethik und Ästhetik, kann die Lösung des von Crutzen aufgezeigten Problems nicht gelingen.21

Ein erster Schritt, das Anthropozän philosophisch zu behandeln, besteht darin,seinen Begriffzukritisieren. Handelt es sich beim Anthropozän vielleicht nur um einemaßlose Übertreibung und Apostasierung des Menschen?Jürgen Manemann hat eine«Kritik des Anthropozäns»formuliert, die im Kern darauf abzielt, die versteckte normative Dimension des Anthropozän-Begriffs herauszustellen.22 Die Idee des Anthropozäns habe den Naturwissenschaften zum Status einer «Erlösungsreligion»23 verholfen, da an sie trans- und posthumanistische Hoffnungen24 geknüpft würden. Zugleich macht Manemann auf eine «Dialektik»des Begriffs des Anthropozäns aufmerksam, welche darin bestehe, dass in ihr der Begriffder Kultur aufgehoben wird:

Die Idee des Anthropozäns steht für eine entzauberte Welt. Alles, was anders ist, soll nivelliert und schlussendlich in Kultur aufgehoben werden. Am Ende bleibt dann nur noch Kultur übrig. Diese Vision verkennt, dass Kultur sich dadurch aber selbst abschafft. Kultur gibt es bekanntlich nicht ohne das ihr andere: Natur. Beide stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis. Zum einen gefährdet Natur den Menschen. Kultur ist nicht zuletzt aus dieser Gefährdung erwachsen. Die Aufgabe von Kultur besteht

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deshalb darin, für Menschen befristete Bleiben zu schaffen, die Welt bewohnbar zu machen. Zum anderen inspiriert Natur Kultur immer wieder aufs Neue.25

Zu Recht weist Manemann darauf hin, dass die transformative Bedeutung menschlicher Handlungen im Anthropozän nicht überschätzt werden sollte:

Kein ernstzunehmender Wissenschaftler wird die Kausalität zwischen dem menschlichen Handeln und den radikalen Veränderungen der globalen Umwelt in Abrede stellen. Aber mit der Einsicht in diesen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist nicht die Erkenntnis verbunden, dass die Ursache, sprich:der Mensch, weil er mit seinem Handeln das Ganze transformiert, auch die Macht besitzt, sich zum Herrn über das Ganze aufzuschwingen. Anders gesagt:Auf die Schöpfung verändernd einzuwirken bedeutet nicht, auch zum Schöpfer derselben zu avancieren.26

Diese Kritikpunkte sind berechtigt,jedoch betreffen sie nicht den Begriff desAnthropozänsals solchen,sondernnur einebesondere, normativaufgeladeneradikaltechno-optimistische Form, welche die erste aufdie zweiteNaturreduziert.27 Es gilt daher, einen kritischen Begriff des Anthropozäns zu entwickeln, der eine reflexive Dimensionhinsichtlichder in ihm enthaltenenNormativität beinhaltet und jenseitserst- und zweitnaturaler Reduktionismengelagert ist. Der Begriff des Anthropozäns ist demnach nichtunkritischzuübernehmen,sondernauf seine impliziten normativenImplikationenhin zu befragen. Es soll deswegenimFolgenden ein kritischer Mittelweg eingeschlagen werden zwischenUtopie und Dystopie,zwischen einemnormativ aufgeladenen, Techno-Optimismusund einem Klima-Pessimismus,der nichtselten in einenKlima-Radikalismus und Klima-Moralismus mündet. Es gehtdiesem kritischenBegriffdes AnthropozänswederumPerfektionismus undTranshumanis-

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mus im Sinne einer menschlichen Selbst-Apotheose nochum naive Forderungen eines«Zurück-zur-Natur»28,sondern,mit Schiller gesprochen,umdie ‹sentimentalische› Erkenntnis und Wahrnehmungder Bedingungen und Verhältnisse desAnthropozäns, die immer einmenschlichesSelbstverhältnisimplizieren.Diese Selbstverhältnisse liegen freilichnichtklar zu Tage, sondern sind verborgen,verwickelt undverzerrt, und bedürfen daher einer Aufklärung.

