Lebensfragen

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PHILOSOPHIE TOD ZEIT SEELE NEUANFANG LEBEN VERGANGENHEIT GEGENWART SCHICKSAL ZUFALL TIER
LEBENSFRAGEN Philosophische Gespräche WER BIN ICH? TYRANNENMORD ENDE ALTER

Lebensfragen

Philosophische Gespräche Schwabe Verlag

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-4743-0

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4744-7 DOI 10.24894/978-3-7965-4744-7

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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Für meine Ehefrau Beatrice und meine beiden Söhne Emanuel und Michael, die mich durch mein Leben begleiten

Allwärts klagt der Mensch Natur und Schicksal an, und sein Schicksal ist doch in der Regel nur Nachklang seines Charakters, seiner Leidenschaften, Fehler und Schwächen. Demokrit (griechischer Philosoph, 460–371 v. Chr.)

Inhalt

Über dieses Buch .. ... .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 11

Über die Philosophie und ihren Nutzen .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. 15

Über das Phänomen der Zeit .. .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... .... ... .... 21

Wer bin ich?Das Ich, des Menschen grösstes Rätsel .. .. .. ... ... .. .. .. .. 43

Über das richtige Lebenimschwierigen .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. 79

Alles Schicksal oder doch nur Zufall?. ... ... .... ... .... ... .... ... .... 115

Über die Tierseele und über unser moralisches Verhalten gegenüberTieren 129

Über den Tyrannenmord. Darf ein despotischerHerrscher getötet werden? 149

Über das Alter .. .. .. .. .. .. .. ... ... ... .. .. .... ... .... ... .. .. ... .. .. 169

Der Tod, Ende oder Neuanfang?. 197

Anmerkungen .. .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... ... .... .. .. ... 219

Über dieses Buch

Es war im November2010. Draussen herrschten Temperaturen von minus 5 8C, es schneite leicht. Ich sass vor dem lodernden, mich angenehm wärmenden Cheminée-Feuer, bereits beim dritten Glas spanischen Rotweins. Es war wieder einmal einer dieser kostbaren Momente des Innehaltens und der Selbstreflexion. Neben mir stapelten sich Dutzende von Philosophiebüchern grosser Denker,welche einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren abdeckten. Platons über 700-seitiger Wälzer «Politea»und sein Werk «Phaidon», Senecas Schrift «Vom glückseligen Leben»und seine «Epistulae Morales», Ciceros Altersschrift «DeSenectute», Marc Aurels «Selbstbetrachtungen», Michel de Montaigne 370-seitige «Essais» und Hannah ArendtsWerk «Eichmann in Jerusalem;ein Bericht von der Banalität des Bösen»waren nur einige davon. Genügend philosophische Schriften also, die unsere Fragen über das menschliche Dasein und über die Zusammenhänge des Lebens möglicherweise hätten beantworten können. Dies meinte ich jedenfalls. Ich irrte mich aber gewaltig, denn es waren schwierige, tiefsinnige Fragen, die entweder verschiedene Antworten zuliessen oder schlichtwegnicht zu beantworten waren. Der Versuch, solcheFragen aufzuwerfen, liess mich nicht mehr los:Jemehr ich mich damit auseinandersetzte, desto mehr Fragen tauchten auf und desto klarer wurde mir, dass ich nie definitive Antwortenauf diese Fragen würde finden können.

An diesem Novemberabend wurde mir bewusst, dass es schlussendlich keine Rolle spielt, ob man auf seine bohrenden Fragen abschliessende Antworten erhält. Sie mögen sich fragen, weshalb?Möglicherweise denken Sie, dass es doch frustrierend sein muss, jahrzehntelang nach überzeugenden Antwortenauf die grossen, übergreifenden Fragen des Lebens zu suchen, um dann ernüchtert festzustellen, dass diese doch nicht beantwortet werden können, und zwar von niemandem, mag er oder sie auch noch so viel Lebenserfahrung haben und noch so belesen sein. Nein, kann ich Ihnen antworten, es ist nicht frustrierend, im Gegenteil:Die jahrzehntelange Suchenach Antwortenmittels Studium der Schriften grosser Denker führte mich an diesem verschneitenWinterabend zur Erkenntnis, dass nicht die Antworten, sondern die intellektuell herausforderndeund die Seele formende Auseinandersetzungmit den bedeutenden philosophischen Lebensfragen und die bessere Selbsterkenntnis das Ziel sein müssen.Wie recht der grossartige Cicerodoch hatte, als er erkannte, dass die Philosophie die Medizin des Geistes sei und sie unsere Seele pflege und heile.1

