Blick ins Alpenvereinsjahrbuch BERG 2019

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© M. Zahel


Alpenvereinsjahrbuch

Berg 2019 Zeitschrift Band 143 Herausgeber Deutscher Alpenverein, München Österreichischer Alpenverein, Innsbruck Alpenverein Südtirol, Bozen Redaktion Anette Köhler, Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien


Inhalt

Vorwort

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BergWelten: Ankogel und Hochalmspitze Im Reich der Tauernkönigin. Hochalmspitze und Ankogelgruppe  >> Peter Angermann .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mausoleum auf der Arnoldhöhe  >> Martin Achrainer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ein schwäbischer Bergsteiger die Hochalmspitze rettete  >> Hannes Schlosser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sonne entgegen. Von Hütte zu Hütte durch eine begeisternde Bergwelt  >> Silvia Schmid .. . . . . . . . . . . Malta on the Rocks. Wie das Sportklettern ins Maltatal kam  >> Gerhard Schaar .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gletscher und Permafrost in der Ankogelgruppe  >> Gerhard Karl Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer .. . . . . . . Lawine, Wildnis, Urforelle. Facetten von Natur und Landschaft  >> Michael Jungmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BergFokus: Motivation – Was treibt uns an? Facetten der Moderne. Alpinistische Praktiken im Spiegel der Gesellschaft  >> Waltraud Krainz . . . . . . . . . . . 54 Schlüssel zum Aufschwung. Die Gründung des Deutschen Alpenvereins  >> Martin Achrainer .. . . . . . . . . . . . . 66 „Die Welt entwickelt sich nicht notwendigerweise hin zur größeren Freiheit und Toleranz“. Robert Renzler im Gespräch mit dem Philosophen Andreas Urs Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält  >> Barbara Schaefer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Hüttenwirt auf Zeit. Taugt eine Berghütte als Schule fürs Leben?  >> Georg Bayerle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Vom guten Umgang mit sich selbst. Psychologie der Grenzüberschreitung  >> Alexis Konstantin Zajetz . 94 „Man tut doch nicht nix“. Axel Klemmer im Gespräch mit Herbert Henzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

BergMenschen Inklusion am Berg. Outdoor-Erlebnisse trotz Behinderung  >> Karin Steinbach Tarnutzer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Weil das eine zum andern gehört. Walter Spitzenstätter im Porträt  >> Stephanie Geiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Erziehung als Lebensaufgabe. Ernst Enzensperger, Gründervater der Jugendarbeit im Deutschen Alpenverein  >> Florian Bischof.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Dabistebaff. Richard Goedeke im Porträt  >> Peter Brunnert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Emma Hellenstainer. Urbild der Tiroler Wirtin  >> Hans Heiss .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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BergSteigen Sport oder Steigen? Ist Bergsteigen Sport? Oder „mehr“?  >> Andi Dick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 „Was sollen wir mit diesen Affen im Alpenverein?“  >> Alexandra Albert .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 „Damit das Glück nicht zu sehr strapaziert werden muss“. Michael „Much“ Mayr zum ÖAV-Programm „Junge Alpinisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Sisyphos für Fortgeschrittene. Internationaler Alpinismus im Überblick  >> Max Bolland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 „Fehlen eigene Ideen, verkommt alles zu einer Art Systembefriedigung“. Max Bolland im Gespräch mit Heinz Mariacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Das Karussell dreht sich. Wettkampf-Chronik Klettern und Skibergsteigen  >> Matthias Keller . . . . . . . . . . . . . . 176 Einen Weg in die Zukunft bauen. Das Nepal-Hilfsprojekt des DAV  >> Franziska Horn .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

BergWissen Der Schnee und das Pulver. Zehn Stationen der Wintersportindustrie  >> Axel Klemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Das Signal von La Grave. Die Kampagne „Keep La Grave wild“  >> Vanessa Beucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 „Es gibt keine Tabus mehr“. Der Boom des Bergsports fordert die Bergretter  >> Gerald Lehner . . . . . . . . . . . . 204 Wahrheit oder Pflicht? Das Social-Media-Verhalten der Bergsteiger  >> Riki Daurer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 „Da werden Produkte perfekt in Szene gesetzt“. Riki Daurer im Gespräch mit Stefan Winter .. . . . . . . . . . . . . . . 220

BergKultur Gemeinsam gegen alle Widerstände. Die Talgemeinde Fleims  >> Susanne Gurschler .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 „Die Frage: ,Wem gehören Grund und Boden?‘ ist für jede Gemeinschaft von elementarer Wichtigkeit“. Susanne Gurschler im Gespräch mit dem Künstler Walter Niedermayr .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Der älteste Schneeschuh. Gletscherfunde in Südtirol  >> Hubert Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Emo und der Urfigl. Ein Blick zurück zu den Anfängen des Firngleiters  >> Günter „Franz“ Amor .. . . . . . . . . . . . 240 Honig und Heimsuchung. Nan Shepherds Klassiker Der lebende Berg  >> Bernhard Malkmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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Im der Tauernkönigin „AlsReich Naturschutzpark der Zukunft erhalten“ Hochalmspitze und Ankogelgruppe im Nationalpark Hohe Tauern: Erschließungsgeschichte und die schönsten hochalpinen Routen >> Peter Angermann

Albert Wirth und die Naturschutzidee im Großglocknergebiet >> Ute Hasenöhrl

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Die Lage im Nationalpark

Ankogel: An der Wiege des Alpinismus

Der Nationalpark Hohe Tauern ist mit einer Fläche von rund 1800 km² der größte Nationalpark im gesamten Alpenraum. Gebietsanteile am Nationalpark haben die drei österreichischen Bundesländer Salzburg, Tirol und Kärnten. Die in der besonders geschützten Kernzone des Nationalparks liegenden Berggipfel Hochalmspitze und Ankogel in der Ankogelgruppe liegen im Einzugsbereich von gleich drei Alpenvereins-Bergsteigerdörfern, die alle drei zugleich auch Nationalparkgemeinden sind. Das von den beiden Gipfeln etwas weiter entfernte Bergsteigerdorf Hüttschlag im Salzburger Bezirk Pongau im Osten des Nationalparks ist über das Brunnkar und die Arlscharte mit der Gebirgsgruppe verbunden. Sowohl der Ankogel wie auch die Hochalmspitze liegen auf dem Gemeindegebiet der beiden Kärntner Bergsteigerdörfer Mallnitz und Malta im südöstlichen Teil des Nationalparks. So wie es für die Bewohner der Gemeinde Malta felsenfest steht, dass die höchste Erhebung der Ankogelgruppe, die 3360 Meter hohe Hochalmspitze, auf ihrem Gemeindegebiet steht, so sicher sind sich auch die Mallnitzer. Und beide haben Recht, denn die Grenze der beiden Kärntner Gemeinden verläuft genau über den Gipfel. Den 3250 Meter hohen Ankogel teilt man sich überdies auch noch mit der Salzburger Gemeinde Bad Gastein, genauer gesagt mit dem Ortsteil Böckstein, einem ehemaligen Bergwerksort, in dem der Erstbesteiger des Ankogels, ein gewisser Bauer Patschg, zu Hause war.

