Petra van Cronenburg: Blaue Fluchten edition tetebrec
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Leseprobe aus Petra van Cronenburg: Blaue Fluchten, edition tetebrec alle Rechte vorbehalten, Verwendung des Textes über das Zitatrecht hinausgehend nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin / des Verlags
Linksrechts Eine Gruppe von Menschen steht vor der übergroßen Doppeltür eines Hauses aus unverputzten Backsteinmauern. Die Türstürze und eine einzige flache Treppenstufe sind aus gehauenem Stein, im Vordergrund ist ein Ablaufgitter im Boden eingelassen. Rechts am Boden hat jemand ein Schild befestigt: „06 08“ ist darauf zu lesen, das letzte Drittel abgeschnitten. Eine Hausnummer? Ein Datum? Elf Menschen passen in den Hauseingang. Vier erwachsene Frauen unterschiedlichen Alters, im Vordergrund zwei größere Mädchen, die unterhalb der Stufe stehen. Auf der Stufe drängen sich um die älteste Frau mit Kopftuch fünf Kinder wie Orgelpfeifen. Nur eines davon ist eindeutig ein Junge, im Matrosenanzug, mit geschnürten Schuhen und gestrickten Gamaschen. Zwei sind eindeutig Mädchen mit Schleifen im Haar. Aber die anderen beiden im Kittel bleiben unbestimmbar: Zu jener Zeit trugen Mädchen wie Jungen Röcke und Kittel. Die Zeit lässt sich an der Mode ablesen, den typischen gestärkten weißen Schürzen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Die Frauen tragen dazu hoch geschlossene Streifen- und Karoblusen, nur die jüngste mit lockiger Hochsteckfrisur steht da im hellen Kleid. Armutszeit oder Armutsort, die Kleinen haben aufgetriebene Hungerbäuche, den Erwachsenen steht harte Arbeit ins Gesicht geschrieben. Zwei Kinder sind barfuss, aber die Schuhe der anderen sehen aus, als würden sie nur zu Festtagen hervorgeholt oder zum Fotografieren. Das Foto von ihr als Dreijähriger, Wohnblockkind, mit Müttern und anderen Kindern das Haustor füllend, und der Fotograf hatte sie abgelichtet nach der Jahrhundertwende. Frauen und Kinder in Wohnblocktoren, die
Straße hinauf und hinunter, Arbeitervorstadt. Und als sie erwachsen ist und verheiratet und wieder vor einem Hauseingang steht, ist die Fassade frisch getüncht, ihr Frauenleben reiht sich im Bauhausmuster von links nach rechts und von oben nach unten in andere Frauenleben ein: Mustersiedlung Breslau-Pilsnitz, frisch eingewohnt. An jenem Aprilmorgen schlagen lange Schatten Narben zwischen die Fenster, oben und unten und links rechts links rechts, Schwarzrisse im WeißNichts, blutrot. Bürgerspflicht knattert im Wind links rechts im April, flattert, schlägt, knallt. Und sie steht da vor der Mustersiedlung, Wohnung Nummer sieben, Erdgeschoss links. So oft hat sie die Geschichte erzählt im Gleichklang, die ewig wiederkehrende Geschichte, dass sie sich genau erinnert: Erdgeschoss links. Nichts. Fensterbreit Sonne zwischen den Schatten. Fassadenweiß, unversehrt. Sie steht und schaut. Sie hat immer hingesehen. Von oben nach unten rechts nach links rennt der Blockwart, schreit, die Unterbrechung werde sie teuer zu stehen kommen, links so wie sie links dächten und das lasse er sich nicht gefallen. Und Großvater Erich, ihr Mann, reißt mit den Fensterflügeln ein Loch in die Fassade, die blutende mit den schnurgeraden Fahnenwunden, reißt das Maul auf und schreit mit dem im Radio und brüllt auf die Straße, wo sie steht und schaut. Wenn ich hier was raus häng für den da, dann allenfalls und links wie rechts die Monatsbinde, falls sie denn im April am zwanzigsten verfügbar wäre, die könne er haben, er wolle doch Blut von oben bis unten Blut und darum rinnen die Fahnen Fassaden hinab und links rechts links rechts immer nur Blut. Knallt das Loch in der Fassade zu und sie schaut immer noch. Und ehe sie reagieren kann, sich schämt, sind sie da. Links rechts links rechts und der Blockwart von oben. Wiederkehrend hat die Großmutter von ihrem Schauen und der Scham erzählt, wie Monatsblut ist die Geschichte regelmäßig aus ihr herausgeronnen, links rechts links rechts, den Rhythmus hat sie im Ohr und sie hat doch nur hingesehen für alle.