Der Protagonist dieses Buches, Pierre Cascoigne, lädt den Leser ein, mit ihm zusammenphilosophische Gedankenreisen durch die Zeit zu unternehmen. Auf seinen Reisen in die verschiedensten Epochenführt Cascoigne – unter Zugrun-

delegung seiner eigenenphilosophischenAnschauungen – mit bedeutenden Philosophen und Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, aber auch mit fiktiven Personen der Gegenwart und der Zukunft spannende Debatten über ausgewählte philosophischeFragen. Pierre Cascoigne ist einefiktive Person. Sein Aussehen?Er würde sich als mittelgrossen, zu Übergewicht neigenden Genussmenschen in den Fünfzigern beschreiben. Seine schulterlangen schwarzen Haare und sein Spitzbart erinnern an eine Figur in einem französischen Historienfilm. Cascoigne lebt mit seiner Ehefrau und seinenzwei Kindern in Genf. Sein Beruf als «avocat» und seine grosse Lebenserfahrung haben ihn mit der gesamtenBandbreite des Daseins und mit all seinen Schicksalen konfrontiert.

Ich habe im Buch bewusst die vom griechischenPhilosophenPlaton perfektionierte literarische Gattung des Dialogs gewählt. Die Dialogform soll dazu verhelfen, die diskutierten philosophischenThemen lebendig zu gestalten, den Leser an den philosophischen Debatten unmittelbar teilhaben zu lassen und ihn manchmal mit provokativen Thesen herauszufordern. Bewusst habe ich versucht, die Dialoge in eine – wie es der schottische Philosoph der AufklärungDavid Hume umschreiben würde – «leichte und einleuchtende Philosophie»zukleiden und schwerverständliche Ausführungen, wie dies nicht selten bei alten Philosophen der Fall ist,2 zu vermeiden. Hume führte hierzuaus:

Sicher ist, dass die leichte und einleuchtende Philosophie stets bei der Mehrzahl der Menschen den Vorzug vor der sorgfältig erwogenen und schwerverständlichen haben wird, und viele werden sie empfehlen, nicht nur als angenehmer, sondern auch als nützlicher als die andere. Sie dringt mehr in das tägliche Leben ein, bildet Herz und Gemüt, und indem sie jene Prinzipien berührt, welche die Menschen zum Handeln veranlassen, bessert sie deren Lebensführung und bringt sie in grössere Nähe des von ihr dargestellten Modellbildes der Vollkommenheit.3

Damit sich der Leser besser in die fiktiven Dialoge hineinversetzen kann, wird zu Beginn eines jeden Kapitels eine kurze Übersicht über die erörterten philosophischen Gedanken und eine Kurzbiographie des Gesprächspartners vorangestellt. Die Quellenangaben finden sich hinten bei den Anmerkungen.

Das Buch setzt sich zu Beginnmit der Frage auseinander, was Philosophie ist und worin ihr Nutzen für einen jedenpersönlich besteht. Sodann beschäftigt es sich mit dem Phänomen der Zeit. Danach erörtern die Dialogpartner die Frage nach dem «Ich», d. h. wer wir sind. Dazu gehört auch die Frage, ob jedes Individuum auch eine dunkle, böse Seite in sich trägt. Das Kapitel «Über das richtige Leben im schwierigen»widmet sich den Fragen, wer die Richtigkeit einer Handlung festsetzt, nach welchem Massstab sich diese beurteilt, was hierunter zu verstehen ist und ob es universelle Prinzipien richtigen Handelns gibt. Im anschliessenden Kapitel wird darüber diskutiert, ob es ein Schicksal gibt oder ob Ereignissebloss zufällig sind, ob der Mensch einen freien Willen hat und für sein

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Handeln verantwortlich ist und wie es mit der Moral des Menschen steht. In einem weiteren Kapitel geht Cascoigne mit seinem Dialogpartner der Frage nach, ob Tiere und Pflanzen eine Seele haben. Sodann führen deutsche Widerstandskämpfer ein Streitgespräch darüber, ob der sogenannte Tyrannenmord, d. h. die Tötung eines despotischen Herrschers oder Terroristen ohne rechtsstaatlichen Prozess, aus ethisch-moralischer Sicht gerechtfertigt ist. Zu guter Letzt findet sich eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Alter, dem Tod und den Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele und der Zulässigkeit des Selbstmords.