Der Ankogel gilt als der am frühesten bestiegene vergletscherte Dreitausender in den Alpen. Das geht unter anderem aus einem Reisebericht mit dem Titel „P. K. Thurwieser’s Reisen in den Ferien 1822“, veröffentlicht in der Zeitschrift Der Tourist, hervor. Man liest dort, dass der Geistliche Peter Carl Thurwieser am 16. September des Jahres 1822 von Wildbad Gastein (dem heutigen Bad Gastein) ins etwa dreieinhalb Kilometer entfernte Böckstein gewandert war, in der Absicht, einen Führer auf den „verrufenen“ Ankogel zu suchen. Thurwieser wird in jenem Bericht mit folgenden Worten zitiert: „Von der Besteigbarkeit dieses Berges wusste man mir nur so viel zu sagen, dass der sogenannte alte Patschg – sein Haus ist vom Wildbad gegen Böckstein das erste am Weg – vor etwa 60 Jahren von seiner im hintersten Theile des Anlaufthales gelegenen Alpe aus, denselben bestiegen und von der großen Mühe und Gefahr, die er dabei überstanden, erzählt habe.“ Damit ist das Jahr der Erstbesteigung also nur ungefähr auf das Jahr 1762 zu datieren. Aber so, wie auch unsere Zeitrechnung nicht mit 5 oder 8 vor der Geburt Christi, sondern mit dem von der westlichen Welt im Wesentlichen akzeptierten Jahre null beginnt, gilt seither – zumindest in der Welt der Hohen Tauern – das Jahr 1762 als die Geburtsstunde des Alpinismus. Was aber mag diesen Bauern aus dem Fürst­ erzbistum Salzburg in der Mitte des 18. Jahrhunderts bewogen haben, den vereisten Gipfel zu besteigen? Die gewöhnlichen Alpenbewohner

Ihre Majestät thront über dem Seebachtal: die Westseite der Hochalmspitze mit dem zerrissenen Winklkees und dem Großelendkopf (links), von der Maresenspitze aus gesehen. Der lange, nach rechts abstreifende Grat ist der Detmolder Grat. Weniger anspruchsvoll ist der Gipfelanstieg zum Ankogel über das Kleinelendkees (unten rechts). Beide Ziele lassen sich zu einer großartigen hochalpinen Runde verknüpfen. © P. Angermann/H. Raffalt

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Idylle mit IC-Anschluss: In einer Biegung des Seebachtals liegt das Bergsteigerdorf Mallnitz. Der kecke vergletscherte Spitz im Hintergrund ist der Ankogel. Diesen umfassenden Blick ermöglicht das Lonzaköpfl (2317 m), einer der Wander-Hausberge von Mallnitz. © M. Zahel

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hielten damals noch nicht viel vom Bergsteigen, man hatte andere Sorgen. „Hinauf“ ging man nur, wenn sich ein Nutztier bei der Suche nach Futter verstiegen hatte, um die Herde bei zu frühem Wintereinbruch sicher ins Tal zu begleiten, oder zu Zwecken der Jagd, was bei den Einheimischen meist Wildern bedeutete, da die Jagd offiziell dem Adel und den Grundherrn vorbehalten war. Dort oben, am Gletscher des Ankogels, gab es aber weder Vieh zu bergen noch Wild zu jagen. Auch lagen die durchschnittlichen Jahrestemperaturen in dieser Zeit in den Alpen etwa 2 Grad Celsius unter dem Mittelwert des 20. Jahrhunderts. Was also trieb den Almbauern Patschg? Wer das Böcksteiner Anlauftal kennt, der kann seinen Antrieb erahnen. Auf dem Weg zu seiner Alm, der 1701 Meter hoch gelegenen Oberen Radeggalm im hinteren Anlauftal, hatte er den rund 2000 Meter höher aufragenden und alle anderen Gipfel überragenden Ankogel stets im Blick. Dabei mag bei ihm irgendwann der Entschluss gereift sein, dort hinauf zu gehen, vielleicht um zu sehen, was hinter diesem Berg liegen mag. Der österreichische Filmemacher Georg Stadler hat dem Almbauern Patschg anlässlich des

250. Jubiläums der Erstbesteigung mit dem Film „Die Wiege des Alpinismus“ (Erstausstrahlung 2012) ein berührendes Denkmal gesetzt. Nach Patschg standen wahrscheinlich noch mehrere Einheimische sowohl aus Salzburg wie auch aus dem damaligen Herzogtum Kärnten auf dem Berggipfel, bis dann der eingangs erwähnte Geistliche Peter Carl Thurwieser im Jahr 1822 den Berg bestieg und den Weg dorthin das erste Mal ausführlich beschrieb. Harald Schueller charakterisierte Thurwieser im Alpenvereins-Jahrbuch 1979 als einen begeisterten Bergsteiger, der zu seiner Zeit bereits zahlreiche Bergfahrten „ohne jeden Nebenzweck und nur um ihretwillen“ unternommen habe. Im Sommer 1826 stand dann (gemeinsam mit Thurwieser und Baron Herbert aus Klagenfurt) auch der legendäre Erzherzog Johann, Bruder von Kaiser Franz I., auf dem Gipfel des Ankogels. Wie der Böcksteiner Historiker Fritz Gruber berichtete, hätte der Erzherzog nach seiner Besteigung des Ankogels auf der Radeggalm übernachtet und sich dort – seine tiefe Zuneigung zum einfachen Volk war ja gewissermaßen amtsbekannt – sehr intensiv mit der dortigen Sennerin unterhalten.


Man mag dem hohen Herrn ein „Gspusi“ mit der jungen Frau unterstellt haben. Am folgenden Tag hätte der auch naturwissenschaftlich sehr interessierte Erzherzog Johann zwei Böcksteiner Bergwerksknappen mit tiefen Tragekörben auf die Radegg­alm schicken lassen, um dort die im Zuge seiner Besteigung in großer Zahl gesammelten Pflanzen und Gesteinsproben abzuholen. Damals war der Gipfel im Übrigen noch gut zehn Meter höher als heute: 1932 war durch einen Felssturz ein Stück des Gipfels abgebrochen.

Die Erstbesteigung der Hochalmspitze Die höchste Erhebung in der Ankogelgruppe bildet die am Ende eines vom Ankogel in südöstlicher Richtung verlaufenden Kammes liegende Hochalmspitze. Umrahmt von vier Gletschern – Hochalmkees, Trippkees, Lassacher Winklkees, Großelendkees (Kees ist die hier übliche Bezeichnung für Gletscher) – gleicht sie, so Harald Schueller im Alpenvereins-Jahrbuch 1979, „einer königlichen Braut mit samtenem Hermelinumhang. Der herrliche Aufbau des Berges inmitten der ihn umgebenden Gletscher ließ unter anderem Beinamen wie Tauernkönigin und Tauernfürstin aufkommen.“ Die Hochalmspitze weist zwei Gipfel auf: die Apere Hochalmspitze, mit 3360 Metern der höchste Punkt, und die 3345 Meter hohe Schneeige Hochalmspitze. „Die Hochalm“, wie der Berg bei den Einheimischen heißt, wurde, wohl wegen ihrer Abgelegenheit, erst rund hundert Jahre nach dem Ankogel erstiegen und in der Frühzeit der Erschließungen

frühere Vorsitzende des ÖAV-Landesverbandes Kärnten Heinz Jungmeier hat aber vor wenigen Jahren nachgewiesen, dass es einheimische Bergsteiger waren, die als Erste den Gipfel der Hochalm erreichten, und zwar schon vier Jahre früher, am 30. August 1855. Im Nachlass des gräflich lodronschen Gewerkbeamten Joseph Moritz fand sich nämlich ein Bericht, der ihn als Initiator einer Besteigung auswies. Seine beiden Führer Andreas Pucher und Jakob Haman hatten demnach den Gipfel vollständig erklommen, er – Moritz – selbst sei, weil es ihm vor dem „grausigen bodenlosen Abgrund, welcher sich an der Mallnitzer Seite zeigte“, schwindelte, nicht bis zur höchsten Spitze gestiegen, habe sich aber an der schneidigen Schneekante zwischen Schneeiger und Aperer Hochalmspitze etwa acht Fuß unter dem Gipfel, einen Schenkel in das Maltatal, den anderen Schenkel in das Mallnitztal hängend und sich in dieser Stellung sicher fühlend, eine Zigarre anzünden können. Als Nachweis der Erstbesteigung soll dem Bericht Moritz‘ zufolge auf einem Felsblock in Gipfelnähe das Datum der Erstbesteigung, der 30. August 1855, sowie seine und die Initialen der beiden Gipfelbesteiger angebracht worden sein. Leider wurde dieser Fels bislang noch nicht gefunden.