In diesem Sinne versteht sich die Ethik des Anthropozäns als eine Selbstaufklärung des Menschen unter den Bedingungen des Anthropozäns. Die dritte Natur ist im Anthropozän also nicht so zu verstehen, dass sie einedurch und durch kulturelle oder technologische Natur ist, die neben oder über der ersten Natur existiert oder diese sogar ‹abschafft›.Vielmehr ist in der dritten Natur die erste Natur als ein Medium immer präsent,in welches sich der Mensch auf verschiedene, bewusste und unbewusste, Weisen einschreibt. Im Anthropozän wird das «Buch der Natur»derart encodiert, dass sich der Mensch darin selbst entschlüsseln muss, obwohlerdie Tendenz hat, sich darin selbst falsch zu verstehen. Er überblicktepistemisch seine Eintragungen nicht mehr und muss sie erst wieder im Medium der dritten Natur dechiffrieren. Naturhermeneutik erweist sich damit als Selbsthermeneutik,Hermeneutik der dritten Natur als latente Selbsterkenntnis und Selbstaufklärung, die Aufforderung zur natürlichenSelbstaufklärung zum moralischen Gebot einer neuen Ethik. Der Mensch wird im Anthropozän die erste Natur nicht los, und ebenso wenig seine eigene Natur, gerade da, wo er es glaubt. Vielmehr begegnen dem Menschen im Anthropozän erste Natur und eigene Natur aufs Neue, jedoch vermittelt und auf eine Art und Weise, die ihm ‹nicht ins Bild passt›.Es gilt insofern, im Rahmen einer Morphologie und Archäologie diejenigenStrukturen des Menschen in der dritten Natur herauszuarbeiten, die ihm selbst verborgen sind.

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Das Naturverhältnis im Selbstverhältnis zeigt sich in nuce bereits am Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen leiblichen Natur, die er medial transformiert,ohne sie je vollständig technologisch ersetzen zu können.Der Leib, verstanden als erstes natürliches Medium des Menschen besitzt jene Zwischenstellung zwischen erster und zweiter Natur, wie wir sie in der dritten Natur des Anthropozäns vorfinden, nur ist er uns unmittelbar gegeben, während uns die dritte Natur vielfach vermittelt ist. Es gilt daher, durch unser Leibverhältnis phänomenologisch und ethisch ein Verhältnis zur dritten Natur zu etablieren, welches sich als paradigmatisch erweist und damit auch normativ ausgezeichnet werden kann.29 Insofern ist das leibliche Selbstverhältnis und Selbstverständnis des Menschen der Schlüsselzum komplexeren anthropozänischen Naturverhältnis. Denn in jedemindividuellen Menschen ist bereits eine dritte Natur enthalten,die im Anthropozän nur global und allgemein ausgedehnt und vermittelt ist. Dies zeigt, dass die Problematik des Anthropozäns im Grunde nicht nur die neuere technologische Entwicklung betrifft, sondern eineanthropologische Grunddimension von Medialität darstellt, die angesichts der neueren Diskussion um die Klima-Ethik erst voll zur Bedeutung kommt und uns existenziellangeht.

Die geisteswissenschaftliche Bedeutung des Anthropozäns ist indes nicht unbeachtet geblieben. Bruno Latour versteht das Anthropozän als Anthropogeologiebzw. Geoanthropologie. Sehr zutreffend bestimmt er den Begriff des Anthropozäns als «Oxymoronaus Geologie und Menschheit»30.Nach Latour eignet sich der Begriff des Anthropozäns, um «zum relevantesten philosophischen, religiösen, anthropologischen und, wie noch zu sehen sein wird, politischen Konzept bei der Abkehr von Begriffen wie ‹MODERNE› und ‹Modernität› zu werden»31.Er bemerkt scharfsinnig, dass dieser Begriffdes Anthropozäns in vielerlei Hinsicht ein kritischerBegriff ist. Zum einen ist seine