Ich möchte die Leserin und den Leser mit diesem Buch dazu anregen, sich mit zentralen philosophischen Fragen in Form von Gedankenreisen in die Vergangenheit und in die Zukunft auseinanderzusetzen und diese zu vertiefen. Dieses Buch soll den Anstoss geben, durch die Beschäftigungmit philosophischen Fragen den eigenenGeisteshorizont zu erweitern und bestimmte Lebenssituationen aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Vielleicht findet der Leser hierdurch die eine oder andere Antwort auf die oft komplexen Lebensfragen, die sich jedem stellen, und damit auch eine geistige Orientierung.

In diesem Sinne wünsche ich neue Erkenntnisgewinne auf Ihren philosophischen Gedankenreisen.

Über die Philosophie und ihren Nutzen

Wenn man sich mit philosophischenThemen auseinandersetzt, stellt sich bald die Frage, was einem die Philosophie nützt, wenn sie doch keine empirische Wissenschaft ist und sie all die zahlreichen Lebensfragen nie definitiv wird beantworten können. Hierbei ergibtsich wiederum die Frage, ob die Auseinandersetzung mit philosophischenFragen überhaupt nützlich sein muss.Was ist, wenn all die philosophischen Theorien einem persönlich keinen Nutzen bringen und es insofern gleichgültig ist, ob diese richtig oder falsch sind?Gemäss dem philosophischen Pragmatismus und einem ihrer Hauptvertreter, dem amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842–1910), wäre eine solche Theorie überflüssig, für ihn misst sich der Wert einer Theorie danach,obsie nützlich ist und uns hilft, mit den praktischen Anforderungen des Lebens zurechtzukommen.1

Warum also philosophieren?Ja, was ist eigentlich die Philosophie?Allein schon diese Fragen lassen viele Antworten zu. Dies sollteuns aber nicht davon abhalten, den Versuch zu wagen, zentrale Lebensfragen aufzuwerfen und für uns persönlich die passenden Antwortenzufinden, die gleich einem Kompass eine Orientierungshilfe im Lebensalltag geben können. Die Philosophie kann uns zu einer individuell passenden und damit richtigen Lebenseinstellung verhelfen und somit auch zu einem besseren Leben führen.

Wie immer man Philosophie auch definiert:Die Philosophie ist einesich im Fluss befindende und einem steten Wandelunterworfene, unvollkommeneWissenschaft. Der grosse deutsche Philosoph Karl Jaspers (1883–1969)hat hierzu festgehalten, dass es für einen wissenschaftsgläubigen Menschen das Schlimmste sei, dass die Philosophie gar keine allgemein gültigen Ergebnisse habe. Zutreffend wies er auf Folgendes hin:

Während die Wissenschaften auf ihren Gebieten zwingend gewisse und allgemein anerkannte Erkenntnisse gewonnen haben, hat die Philosophie dies trotz der Bemühungen der Jahrtausende nicht erreicht. Es ist nicht zu leugnen:Inder Philosophie gibt es keine Eigenmütigkeit des endgültig Erkannten.2

Die Philosophie ist aber nicht nur «ergebnislos», sondern je nach Menschentyp auch verschieden. Bereits Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), wichtiger Vertreter des deutschen Idealismus, stellte dies wie folgt fest:«Was für einePhilosophie man wähle,hängt davon ab, was für ein Mensch man ist».3 Es wäre eine irrige Annahme zu vermuten, dass es den typischen Philosophengibt. Der Prototyp des Philosophen existiert nicht. Der Philosoph hat kein bestimmtes Aussehen, keinen