Erste Hütten und Wege Die Erschließer der Ostalpen waren Pioniere ähnlich den frühen Kolonialisten in anderen Teilen der damaligen Welt. In den Alpen und damit auch im Bereich der Hohen Tauern gab es außer den alten

„Der Charakter der Bewohner ist ein offener, gutmüthiger und treuherziger. Wenn auch in der Cultur weniger weit vorgeschritten als im Hauptthale, muß man doch über die Intelligenz einzelner staunen …“

lediglich von der Malteiner Seite aus über das Hochalmkees. Lange Zeit galt der Mitbegründer des Österreichischen Alpenvereins, der Wiener Alpinist Paul Grohmann, als Erstbesteiger und der 15. August des Jahres 1859 als Tag dieser Tat. Der

Dr. Karl Arnold: „Land und Leute im Mallnitzthale“, Vortrag gehalten in der Sektion Hannover 1890

Kriegs- und Handelswegen, die in der Regel in Nord-Süd-Richtung verliefen und teilweise noch aus vorrömischer Zeit stammten, kaum Wegbauten. An festen Unterkünften waren im Tauerngebiet noch Überbleibsel aus der Zeit des Bergbaus

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Große Schau: Mallnitzer Bergführer erläutern das Panorama vom Ankogel (1932). Die 1888 errichtete erste „Hannoversche Hütte“ erleichterte die Besteigung des Gipfels erheblich. © Archiv P. Angermann

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vorhanden. Daneben gab es noch einfache Hütten der Hirten und Senner. Alpinistische Infrastruktur, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Die Erschließung des Maltatals und seiner Berge leitete der Gmündner Notar Josef Fresacher in den ausgehenden Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein. Für die Erschließung der Mallnitzer Bergwelt maßgebend war etwa zur gleichen Zeit der Chemiker und Mineraloge Karl Arnold, Professor an der Hochschule Hannover. Er veranlasste 1888 nicht nur den Bau der ersten Hannoverhütte, sondern regte auch weitere Sektionen aus Deutschland dazu an, ihre Arbeitsgebiete und da-

mit ihre „alpine Heimat“ in diesen Teil der Hohen Tauern zu verlegen und hier Hütten und Wege zu erbauen und zu unterhalten. Die Herausforderungen, vor denen die Alpenvereinssektionen im ausgehenden 19. Jahrhundert insbesondere beim Wegebau standen, lassen sich wohl kaum besser schildern, als dies der nunmehr erste Vorsitzende der DAV-Sektion Hannover Manfred Bütefisch anlässlich des 125. Sektionsjubiläums im Buch „Hannover hochalpin“ getan hat. „Der Bergsteiger um 1880 war in der Regel ‚weglos‘ unterwegs, er hatte einen ortskundigen Führer und gegebenenfalls zusätzliche Träger. Durch ein sich langsam entwickelndes Wegenetz wurden die Berge auch jenen Wanderern zugänglich gemacht, die sich einen Führer nicht oder nur für besonders schwierige Touren leisten wollten oder konnten. Das heutige Wegenetz in den Alpen geht im Wesentlichen auf die Aktivitäten der Alpenvereinssektionen in der Zeit bis vor den Ersten Weltkrieg zurück (…). Das Gebirge war zum Großteil als Jagdgebiet verpachtet. Jede mögliche Störung des Wildes und der Jagd waren gleichbedeutend mit einer Qualitätsminderung des verpachteten Gebietes; demzufolge standen die grundbesitzenden Gemeinden allen Vorhaben, die eine Verminderung des Pachtzinses zur Folge haben könnten, äußerst skeptisch, ja ablehnend gegenüber. Dass es den Sektionen im Laufe der Zeit trotzdem gelang, ein umfassendes Wegenetz zu errichten, ist nicht zuletzt auf den stetig wachsenden Strom von Touristen und die daraus resultierende Erkenntnis zurückzuführen, dass die Vielzahl der Gäste eine weitaus ergiebigere Einnahmequelle darstellten als die Verpachtung von Jagdgrund.“ Das so entstandene Wegenetz betreut heute die Arbeitsgemeinschaft Tauernhöhenwege, an der 17 Anrainersektionen des DAV und ÖAV teilhaben. Neben dem Erhalt der Hütten- und Wegeinfrastruktur, insbesondere auch des beliebten Tauernhöhenwegs und seinen Zubringer­ wegen, ist es ein besonderes Anliegen der ARGE, das wechselseitige Verständnis und die Freundschaft zwischen den einheimischen Sektionen im Malta- und Mallnitztal und seinen (neben den Sektionen Graz und Villach) vorwiegend norddeutschen Partnersektionen zu erhalten und zu vertiefen.


Der Bau des Tauerntunnels: Die Eisenbahn bringt die Städter In der Frühzeit des Alpinismus wurden die Berge rund um Ankogel und Hochalmspitze, wenn überhaupt, dann vorwiegend vom Salzburger Anlauftal aus bestiegen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollte sich das gründlich ändern. Die zweite Hälfte des 19. und das beginnende 20. Jahrhundert war die Zeit der Eisenbahn. Die wirtschaftlichen und kulturellen Zentren der damals vielfach noch von Monarchen geführten europäischen Länder sollten durch ein Schienennetz verbunden werden, und auch im Habsburgerreich herrschte der Wunsch, den Norden des Staatsgebiets mittels einer Bahnverbindung an die an der Adria gelegenen Häfen anzuschließen. Für die geplante Strecke nach Triest standen vom Felber- bis zum Radstädter Tauern gleich sieben mögliche Varianten zur Auswahl, um Salzburg und damit auch das Deutsche Reich über die Tauernkette mit dem Adriahafen zu verbinden. Nach sorgfältiger Abwägung der wirtschaftlichen und strategischen Aspekte fiel schließlich die Wahl der Streckenführung auf die Variante durch das Gasteinertal und – mit einem Tunnel durch den Tauern-

hauptkamm – nach Mallnitz ins Möll- und weiter ins Drautal. Vom Spatenstich im Sommer 1901 dauerte es nur acht Jahre, bis der 8371 Meter lange Tauerntunnel am 5. Juli 1909 von Kaiser Franz Joseph I. feierlich eröffnet werden konnte. Damit wurde das bis dahin eher unbedeutende Bergdörfchen Mallnitz ein bedeutender touristischer Ausgangspunkt für die Bergwelt der Hohen Tauern. Hatte der k. k. Hofkammerbeamte und Reiseschriftsteller Joseph Kyselak im Jahr 1825 das Dorf Mallnitz noch als „mehrere Stunden von jedem Dörfchen und Tagreisen von kleinen Städten geschieden“ beschrieben, war es nun vorbei mit der unbekümmerten Abgeschiedenheit, wie der Gmündner Apotheker Frido Kordon in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpen-Vereines 1909 berichtete: „Am Vormittag des 20. August 1908 fuhr ich mit meinem alten Wandergenossen Maurilius Mayr und seinem Träger im Poststellwagen von Möllbrücken nach Obervellach. (…) Nach 2½ stündigem Marsche waren wir in Mallnitz, das durch die Bahn aus dem schlichten Alpendorfe ein recht wunderliches Gemisch verschiedener Bauten geworden ist. (…) Grelle Lokomotivenpfiffe wecken das Echo der versteck-

Im Einzugsbereich von drei Bergsteigerdörfern Mallnitz (1191 m) liegt in einem Seitental des Kärntner Mölltals auf der Südseite der Hohen Tauern. Das Bergsteigerdorf ist Verladestation des Tauerntunnels (Autoverladung) und im Zweistundentakt an den IC-Bahnverkehr angebunden. Für die Mobilität vor Ort gibt es den Nationalpark-Wanderbus. Malta (843 m), der Hauptort im gleichnamigen Kärntner Tal, erreicht man über die Tauernautobahn (A10), die man bei der Abfahrt Gmünd in nördlicher Richtung verlässt. Mautpflichtige öffentliche Straßen führen zu den Speicherseen Kölnbrein und Gößkar. Mit einer Postbuslinie ist das Bergsteigerdorf mit dem nächstgelegenen Bahnhof in Spittal an der Drau verbunden. Hüttschlag (1030 m) bildet zusammen mit den Ortsteilen Karteis und See den Talschluss des Salzburger Großarltales und ist von St. Johann im Pongau (Bahnstation) mit Pkw und Postbus erreichbar. Bei Anreise mit dem Pkw wird die Tauernautobahn A10 bei Bischofshofen verlassen. Das Tal vermittelt mit dem Murtörl zwischen den Hohen und den Niederen Tauern. Der Beitrag von Silvia Schmid (siehe Seite 26 ff.) zeigt, wie sich dieses abwechslungsreiche, hochalpine Tourengebiet von Hütte zu Hütte erkunden lässt. Rechts oben: Arthur-von-Schmid-Haus, Mitte: Osnabrücker Hütte, unten: Celler Hütte am Tauernhöhenweg © P. Angermann/A. Strauß