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Herkunft nicht geisteswissenschaftlich, sondern naturwissenschaftlich-empirisch oder gar ‹naturalistisch›.Als ein solcher hybrider Begriff übertrifft er selbst die anthropozentrischsten Thesen der Geisteswissenschaften:«Kein postmoderner Philosoph, Anthropologe, liberaler Theologeoder politischer Denker hätte es gewagt, den Einfluß des Menschen auf dieselbe Stufenleiter zu stellen wie den der Flüsse, Vulkane, der Erosion oder der Biochemie.»32 Der Begriff des Anthropozäns lässt sich also auf ganz verschiedene Nicht-Naturwissenschaften bzw. Geistesund Sozialwissenschaften übertragen. Latour wirft dennauch folgende rhetorische Frage auf:«Welcher Literaturwissenschaftler hätte die Grundsätze der Dekonstruktion von Texten auch auf die Ablagerungen ausgedehnt, die in allen Deltas des Planeten die unwiderlegbaren Spuren der durch den Menschen verursachten Erosion tragen?»33 Der Begriff des Anthropozäns durchkreuztpostmoderne Thesen vom «Ende des Menschen», indem er dessen Omnipräsenz in der Natur, dem vermeintlichen Gegenstück zur Kultur, aufzeigt. Der Begriff des Anthropozäns setzt insofern nach Latour «den radikalsten Schlußpunkt hinterden Anthropozentrismus»:

Im selben Augenblick, da es Mode wurde, vom «Posthumanen» zu sprechen und im blasierten Ton der Neunmalklugen die Zeit des Menschen für «abgelaufen»zuerklären, meldet sich der «Anthropos»zurück – um sich zu rächen –,und dies dank der spröden empirischen Arbeit jener, deren «Unbildung»die Intellektuellen gern zur Zielscheibe ihrer Verachtung machen, indem sie sie als bloße «Naturalisten»titulieren. Was die verschiedenen Felder der Geistes- und Sozialwissenschaften bei aller theoretischen Versiertheit nicht zu entdecken vermochten, weil sie wie besessen waren von der Verteidigung der «menschlichen Dimension»gegen die «Übergriffe»der Naturwissenschaft und die Risiken einer exzessiven «Naturalisierung» – die Historiker der Natur haben es zutage gefördert.34

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Allerdings wendet sich Latour gegen die Auffassung, dass das Anthropozän eine «maßlose Erweiterung des Anthropozentrismus»sei, «soals könnten wir uns brüsten, uns wirklich in einen fliegenden Superman in rotblauem Dreß verwandelt zu haben»35.Das Anthropozän ist deswegen kein radikaler Anthropozentrismus, weil es ein in sich differenziertes, verstricktes und divergierendes Phänomen ist, welches keine einheitliche Form besitzt. Der Anthropozentrismus des Anthropozäns ist deshalb eigentlich ein Anthropodezentrismus. Latour vergleicht diesen Zustandmit dem biblischen Zustand nach dem Einsturz des Turms zu Babel, nachdem alle Menschen zur Strafe in verschiedene Völker und Sprachen auf der Erde verstreutwurden. Ebenso ist der Mensch im Anthropozän nicht auf der Erde, sondern in der Erde zerstreut.

Freilich existieren noch andere Begriffe aufdem Marktder Naturethik.James Lovelock etwa hatden Begriffder «Gaia» geprägt. In dergriechischenMythologie handeltessichbei Gaia um die personifizierte Erde.Eines vonLovelocks Büchernträgt denn auch denUntertitel«DieBiographieunseres Planeten»36 .

LovelocknähertsichseinerGaia-Theorieodergenauer Gaia-Hypotheseüberden Begriffdes Lebens an.Mit «Leben»bezeichnen wirnicht nurEinzeldinge, sondernauchgrößere Komplexe und zusammenhängende Systeme, diedie Ökologie undUmweltbetreffen. Wieaberverhält es sich mitdem «System allerSysteme», also demPlanetenErde. Lovelock bestimmt Gaia als Vorstellung von«einemtatsächlichen lebenden Planeten […], aufdem sich allesLeben,die Luft,die Meereund dieFelsenzueinem gemeinsamenGanzenzusammenfügen»und im Sinnevon einem«eng verknüpftenSystemvon Lebenund seiner Umgebung».37 Gaia

istdeswegeneinekonsequentholistische Bestimmung desLebens als«dieumfassendsteErscheinungsformvon Lebenüberhaupt».LovelockverstehtGaiajedochnicht alsBiosphäre oder alsSumme allerLebewesen,sondernals «Kontinuitätsbogen»,