die Philosophie und ihren Nutzen

bestimmten Charakter und keine bestimmte Lebensweise. Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass die wenigsten grossen Philosophen die Philosophie zum Beruf wählten. Der griechische Philosoph Aristoteles war als Erzieher des Sohnes des Königs von Makedonien tätig, dem späteren Alexander des Grossen. Der grosserömische StaatsmannMarcus Tullius Ciceroübte den Beruf eines Anwalts aus und war Konsul. Marcus Aurelius war römischerKaiser und Averroes, dessen vollständiger arabischerNameAbdul Walid Muhammad Ibn Ahmad Muhammad Ibn Rushd lautete, war u. a. Grossrichter von Córdoba und Arzt. Michel de Montaigne bekleidete das Amt des Bürgermeisters von Bordeaux, war Gerichtsrat und später Gutsherr. Der Naturwissenschaftler René Descartes verbrachte einen Teil seines Lebens als Mathematiker und, wer hätte das gedacht, auch als Soldat im Dreissigjährigen Krieg. Voltaire war bekanntlich Schriftsteller, und die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt, die als Reporterin mit ihrer Berichterstattung über den Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann und mit ihrer These der «Banalität des Bösen»grosses Aufsehen erregte, war u. a. Cheflektorin, Dozentin und Korrespondentin einer Zeitung.

Kann somit jedermann philosophieren?Braucht es zum Philosophieren eine bestimmte Herkunft und Erziehung, Bildung, eine volle Urteilsfähigkeitoder andere Voraussetzungen?Ich glaube nein:Die Frage nach dem «Wofür»(Sinnfrage)und dem «Warum»(Kausalitätsfrage) kann jederMensch stellen. In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage auf, ob es zum Philosophieren denn wenigstens ein bestimmtes Alter und eine bestimmte geistige Reife braucht. Können bereits Kinder philosophieren oder setzt das Philosophieren nicht vielmehr eine bestimmte Lebenserfahrung mit all den dazu gehörenden Höhen und Tiefen, Erfolgen und Niederschlägen voraus?Ich habe festgestellt, dass gerade Kinder nicht selten verblüffend tiefsinnige philosophische Fragen stellen, die ich als Vater nur schwer beantworten konnte. Karl Jaspers äussertesich zur Kinderphilosophie wie folgt:

Wer sammeln würde, könnte über eine reiche Kinderphilosophie berichten. Der Einwand, die Kinder hätten das vorher von Eltern oder anderen gehört, gilt offenbar gar nicht für die ernsthaften Gedanken. Der Einwand, dass diese Kinder doch nicht weiter philosophieren und dass also solche Äusserungen nur zufällig sein könnten, übersieht eine Tatsache:Kinder besitzen oft eine Genialität, die im Erwachsenwerden verloren geht. Es ist, als ob wir mit den Jahren in das Gefängnis von Konventionen und Meinungen, der Verdeckungen und Unbefragtheiten eintreten, wobei wir die Unbefangenheit des Kindes verlieren. Das Kind ist noch offen im Zustand des sich hervorbringenden Lebens, es fühlt und sieht und fragt, was ihm dann bald entschwindet.4

Philosophieren ist geographisch unabhängig, es braucht weder eine bestimmte Umgebungnoch einen besonderen«Arbeitsplatz», denn man kann überall seine philosophischen Gedanken schweifen lassen. Es brauchtfür die Auseinanderset-

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Über die Philosophie und ihren Nutzen

zung mit den zentralen Lebensfragen auch keine Arbeitsinstrumente oder sonstigen Hilfsmittel, sondern bloss die eigenenGedanken und die kritische Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt. Wenn somit jedes menschliche Individuum philosophieren kann und es zum Philosophieren weder einen bestimmten Ort noch irgendwelche Hilfsmittel braucht, könnte man zum Schluss gelangen, dass die Hinwendung zur Philosophie voraussetzungslos möglichist. Aber ist dies wirklich so?Nein, denn eines setzt die Philosophie stets voraus:Zeit und Musse. Nur wer innehält und sich genügend Zeit nimmt, wird schlussendlich in der Lage sein, sich vertieft mit den grossen philosophischenFragen auseinanderzusetzen