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Der Sonne entgegen Von Hütte zu Hütte durch eine begeisternde Bergwelt >> Silvia Schmid

Die wilde Hochgebirgslandschaft des Tauernhauptkamms begeistert mit majestätischen Gipfeln, einsamen Übergängen und spannenden Vegetationsstufen. Wer zwischen Bad Gastein, Hüttschlag, Malta und Mallnitz im Hoheitsgebiet von Ankogel und Hochalmspitze unterwegs ist, erlebt das Hochgebirge im Nationalpark Hohe Tauern mit all seinen Facetten auf Schritt und Tritt.

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Siebenschläfertag. Es regnet in Strömen, oben wird es wohl sogar weiß werden. Was für ein verrücktes Jahr! Schneemengen im Winter, ein Frühling, der ein Sommer war – und nun das. Bei diesen Verhältnissen ist es fast noch zu früh für diese lange Tour. Von Bad Gastein aus wollen wir den Ankogel weiträumig umrunden: Hinüber ins Bergsteigerdorf Hüttschlag im Großarltal, dann zur Kattowitzer Hütte und auf den Großen Hafner. Weiter soll es zur Osnabrücker Hütte mit den landschaftlich eindrucksvollen Elendtälern gehen. Zum großen Finale lockt der Ankogel, bevor wir vom Hannoverhaus auf der historischen Route über den Korntauern nach Bad Gastein absteigen wollen.

Das Wetter diktiert die Bedingungen Einsamkeit – dafür Altschneefelder. Keine überfüllten Hütten – dafür Wege, die nach dem harten Winter und den starken Regenfällen der letzten Tage vermurt und schwer zu finden sein könnten. Die Wegwarte geben ihr Bestes, doch sie können erst zupacken, wenn es auch im Hochgebirge Sommer wird. Aus einer langen, anspruchsvollen Bergwanderung wird so schnell eine spannende Bergtour. Wir sind darauf vorbereitet, haben Steigeisen und Biwaksack im Rucksack, als sich die Wolken endlich verziehen sollen. Für morgen ist sehr trockene Luft aus Nordost angesagt, die folgenden drei Tage sollen unbeständiger, aber noch passabel werden. Wir reduzieren unsere Pläne. Auf dem schönen Wanderweg über die Tofernscharte würden wir zwar schnell die historischen Bauwerke und den dort vorbeibrausenden Gasteiner Wasserfall hinter uns lassen, ebenso wie die

Alle Wetter: Das Murtal liegt unter einer dichten Nebeldecke, doch beim Aufstieg zur Schmalzscharte ist es traumhaft schön. Der Ankogel (unten) schmückt sich bereits mit einer Wolkenfahne, auf dem weitläufigen Kleinelendkees ist die Sicht noch gut. Alle Fotos © S. Schmid

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Gemütlich: Die Kree-Hütte im letzten Abendlicht. Knapp oberhalb des Kölnbreinspeichers verzweigen sich die Wege. Einer führt hinüber nach Großarl, der andere über den Weinschnabel Richtung Murtal.

zahlreichen Heilquellen, die hier entspringen und das Tal so berühmt gemacht haben. Geplant wäre auch noch ein Abstecher auf den Gamskarkogel mit der aussichtsreichen Hütte, die Erzherzog Johann auf dem Gipfel errichten ließ, bevor der Abstieg ins Großarltal folgt.

Kühle Eisdome und schwülwarme Luft Das Wetter rät uns aber, erst beim malerischen kleinen Bergsteigerdorf Hüttschlag in die Runde einzusteigen. Im Westen sind die Flanken hier steiler, aber noch lieblich. Auf der Ostseite ragen grün schimmernde Felswände ein Stück weit in die Höhe, durch eine führt ein spektakulärer Klettersteig. Beim Talschlussmuseum mit der sehenswerten Ausstellung des Nationalparks Hohe Tauern wird der Blick ins Hochgebirge endgültig frei: Schroff, von zahlreichen Schneefeldern durchzogen, trotzt der Keeskogel den Wolken, die sich noch immer an ihm festsaugen. Über dem Arltörl, dem schnellsten Weg hinüber ins Maltatal, blitzen blaue Lücken auf. Das Maltatal ist auch unser erstes Ziel, doch wir wählen die interessantere, längere Route über Murtörl und Schmalzscharte zur Kattowitzer Hütte. Während wir zur Kree-Alm wandern, fällt unser Blick immer öfter auf die Grasberge im Westen. Wir sehen diese „Gasteiner“ Gipfel täglich – und doch muss eine Karte her, um sie vom Nachbartal aus zu erkennen. Als wir später vor der urigen Kree-Hütte sitzen, werden sonnige Augenblicke rar. Es wird düsterer, und dies nicht nur, weil auch ein Sommerabend einmal zu Ende geht.

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Um fünf Uhr morgens wecken uns die Kühe, die in den Stall unter uns stapfen. Andi, der normalerweise in guten Hotels als Koch arbeitet, gönnt sich gerade eine Auszeit auf der Alm. Dafür muss er nicht nur Wanderer, sondern auch das Vieh verwöhnen. Uns überzeugt er mit Kaspressknödel am Abend und Kirschschokokuchen, den wir zum Frühstück auf dem alten Holztisch in der Almkuchl finden. Neben dem Herd steht der Kessel, in dem Käse gemacht wurde. Doch damit ist Schluss, sagt uns die Sennerin – EU-Normen passen nicht auf eine Almhütte, Käse wird nun im Tal gemacht. In der Nacht hat es zugezogen. Wo bleibt sie nur, die trockene Nordost-Strömung? Noch ist es uns egal. In verschwenderischer Vielfalt blühen die Almwiesen, auf der anderen Seite des Tals weiden Kühe an steilen Grasflanken. Bäche haben sich schon einen Weg durch zementharte Lawinenkegel gefräst und kühle Eisdome erschaffen, die wohl bald in sich zusammenbrechen werden – das Wasser wird die letzten Spuren des Winters in Windeseile davontragen. Julia, die ihr Biologie-Studium unter anderem mit Arbeit auf dem Bauernhof finanziert, übernimmt die Führung, als wir zwischen die Fronten geraten: Rechts des Zauns weiden Jungtiere, links die Kühe, unruhig traben sie hin und her. Doch die Kälber beobachten uns nur neugierig, als wir entlang der „Demarkationslinie“ durch ihr Gebiet gehen. In der schwülwarmen Luft steigen wir höher, lassen Kühe und die letzten Bäume hinter uns und bestaunen die Blumen, die nun kleiner sind, dafür kräftiger wirken und leuchtender blühen. Oben am Murtörl (2260 m) fegt ein eisiger


Wind die Schwüle fort, die Wolken aber bleiben. Knapp unterhalb der „Krone“ dieses weiten, schroffen Kars suchen wir unseren Weg. Der Steig hinüber zur Schmalzscharte (2444 m) ist gut markiert, nur selten verlegen Muren kurze Passagen. Mal sind wir knapp unter der Nebelgrenze und erhaschen Blicke auf die junge Mur, die sich weit unten in vielen Windungen durch die Bergwiesen schlängelt. Dort blitzt sogar ab und zu ein Sonnenstrahl auf. Eigentlich wollten wir das Mureck mit seinem schönen Gipfelkreuz „mitnehmen“, doch irgendwo in den Wolken müssen wir es verpasst haben. Wir suchen Markierungen im scharfkantigen Blockwerk, Saharastaub hat rote Borten in die immer zahlreicher werdenden Altschneefelder gezeichnet. Kurz sehen wir die Schmalzscharte mit dem winzigen Albert-Biwak und wissen, dass die Richtung stimmt. Es wird kälter, windiger, ernster. Das Wetter hält sich an alte Bauernregeln, nicht an moderne Prognosen.