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also als Prozess,«dersichvon denLebensanfängen in derVergangenheit biszum Ende vonLeben in irgendeinerZukunft spannt», denn «Gaiaist kein statisches Bild». Gaia istein holistischerBegriff,ein «gesamtplanetarisches Wesen»,dessenEigenschaften «sichnichtnotwendigerweiseaus demWissen über einzelne ArtenoderPopulationenvon zusammenlebenden Organismen erschließen».Gaiabedeutet aber auch einenkonstanten Zustand, in dem«dieTemperatur, derOxidationszustand,der Säuregehaltund bestimmteAspekte vonGesteinen undGewässern zu jederZeitkonstantbleiben» undsoeine«Homöostase» bilden,die sich «durch massive Rückkoppelungsprozesse erhält». In Gaia sind also verschiedene Prozesse aufs Engste miteinander verbundenund aufeinanderabgestimmt. Gaia bezeichnet also einenhochgradigholistischenZustand: «Leben undseine Umgebung sind so engmiteinander verflochten, dass eine Evolution immerGaiabetrifft, nichtdie Organismen oder derenUmgebung fürsichgenommen.»Die Gaia-Theorie betrachtet demnach «die Erde unddas Lebenauf ihrals einSystem»,indem jedesTeileinebesondereRolle fürdas Ganzespielt.Gaiaist durchSelbstregulierung charakterisiert,die eine Anpassungan veränderndeUmständezulässt.ZuGaiazählen nichtnur verschiedeneArten vonLebewesen,sondern auch «[d]as Vorhandensein vonzwingendenVoraussetzungen oder Beschränkungen,die dieGrenzen vonLeben bestimmen».InGaia verschmelzen insofern «Lebewesen,Steine,Luftund Meerezueinemneuen Gebilde».

Problematisch ist an Lovelocks Hypothese die Personifizierungder ErdeimSinne einesteleologischen Lebewesens, das hinter den verschiedenen konkreten und individuellen Lebensprozessen durch Aufrechterhaltung des Gleichgewichtszustands steht. Denn dieswürdebedeuten,dassGaiaeineArt vonIntentionalitätbesitzt,alsomentale Eigenschaften aufweist. Dagegen kannder kritischeEinwand vorgebrachtwerden, dass es sich bei

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Gaianur um einen kontingenten,absolut gesehen kurzzeitigen Gleichgewichtszustand handelt, der jederzeit wieder kollabieren kann. Lovelocks Gaia-Begriff liegtein umfassender Begriffder ersten Naturzugrunde, der die komplexe Verwobenheitund Verstrickung der dritten Natur nichtberücksichtigt. Die naturethische Konsequenz ausdem Gaia-Begriff jedenfallswäre, dass wir diesen glücklichenGleichgewichtszustand nicht nochzusätzlich stören sollten,dawir ihm unsere Existenz als Lebewesen verdanken.

Gegenüberdem Gaia-Begriff erweistsich der Begriff des Anthropozäns als ein Begriff, der die Natur weder vitalistisch personalisiert, sie aber auch nicht instrumentalistisch objektiviert. Der Begriff des Anthropozäns ist insofern philosophisch adäquat, als er die tiefe Verstrickungvon Mensch und Natur ernst nimmt. Der Begriff der dritten Natur ist ein reflexiver Begriff. Er ist zugleich ein interdisziplinärer Begriff, der scheinbar heterogene Bereiche umspannt und aufeinander beziehen lässt.

Mehr noch:Der Begriff des Anthropozäns bringt traditionelle Begriffe und Begriffsverhältnissewie die von Natur und Kultur, von Sein und Sollen in Bewegung. Ziel dieses Buches ist es, diese Bewegungen nachzuvollziehen und am Leitfaden der dritten Natur eine Ethik des Anthropozäns zu entwerfen.

Wenn der Mensch selbst nicht nur Menschheits-, sondern auch Erdgeschichte schreibt, dann ergebensich daraus neue ethische Herausforderungen und Fragestellungen:Inwiefern handelt es sich im Naturverhältnis im Grunde um ein Selbstverhältnis des Menschen?Welche neuartigen moralphilosophischen Probleme gehen mit dem Anthropozän einher?Wie können wir eine Naturethik entwickeln und begründen, die den Herausforderungen des Anthropozäns angemessen ist?Wie können wir eine Ethik des Anthropozäns begründen, ohne dem Fehlschlussvon bloß deskriptivemSein (Natur)auf normatives Sollen (Moral)zuerliegen?Inwiefern können wir die Natur als

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