Was aber ist nun Philosophie?Namhafte Philosophenhaben versucht, eine Definition vorzunehmen. Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) bezeichnetdie Philosophie als «Wissenschaft vom Leben».5 Für LuciusAnnaeus Seneca (1–65 n. Chr.) hingegen ist Philosophie die Liebe zur und das Streben nach Weisheit sowie die Bemühung um die Tugend, dies jedoch mit Hilfe der Tugend.6 Nach Ansicht des grossen römischen Kaisers Marcus Aurelius (121–180 n. Chr.) besteht Philosophie u. a. darin, «[…]den Genius in seinemInneren vor übermütiger Schädigung zu bewahren, der Lust und dem Schmerz überlegen zu sein, nichts dem Zufall zu überlassen … und nie zur Lüge und Heuchelei zu greifen.»7 Für Augustinus (354–430 n. Chr.), den «Kirchenvater»aus dem fünften Jahrhundert, bedeutet Philosophie «Weisheitsstreben».8 Gemäss dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804)lässt sich die Philosophie auf folgende vier Fragen bringen:Was kann ich wissen?Was soll ich tun?Was darf ich hoffen?Was ist der Mensch?9 Nach Meinung von Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist jede Philosophie eine Philosophie des Lebensalters. Für ihn ist die Philosophie vergleichbar mit dem freiwilligen Leben im Eis- und Hochgebirge, mithin also das «Aufsuchen alles Fremden und FragwürdigenimDasein».10 Für Theodor W. Adorno (1903–1969)hingegenbeinhaltet die Philosophie den Widerstand gegen Konventionenund Klischees, die von der Gesellschaft geprägt sind. Für ihn kann ein Mensch, der niemals «den Degout verspürt hat an dem, was alle denken und was alle sagen, was unbefragt ihm vorgesetzt wird», nicht zur Philosophie kommen.11 Dies ist ein mehr als deutlicher Aufruf zum «mutigen»Denken. Nach Karl Popper (1902–1994)gibt es zumindestein philosophisches Problem,nämlich das Problem, die Welt zu verstehen, auch uns selbst, die wir ja zu dieser Welt gehören. Für ihn kann Philosophie nur das sein, was rational nachvollziehbar ist. So etwas wie ein Wesen der Philosophie gibt es für ihn nicht. Es gibt für ihn keine Methode, die für die Philosophie charakteristisch oder wesentlich ist. Seiner Ansicht nach ist es notwendig, unsere Philosophien kritisch zu untersuchen, denn dies sei die Aufgabe der Philosophie.12 Ist Philosophie schlussendlich nur das Suchen nach der Wahrheit, nicht aber der Besitz der Wahrheit, und bedeutet Philosophie bloss, auf dem Wege (zur Wahrheit)zusein, so wie es Karl Jaspers feststellte?13 Ist also der Weg das Ziel?

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Dass es auf all diese philosophischen Fragen keine definitiven Antworten gibt, spielt schlussendlich keine Rolle, denn es kommt vor allem auf die Wirkung der Philosophie an, denn ohne Wirkung ist Philosophie sinnlos. Kann aber die Philosophie überhaupt eine Wirkungentfalten und falls ja, worin besteht diese?

Eine meinesErachtens einleuchtende und durchaus plausible Antwort lieferte bereits Cicero, der grosserömische Staatsmannund Philosoph, welcher vor über zweitausend Jahren feststellte, dass die Philosophie die beste Medizin des Geistes sei. Seiner Ansicht nach besteht die Philosophie darin, die Seelen zu heilen, grundlosen Kummer zu nehmen, von Begierden zu befreien und Ängste zu vertreiben. Und er präzisiert:«Aber diese ihre Kraft vermag nicht dasselbe bei allen: sie hat nur dann eine grosse Wirkung, wenn sie auf einegeeignete Natur trifft».14 Die Philosophie ist also ein Heilmittel für die Seele, ein Mittel, um die Seele zu «pflegen», doch ist nicht jedermann empfänglich für sie. Im Unterschied zur herkömmlichenMedizin müssen wir uns selber bemühen, d. h., wir sollten selber aktiv werden, um uns mittels der Philosophie zu «heilen». Es versteht sich von selbst, dass dies eine grosse, anspruchsvolle und nicht einfach zu lösende Aufgabe ist.