Vom Sturm verweht zur Quelle der Mur An der Schmalzscharte wird der Wind zum Sturm, hier scheint die Welt zu enden. Keine malerischen Seen, keine Gipfel, nur grau. Wir flüchten ins Biwak und entdecken heimelige Lager mit dicken Decken in rotweißen Bezügen, einen kleinen Tisch, Wasserflaschen, Karte und Wanderführer. Da steckt Liebe drinnen … „Es ist eine Traumtour – aber nur bei guter Sicht“, hat uns eine Bergfreundin aus Großarl gewarnt. Zwischen Schmalzscharte und Weinschnabel (2753 m), vor allem aber von dort aus durch die

weiten Kare hinüber zur Kattowitzer Hütte (2319 m) sind die Markierungen in den Blockfeldern rar und die Altschneefelder ausgedehnt. Wir sind schon drei Stunden unterwegs; bis zur Hütte rechnen wir noch mit bis zu fünf Stunden. Gegen Mittag steigen wir noch einmal die wenigen Meter hinauf in die Schmalzscharte. Es rumpelt und poltert, vermutlich haben Gämsen ein Stück Geröllfeld in Bewegung versetzt. Eine eisige Böe bläst plötzlich ein Loch in die Nebelwand. Knapp unter uns scheint der Boden zu wanken und es dauert einen Moment, bis wir realisieren, dass wir auf die düsteren Wellen des Unteren Schwarzsees blicken. Wir erkennen kurz steile Schneefelder und abweisende Schrofen, bevor alles erneut im Grau versinkt. Sollen wir im Biwak übernachten und schauen, was morgen wird? Oder es doch riskieren, nach dem Motto „geht nicht, gibt’s nicht“? Oder zwei Stunden absteigen ins Murtal zur wahrscheinlich sehr gastlichen und vielleicht sogar sonnigen Sticklerhütte (1752 m) und dabei auch noch ein Stück Neuland kennenlernen? Wir sind uns einig, dass man mehr vom Leben hat, wenn man nicht Plänen, sondern Sonnenstrahlen folgt … Nach wenigen Schneefeldern erreichen wir so einen wunderschönen Wanderweg, und bald sind die Wolken dort, wo sie hingehören: weit über uns. Unterhalb einer zerfurchten Felswand sprudelt das Wasser der Mur üppig hervor und macht sich fröhlich plätschernd auf den 444 Kilometer langen Weg zur kroatisch-ungarischen Grenze, wo es in die Drau fließt. Hier mäandert die Mur durch flache Almwiesen, die von weiten Grasflanken

Die Almwiesen zwischen Kree-Alm und Murtörl gehören zu den artenreichsten im Großarltal. Ein lohnendes alternatives Etappenziel ist die gastfreundliche Sticklerhütte im Murtal.

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BergFokus Von der Lassacher Winklscharte an der Hochalmspitze folgt das Auge dem Lauf des Winklbachs im Seebachtal und versucht den Celler Weg an den Hängen der orographisch rechten Talseite auszu­machen. Ob die beiden Bergsteiger sich dabei die Frage stellen, „was treibt uns an?“ oder gar Antworten darauf finden, ist nicht bekannt. Fest steht: Ohne entsprechende Motivation (und Kondition) wären sie nie bis hierher gelangt.

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© H. Raffalt

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Facetten der Moderne Alpinistische Praktiken im Spiegel der Gesellschaft >> Waltraud Krainz Der Frage „Was treibt uns an?“ soll mit der Darstellung der Entwicklung alpinistischer Praktiken vom Beginn der Moderne bis heute begegnet werden. Dabei wird nicht auf „den Alpinismus“ im engeren Sinne fokussiert, es werden sowohl ältere Praktiken wie das Botanisieren als auch gegenwärtige Praktiken wie das Hallenklettern miteinbezogen. Diese Praktiken entwickeln sich vor dem Hintergrund zweier gegenläufiger gesellschaftlicher Bewegungen: 1. der Rationalisierung und dem Glauben an den Fortschritt und 2. der oppositionellen Bewegung der Kritik daran. Von Beginn an trägt der Alpinismus daher die Widersprüche in sich, welche für die moderne Gesellschaft charakteristisch sind.

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Teil I: Die Moderne Die Moderne kann als ein Prozess der tiefgreifenden Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und Denksysteme begriffen werden. Im 18. Jahrhundert beginnt sich mit der Aufklärung eine rationale, auf der Vernunft basierende Ordnung durchzusetzen. Dies führt zur Entstehung der Naturwissenschaften und dazu, dass die Natur zum Objekt der Erkenntnis wird. Erforschen Der Alpinismus entwickelt sich parallel zur Entdeckung und Inventarisierung der Welt im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1786, drei Jahre vor der Französischen Revolution, wird der Mont Blanc durch den Arzt Paccard und den Kristallsucher Balmat erstmals bestiegen. In Auftrag gege-

ben wird die Erstbesteigung durch den Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure. Dieser zählt zu den Begründern der Geologie und der Glaziologie (Gletscherkunde), auch zur Botanik leistet er wesentliche Beiträge. Saussure erforscht bereits seit 1760 die Westalpen, insbesondere die Gegend um Chamonix und setzt Geld für die Erkundung einer Aufstiegsroute auf den Mont Blanc aus, um vom Gipfel aus geologische Beobachtungen und Messungen der Luftfeuchtigkeit machen zu können, wofür er eigens Messinstrumente entwickelt. Eines dieser Instrumente, das Cyanometer, dient der Messung der unterschiedlichen Blauschattierungen des Himmels. Das Milieu, in dem sich de Saussure bewegt, ist bestimmt durch einen der bedeutendsten Universalgelehrten des 18. Jahrhunderts: den Schweizer Arzt, Dichter und Naturforscher Albrecht von Haller, der durch seine botanischen Studien schon früh das Hochgebirge kennenlernt. In seinem berühmten Gedicht „Die Alpen“ aus dem Jahr ­ 1729 widmet Haller drei Strophen der Beschreibung der Alpenflora und regt zur Suche nach ­Kriterien an, wie diese zu klassifizieren wäre. Haller will die Pflanzen der verschiedenen Höhen­züge und Täler der Schweiz erkunden, beschreiben und in eine Ordnung bringen. Sein Gedicht birgt ein Forschungsprogramm und steht am Anfang des naturwissenschaftlichen Interesses für die Alpen. Die Grundlage für diese neue „Ordnung der Dinge“ (Michel Foucault) bildet die binäre Nomenklatur (bestehend aus Gattungsname plus Artzusatz) von Carl von Linné, mit welcher Mineralien, Säugetiere, Insekten und Pflanzen nach bestimmten Kriterien geordnet werden können. Linné legt damit Mitte des 18. Jahrhunderts den Grundstein für die moderne botanische und zoologische Taxonomie. In den Ostalpen sind es Franz Xaver Wulfen und Belsazar Hacquet, welche ganze Gebirgsgruppen durchwandern, um pflanzenreiche Almen aufzufinden oder mineralogische Funde zu machen. Hacquet besteigt 1779 den Triglav, um sich von dort einen besseren Überblick über die „Physik der Erde“ verschaffen zu können, Wulfen nimmt aus botanischem Interesse an den großangelegten Expeditionen zur Glockner-Erstbesteigung von Fürstbischof Salm von Reifferscheidt in den Jahren 1799 und 1800 teil.

Bergsport im Wandel der Zeit: Bürgerliche Skipartie im Zahmen Kaiser (um 1908); Wolfgang Güllich 1986 free solo in „Separate Reality“; Expeditionsteilnehmer um Paul Bauer (2. v. l.) im Basislager zum Siniolchu 1936; Rockmaster in Arco 2005 © Heimatverein Kufstein, Foto: Karg/H. Zak/ Archiv DAV

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Hüttenwirt auf Zeit Taugt die Berghütte als Schule fürs Leben? Ein Selbstversuch >> Georg Bayerle Zwei Urlaubswochen lang hat Georg Bayerle als ehrenamtlicher Hüttenwirt auf der Rauhekopfhütte in den Ötztaler Alpen gearbeitet und dabei elementare Erfahrungen gemacht, die er nicht missen möchte. Könnte ein Ähnliches auch im Alltag gelingen? Oder nur unter den „Laborbedingungen“ des Hochgebirges? Das ist die Frage, die ihn seither bewegt.

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Die Farbe des Himmels am Morgen, das Tropfen des Wassers, das erste Rascheln einer Person oben im Lager. Es ist morgens um sechs, der Hüttenwirtskamerad und die meisten Gäste schlafen noch, während ich zwei Scheit Holz in den Ofen schiebe, auf dem seit 20 Minuten der große Topf mit Wasser für den Kaffee steht. Ein paar Schritte hinaus zum Brunnen, hinein in jene grandiose Berglandschaft, die jeden Morgen wie am ersten Tag der Schöpfung vor mir liegt. Momente wie diese fügen sich zu einem Grundgefühl und ich merke, dass sich etwas wandelt. Innen wie außen. Morgen für Morgen macht sich diese Veränderung in mir selbst immer stärker bemerkbar, die sich zunächst unmerklich eingeschlichen hat, und dann werden diese Momente immer intensiver: Ich lebe ganz im Da-Sein.

Wie ein ­lebendiges Wesen Auf dem brüchigen Felskamm des Rauhekopfs am Westrand der Ötztaler Alpen steht auf 2731 Metern das 120 Jahre alte Schutzhaus wie auf einem Balkon, um den die schrundige Gletscherzunge des Gepatschferners fließt. Gut 100 Höhenmeter über der Hütte liegt das eigentliche Eisfeld dann in arktischer Ausdehnung mit den fernen Gipfelkuppen von Weißkugel, Vernagl und Hintereisspitzen. Die natürliche Komposition einer idealen Hochgebirgslandschaft, wie sie kaum schöner gemalt werden könnte. Und diese Landschaft – für die nächsten zwei Wochen meine nächste Umgebung – wird mir von Tag zu Tag gewohnter und vertrauter. Der Gletscher, der von der heißen Augustsonne gemolken wird, berührt mich fast wie ein lebendiges Wesen.

Für zwei Wochen „unsere“ Hütte: Georg und Christian im Urlaubsdienst auf der offenen Bühne für täglich wechselnde Wolken- und Gletscherschauspiele. © S. Maier/G. Bayerle

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Sommer wie Winter: Eine durchziehende Kaltfront brachte einzigartige Wolken­ stimmungen und einen Schneemann vors Haus.

© G. Bayerle

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21 Lagerplätze hat die Rauhekopfhütte, von unten ist sie nur über die zerklüftete Gletscherzunge erreichbar, und das ist nicht jedermanns Sache. Ein Schutzhaus dieser „Größe“ und Lage lässt sich nicht gewinnbringend bewirtschaften. Die Sektion Frankfurt hat sich deswegen ein anderes Modell ausgedacht: Die Hütte wird rein ehrenamtlich bewirtschaftet, im Zwei-Wochen-Rhythmus wechseln sich Freiwilligen-Duos als Wirte ab. Zu Saisonbeginn wird die Hütte einmal mit dem Hubschrauber versorgt. Der Frankfurter Hüttenwart Stefan Ernst macht das so liebevoll und gründlich, dass es den ganzen Sommer über nicht nur an nichts fehlt, sondern dass die ambitionierteren der Wirte auch wirklich eine ansprechende Verköstigung zustande bringen können. Von der Hausmannskost vom Odenwälder Metzger bis zum Bier vom Fass aus Tirol ist an alles gedacht. Die Wirte wiederum sind für den gesamten laufenden Betrieb verantwortlich, wie auf einer „richtigen“ Berghütte eben, arbeiten aber unentgeltlich. Und damit sind zwei der wesentlichen Punkte benannt, die das Ganze hier oben so besonders machen: die Liebe zur Sache in einer ganz praktischen und notwendigen Weise und der persönliche Einsatz, ohne dafür einen anderen Gewinn zu erwarten als die Erfahrung, welche die Begegnung mit Menschen und Landschaft ermöglicht. Was für eine Erfahrung! Einmal die Seiten wechseln, dieses eigentümliche Soziotop Berghütte von innen heraus erleben. Launen der Gäste, die wie Wolkengebilde in der Atmosphäre treiben.

Menschen, die tiefere Schichten offenbaren, wenn Hunger, Durst, Müdigkeit oder Euphorie ihre Wirkung zeigen. Im Reduzierten und Einfachen wieder da anzukommen, wo der Mensch eigentlich anfängt, wo vermutlich genetische Ur­instink­te zutage treten. Und wir, die ehrenamtlichen Hüttenwirte auf Zeit, bieten ihnen das Notwendigste, das in der menschenfeindlichen Umgebung gebraucht wird: Herberge, Essen, Trinken. Aber wie war das nochmal mit dem Kloputzen und Abspülen? Dem Kochen auf dem Holzofen? Und dem engen Kammerl, wo man kaum Kleider wechseln kann, ohne sich an irgendeiner Ecke anzustoßen? Vorneweg: Mit dem Abwasch gab es nie ein Problem, im Gegenteil: Wie bei einer guten Party wurde die Spülstunde in der überfüllten Küche regelmäßig zum besonderen Gemeinschaftserlebnis. Einmal kam eine Familie mit zwei jungen Mädchen herauf, für die es sowieso nichts Schöneres gab als mitzuhelfen; Lynn und Yuna blieben mit ihren Eltern sogar eine Nacht länger als geplant.

Wo das Ego kleiner wird Wir haben ein Hüttenbuch geführt, das am Ende zu einem Dokument menschlicher Begegnungen geworden ist. Mehr als 100 Gäste haben in dieser Zeit auf „unserer“ Hütte übernachtet, zu einigen besteht immer noch Kontakt. Wir schreiben uns von Touren, schicken Fotos oder mal einen Gruß. Mit manchen der Gäste war es viel mehr als eine flüchtige Begegnung.


Schon beim Weg auf diesen Berg passiert oft etwas, das den Menschen im Menschen freigibt. Wie bei der Zwiebel fällt Schale um Schale ab, die zivilisatorische Bitterkeit, bis der immer verletzlichere und weichere Kern herauskommt. Viele, die hier auf der Hütte ankommen, bringen neben dem eigentlichen Rucksack noch einen zweiten mit, den seelischen, an dem sie oft schwerer schleppen als an jenem mit den Steigeisen, Regenzeug und Handschuhen. Aber einmal angekommen, stellen sie ihn eine Zeit lang ab. Man hockt hier eng aufeinander – eine Zufallsgemeinschaft, die sich jeden Tag neu mischt –, aber jeder sieht, spürt, fühlt mehr als im „normalen“ Leben. Bergsteigen ist eben doch etwas ganz anderes als eine „Eroberung des Nutzlosen“. Denn jeder Weg am Berg ist immer auch ein Weg ins eigene Innere. Mit der äußeren Weite weitet sich die Seelenlandschaft. Beim Anstieg zur Rauhekopfhütte lässt sich der Ort sogar ziemlich genau bestimmen, wo dieses Fenster aufgeht: beim Weg über die immer noch mächtige Gletscherzunge des Gepatschferners, hart unter dem bizarren Gletscherbruch mit seinen absturzgefährdeten Séracs. Einer der Gäste, Betriebswirtschaftler bei einem Autokonzern, so um die vierzig, brachte es auf den Punkt: „Auf dem Gletscher, da wird das Ego kleiner.“ Und das tut gut. Denn diese Erfahrung rückt den Menschen zurecht in der Umwelt, in der er lebt. Es ist noch duster, als die Gruppe aus Freising mit verschlafenen Gesichtern in die alte, holzgetäfelte Stube kommt. Frühstück bei Kerzenschein. Es