Die Philosophie hat sodann auch eine andere, nicht zu unterschätzende Wirkung, nämlich jene, sich auf den Tod und auf ein Leben danach vorzubereiten. So besteht für den griechischen Philosophen Platon (427–348 v. Chr.) und den Franzosen Michel de Montaigne (1533–1592)das Philosophieren im Sterben-Lernen.Montaigne hielt hierzu fest:

Denke, dass jeder Tag der letzte sein kann, der dir leuchtet;die Stunden, mit denen Du nicht fest gerechnet hast, werden Dir dann besonders lieb sein. Wo der Tod auf uns wartet, ist unbestimmt;wir wollen überall auf ihn gefasst sein. Sich in Gedanken auf den Tod einrichten, heisst, sich auf die Freiheit einrichten;wer zu sterben gelernt hat, den drückt kein Dienst mehr:Nichts mehr ist schlimm im Leben für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben. Sterben können befreit uns von aller Knechtschaft, von allem Zwang.15

Nach Montaigne besteht das Philosophieren jedoch nicht nur im Sterben-Lernen, sondern gleich wie für Cicero in der Pflege der Seele. Seiner Ansicht nach fühlt sich die Seele wohl, wenn die Philosophie in ihr wohnt. Geradezu modern wirkt sein Hinweis, dass diese seelische Gesundheit auch die körperliche Gesundheit befördere und ihre Ruhe und ihr Glück nach aussen ausstrahle.

Wie wahr seine Feststellung doch ist!Esist medizinisch in der Tat erwiesen, dass seelisch ausgeglichene Menschen weniger anfällig sind für Krankheiten. So haben viele gesundheitliche Beschwerden und Krankheitserscheinungeneine seelische Ursache (psychosomatische Krankheiten), denn wenn die Psyche leidet, leidet auch der Körper. Die Philosophie ist somit nicht nur einewohltuende Medizin für den Geist, sondern auch für den Körper. Wer sich jemals mit philoso-

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phischen Fragestellungen auseinandergesetzt hat, wird mit der Zeit bemerkt haben, dass einem das Philosophieren tiefe Befriedigungverschafft und durch die Philosophie eineinnere Ruhe in das Seelenleben einkehrt mit der Folge, dass sie, wie Cicero zutreffend feststellte, als «Medizin des Geistes»ihre positive Wirkung im Gemüt entfaltet. Sie kann zu einer positiven Lebensgrundhaltung führenund Grundsätze vermitteln, die eine innere Orientierung im Leben geben können und dem Menschen helfen,sich selber und die Umwelt besser zu verstehen. Die Philosophie ist somit in gewissem Sinne auch Lebenshilfe. Sie stellt, um mit Wilhelm Schmid zu sprechen, den geistigen Raum zur Verfügung, in dem die eigenständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Leben neu orientiert werden kann.16 Dies erkannte bereits vor rund 2000 Jahren der römische Staatsmannund Stoiker Seneca, als er feststellte, dass die Philosophie die Seele formt und prägt, das Leben ordnet, die Handlungenregelt und uns zeigt, was zu tun und zu lassen ist. Sie steht Seneca zufolge am Steuer unseres Schiffes und gibt uns den richtigen Kurs durch die Gefahren der Fluten an.17

Die Herbeiführung von Ruhe und Entspannung, von Ausgeglichenheit und seelischem Gleichgewicht, verbunden mit einer Erweiterung des geistigen Horizontes ist es, was die Auseinandersetzungmit philosophischen Fragen so reizvoll macht. Diese Auseinandersetzung, dieser Weg, diese Reise, die, wie Martin Seel es ausdrückt, «jedes Mal von vorn beginnt, wenn man glaubt, an einem Ende angekommen zu sein», ist schlussendlich das Ziel. «Während die sonstigenReisenden in der Ferne zu sich selbst zu kommen versuchen, wendensich die Philosophierenden dem Naheliegendsten, ihrem eigenen Verstehen und Nichtverstehenzu, um einen Abstand gegenüber sich selbst zu gewinnen».18 Ähnlich dachte auch der schottische Philosoph und bedeutende Denker David Hume (1711–1776). Er wies darauf hin, dass der grösste Nutzen der Philosophie nicht aus ihren Ergebnissen, sondern aus der blossen Beschäftigung mit ihr resultiert. Der Philosoph gelangt nach Ansicht Humes durch Konzentration und Übung in einer bestimmten Methodik des Denkens zu einer unmerklichen Charakterverbesserung, die ihn in die Lage versetzt, die verschiedenen Herausforderungen des Lebens besser zu bewältigen. Wer aber über seine philosophischenStudien zu leben vergisst, beraubt laut Hume die Philosophie eines guten Teils ihres eigentlichen Wertes. Hume rät daher jedem Philosophen, bei all seiner Philosophie stets Mensch zu bleiben.19 Wie recht er doch hat:Der theoretisch-philosophische Überbauist zweifellos notwendig und wichtig, doch lehrt uns die Praxis,d.h.das alltägliche Leben, am besten, mit all seinen Herausforderungen und Problemstellungen umzugehen und je nach unserem inneren Gleichgewicht entweder daran zu zerbrechen oder daran zu wachsen.