ist das erste Frühstück und sie sind unsere ersten Gäste. Sie wollen zur Weißseespitze, dem bekannten Gletscherdreitausender und Hausberg, und nach der Rückkehr wünschen sie sich: einen Kaiserschmarrn. Wie ging das nochmal? An solche Extraschmankerln wollten wir uns eigentlich frühestens in der zweiten Woche wagen. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben. Am Ende ist das Trennen von 20 Eiern geglückt und dann: Gesten puren Glücks von den erfolgreichen Gipfelbesteigern. Man bekommt viel zurück. „Wir bewundern eure Begeisterung, Herzlichkeit und den Elan, mit denen ihr uns empfangen habt“, schreiben zwei Hamburgerinnen in unser Hüttenbuch. Es sind bleibende Erlebnisse für beide Seiten. Färben sie ab auf den Alltag? Auf unser Leben in der Stadt? Können diese menschlichen Grunderfahrungen, die sonst unter Fremden kaum irgendwo stattfinden, weiter wirken als in diesem besonderen Raum der Berghütte? Mich jedenfalls tragen sie weit über die zwei Wochen hinaus.

Der erste Kaiserschmarrn: Genießen die Gäste, freuen sich die Wirte. © S. Maier/G. Bayerle

Die Maßstäbe verrücken Am nächsten Tag ist Schnee gefallen, wir kehren die Solaranlage ab, damit der Strom nicht ausgeht. Eine Gruppe aus Gelsenkirchen will gleich drei Nächte lang auf der Hütte bleiben. Sie freuen sich über Kaffee und Kuchen, wenn sie nachmittags im Sauwetter von ihrem Gletscherkurs zurückkommen.

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Inklusion am Berg Outdoor-Erlebnisse trotz Behinderung – eine Ermutigung >> Karin Steinbach Tarnutzer Die Erlebnispädagogin Andrea Szabadi Heine, selbst querschnittsgelähmt, lebt auf beeindruckende Weise vor, in welchem Maß es möglich ist, trotz eines Handicaps Outdoor-Sportarten zu treiben. In Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Alpenverein setzt sie sich dafür ein, Natursporterlebnisse für Menschen mit einer Behinderung zugänglich zu machen.

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Wendig lenkt Andrea Szabadi Heine ihren Rollstuhl von der Küche zum Esstisch und serviert Kaffee. Die Wohnung ist barrierefrei umgebaut: Ein Treppenlift führt ins Dachgeschoß, die Türstöcke sind breiter als gewöhnlich, Bad und WC großräumig bemessen. Gerahmte Fotos an den Wänden erinnern an Touren in den Alpen und in Südamerika. Die in der Dachschräge angeordneten bunten Klettergriffe lassen auf den Trainingseifer von Andreas Mann Martin Heine schließen. Für sie selbst ist das, zumindest ein Stück weit, Vergangenheit. Wenn sie von dem Unfall erzählt, der ihr Leben von Grund auf veränderte, ist ihrer Stimme kein Bedauern anzumerken. Schon lange hat sie die neue Situation akzeptiert, vor der sie damals stand – auch wenn sie, wie sie zugibt, im ersten Moment gedacht habe, lieber sterben zu wollen als ihr Leben im Rollstuhl zu verbringen. Doch Flexibilität und positives Denken seien ihre Stärken, sagt sie mit einem Lächeln. Seit sie nach der Operation aus der Narkose aufgewacht sei, sei dieser Gedanke nie mehr aufgetaucht.

Schicksal oder einfach Pech Es war nur ein Spiel, ein Zeitvertreib. Sie nutzte die Pause eines Lehrgangs, den sie als Outdoor-Trainerin leitete, um mit einer Kollegin eine sogenannte Doppelrolle zu machen – zwei Partner halten sich gegenseitig an den Fesseln und rollen, ähnlich wie bei einem Purzelbaum, gemeinsam den Berg hinunter. Die beiden wurden zu schnell, lösten sich voneinander, Szabadi Heine kam in die Streckung, schlug mit dem Kopf auf und knallte mit dem Rücken auf den Boden. Drei Wirbel bra-

chen, die Trümmer des einen bohrten sich ins Rückenmark. „Mir war gleich klar, dass etwas Schlimmes passiert war, weil ich meine Beine nicht mehr spürte“, erzählt sie. „Im Rollstuhl zu landen, das war eine Horror-Vorstellung für mich.“ 19 Jahre ist ihr Unfall nun her. Davor war die Baden-Württembergerin aus Schwäbisch Hall eine begeisterte Bergsportlerin gewesen, hatte schwierige Kletterrouten gemeistert und in den Anden Sechstausender bestiegen. Zum OutdoorSport war die Sozialpädagogin über die Erlebnispädagogik gekommen. Während eines einjährigen Praktikums in Berchtesgaden stieg sie ernsthafter ins Klettern und ins Skitourengehen ein. Nach dem Abschluss ihres Studiums gründete sie 1994 gemeinsam mit ihrem späteren Mann und zwei Kollegen eine eigene Firma, die erlebnispädagogische Seminare und Outdoor-Events zur Team­entwicklung anbot. Bewegung stand in ihrem Leben im Mittelpunkt – und plötzlich war das unmöglich geworden. Querschnittslähmung ab dem sechsten Brustwirbel lautete die Diagnose. Die Ärzte bestätigten ihr, dass keine Beweglichkeit zurückkommen werde. Sie hatten nicht mit dem Kampfgeist der jungen Frau gerechnet. Die damals 31-Jährige trainierte von morgens bis abends, um in den entscheidenden ersten sechs Wochen, der spinalen Schockphase, mögliche Restfunktionen auszubauen. Tatsächlich schleppte sie sich, auf zwei Krücken gestützt, nach sechs Monaten auf ihren eigenen Beinen aus der Klinik. Auch die folgenden Jahre waren von Therapie und Training bestimmt. Einen gewissen Bewegungsradius konnte sie sich

Ob mit ihrem Elektro-Mountainbike über dem Lago di Lugano (linke Seite), mit dem „Team Insieme“ beim Paddeln in Südschweden oder auf ihrem Mono-Ski im kanadischen Skigebiet Revelstoke: Andrea Szabadi Heine lebt die Vielfalt des Outdoor-Sports. © J. Stekelenburg/S. Nichtitz

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Lange stellte sie sich die Frage, warum dieser Unfall ausgerechnet ihr passiert sei. Um schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sie einfach Pech hatte: Ihre Schutzengel seien gerade woanders unterwegs gewesen.

Andrea Szabadi Heine ist nicht nur selbst sportlich aktiv, sie setzt sich auch dafür ein, Barrieren für Menschen mit einer Behinderung zu reduzieren und Vielfalt und Heterogenität als Bereicherung zu erkennen.