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Über das Phänomen der Zeit

Ein nachdenkliches Gespräch an einem verschneiten Januarabend in Genf

Obwohl die Zeit allgegenwärtig ist, da wir jederzeit mit ihr konfrontiert werden, wir über die verlorene Zeit klagen und uns über die gewonnene freuen, lässtsich nicht schlüssig beantworten, was die Zeit denn wirklich ist, und sei es nur, weil wir hierzu oftmals keine Zeit haben. Dies wiederum liegt wohl am aktuellen Zeitgeist. Uns fehlt nicht selten die Zeit für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fragen wie beispielsweise der, ob die Zeit überhaupt existiert oder bloss eine Illusion ist, ob es nur eine Zeit oder mehrere Zeitwelten gibt oder ob gar eine zeitlose Dimension existiert. Haben wir uns jemals die Zeit genommen, zu überlegen, welche Bedeutung die Zeit für uns hat, wie wir sie persönlich erleben und empfinden, ob wir unter Zeitdruck leiden und Zeit manchmal als sogenanntes Zeitdiktat empfinden, oder ob wir zu wenig oder gar zu viel Zeit haben?Haben wir uns schon einmal gefragt, ob es wirklich die Vergangenheit ist, welche die Gegenwart beeinflusst oder es nicht vielleicht umgekehrt ist, ja, ob es denn überhaupt eine Gegenwart gibt?Mit dem Phänomen der Zeit beschäftigten sich in der Vergangenheit viele Philosophen, so beispielsweise Aristoteles in seinem Werk «Physik»1,der römische Philosoph Senecainseinem Büchlein «Debrevitate vitae»2 , der als Kirchenvater in die Geschichte eingegangene Augustinus in seinen «Confessiones»3 sowie Martin Heidegger in seiner Abhandlung «Sein und Zeit».4 Die philosophische Diskussion über die Zeit hat auch in der Gegenwart nicht an Aktualität eingebüsst.

Im nachfolgenden Dialog debattieren Pierre Cascoigne und Michel van Rompen an einem kalten Januarabend im Jahr 2020 über das Phänomen der Zeit. Sie fragen sich, wer Michel van Rompen ist?Der 52-jährige van Rompen hat an der Hochschule St. GallenNationalökonomie und an der Erasmus-Universität Rotterdam fünfSemester Philosophie studiert. Kurze Zeit war er journalistisch tätig. Seine äussere Erscheinung mit den schulterlangen blonden Haaren, der leicht korpulenten Figur und seinem Faible für einen extravaganten Kleidungsstil lassen erahnen, dass es sich bei ihm um eine kreative Person handelt. VanRompen ist Inhaberund Creative Director einer grösseren Werbeagentur in Amsterdam. Er gründete die Agentur vor rund 20 Jahren und hat viel Zeit und Energie in ihren Aufbau gesteckt. Die starke berufliche Beanspruchung stürzte ihn in eine grosse persönliche Krise, welche im Jahre 2017 zu einem Burnout und ein Jahr später zur Scheidung seiner Ehe führte, die immerhin 15 Jahre gedauert hatte.

Es ist der 20. Januar 2020 abends. Draussen schneit es stark, es herrscht minus ein Grad. Cascoigne hat den mit ihm befreundeten van Rompen zu sich nach

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