Teilhabe am Bergsport

© K. Steinbach Tarnutzer

erarbeiten, aber sie musste auch einsehen, dass sie ihren Körper auf Dauer überforderte, etwa wenn sie sich in der Skitourenausrüstung mehrere Runden ums Haus schleppte. Schließlich freundete sie sich doch mit dem Rollstuhl an, der ihr vieles erleichterte. „Anfangs sah ich ihn als Stigma an“, erinnert sie sich, „ich wollte, zum Beispiel wenn ich Seminare hielt, mich nicht im Rollstuhl vor anderen Menschen zeigen.“ Die Fortsetzung ihrer Arbeit für die heute noch bestehende Beratungs- und Coaching-Firma Roots in Isny war damals ein entscheidender Faktor, um wieder Lebensmut zu gewinnen. Einige Kunden bestärkten Andrea Szabadi Heine darin, unbedingt weiterzumachen, und im Seminarbereich ging das leichter als bei Team-Unternehmungen in der freien Natur. Trotzdem war die Umstellung ein langer Weg. In Krisensituationen halfen ihr manches Mal Bilder und Erfahrungen, die sie vom Bergsteigen gespeichert hatte: „Wenn man denkt, man kann eigentlich nicht mehr, und man läuft trotzdem weiter und steht dann doch irgendwann am Gipfel.“ Und sie traute sich etwas, beispielsweise ein paar freie Schritte auf ihren Beinen zu gehen, immer mit der Angst zu stürzen. „Das kannte ich, dieses Gefühl. Das war genauso, wie 10 Meter über einem Haken zu stehen und weiterklettern zu müssen. Diese Erfahrungsmuster konnte ich nutzen.“

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Andrea Szabadi Heine lebt mit ihrem Mann im Allgäu, mit Blick auf die nahen Alpen. In die Berge zieht es sie fast so oft wie früher. Nur dass sie jetzt anders unterwegs ist: im Sommer mit dem Rollstuhl, dem Hand-Bike oder dem Elektro-Mountainbike, im Winter auf einem speziellen MonoSki, auf dem sie sitzen kann. Seit 2006 unterrichtet sie als ausgebildete Instruktorin für BehindertenSkisport. Sie klettert noch immer mit Leidenschaft; in großgriffigen, leicht überhängenden Routen, in denen sie die Füße gegen den Fels stellen kann, schafft sie, am straffen Seil gesichert, den unteren sechsten Grad. Reibungsplatten allerdings, auf denen man präzise stehen muss, sind für sie unüberwindbar. Außerdem hat sie sich das Wasser erobert, Wasserski und Kajak fuhr sie zeitweise auf Wettkampfebene. Am Paddeln schätzt sie, dass sie kein Spezialgerät braucht und sich am Urlaubsort einfach ein Kajak oder einen Kanadier ausleihen kann. Was sie allerdings erst lernen musste, war, Hilfe annehmen zu können. Außer beim Radfahren ist sie auf Unterstützung angewiesen. „Manche ertragen es nicht, dass sie jemanden brauchen, der ihnen das Boot vom Autodach holt oder den schweren Mono-Ski an die Piste trägt. Sie treiben dann lieber Hallensport wie Rollstuhl-Basketball, bei dem sie in der Regel selbstständig sein können.“ Viele Betroffene wüssten gar nicht, was mit einer Behinderung alles noch möglich sei und welche Geräte es für ihre speziellen Bedürfnisse gebe. Spezialanfertigungen seien zwar teuer, aber es gebe auch einen Gebrauchtmarkt. Wenn Andrea Szabadi Heine beschreibt, wie wichtig solche Kompetenzerlebnisse in der Natur gerade für Menschen mit Behinderungen sind, spricht die Erlebnispädagogin aus ihr: „Sich überwinden, einmal raus aus dem Rollstuhl gehen – wenn sie die Erfahrung machen, dass sie mehr können, stärken sie sich und entwickeln ihre Persönlichkeit.“ Die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit einem Handi-


Das „Team Inklusive Transalp“ traf sich erstmals im Mai 2018, um sich kennen­ zulernen und als Gruppe zusammenzuwachsen. Neben Andrea Szabadi Heine leiten Melissa Presslaber – Skiführerin, Bikeguide und Freeriderin – und der Bike-begeisterte Berg- und Skiführer Markus Emprechtinger das Projekt. © M. Presslaber

cap ist ihr ein großes Anliegen. Dabei legt sie Wert darauf, zwischen Integration und Inklusion zu unterscheiden. Während Integration bedeutet, Einzelne in die Masse – also in die Norm – einzufügen, geht Inklusion noch ein Stück weiter, indem sie die Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre vielfältigen Voraussetzungen und Bedürfnisse respektiert. Seit mehreren Jahren leitet die 50-Jährige Lehrgänge in inklusiver Jugendarbeit, überwiegend für den Österreichischen Alpenverein. Ebenfalls für den ÖAV betreute sie das inklusive Projekt „Team Insieme“: Über einen Zeitraum von zwei Jahren erarbeitete eine Gruppe aus 14 Männern und Frauen gemeinsam eine Reise an ein selbst gewähltes Ziel. 2016 brach das Team – sieben Teilnehmer mit einer Behinderung, sieben ohne – schließlich für zwei Wochen zum Paddeln nach Südschweden auf. „Inklusion würde in meinen Augen bedeuten, nicht mehr sagen zu müssen, ob Menschen mit oder ohne Behinderung dabei sind, sondern dass es selbstverständlich ist, dass 14 unterschiedlichste Menschen miteinander unterwegs sind“, umreißt Andrea Szabadi Heine das Fernziel.

Inklusive Projekte des ÖAV Momentan steckt sie in der Vorbereitungsphase für ein zweites Projekt des Österreichischen Alpenvereins. Mit der neuen Gruppe „Team Inklusive Transalp“ bereitet sie eine Alpenüberquerung vor, die mit Rollstühlen, motorisierten Hand-Bikes und

normalen Mountainbikes durchgeführt werden wird. Das Ziel sei, dass jeder seine Stärken einbringen könne und daraus das Bestmögliche entstehe. Neben der sportlichen Herausforderung sei die Organisation nicht zu unterschätzen, müssten doch die Übernachtungsorte jeweils barrierefrei sein und über behindertengerechte Toiletten verfügen. Über die Medien des Österreichischen und Deutschen Alpenvereins wurden Interessenten gesucht, die motiviert waren, in der Natur Herausforderungen zu erleben und eine solche Unternehmung zu gestalten. Inzwischen steht das Team aus wiederum 14 Teilnehmern, das erste Vorbereitungstreffen hat stattgefunden. Die Transalp wird 2019 realisiert werden – wo das Team letztendlich die Alpen überquert, entscheidet sich Ende August beim zweiten Treffen in Steinach am Brenner. Auf jeden Fall soll es eine Strecke sein, die möglichst wenig über Asphaltstraßen führt. Beide Projekte sind für Andrea Szabadi Heine „Leuchtturm-Beispiele“ für gelungene Inklusion. Teambildende Unternehmungen im Vorfeld wie der Bau eines Floßes oder eine gemeinsame Biwak­nacht unter dem Sternenhimmel gäben den Teilnehmern Impulse und ermöglichten Erlebnisse, von denen sie teilweise noch jahrelang zehrten. Begeistert ist sie von der Unterstützung durch den Österreichischen Alpenverein, sei es in finanzieller oder in ideeller Hinsicht. „Beim ÖAV spürt man, dass der Einsatz für die Inklusion eine Her-

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Sport oder Steigen? Ist Bergsteigen Sport? Oder mehr? Gedanken zu einem Dauer-Konfliktthema, im Licht des DAV-Grundsatzprogramms Bergsport und mit Blick auf Olympia >> Andi Dick

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Eigentlich ist alles schon längst gesagt: „Ich schicke voraus, dass das Bergsteigen nach meiner Ansicht ein echter Sport ist. … Ich sehe nicht ein, warum und wo man das Bergsteigen anders einordnen sollte. Das Spiel ist gewonnen, sobald man den Gipfel erreichte. Wer vorher umkehren muss, hat verloren.“ So Sir Leslie Stephen (1832–1904), Mitgründer und Präsident des britischen Alpine Club, Erstbesteiger unter anderem von Schreckhorn, Bietschhorn und Zinalrothorn in den 1860erJahren und bedeutender Alpinhistoriker. Eine Instanz sozusagen. Wozu also streiten? „Bergsport ist mehr als Sport“ hört man stattdessen noch heute oft. Und vor allem: „Bergsteigen ist der Kern des Alpenvereins, nicht Bergsport!“ In den letzten Jahren haben sich um diese Thesen immer wieder Diskussionen entzündet: bei der Neuformulierung des DAV-Leitbilds etwa und bei der Arbeit am „Grundsatzprogramm Bergsport“, das von der Hauptversammlung 2016 verabschiedet wurde. Ein langwieriger Prozess, bei dem viele Bergsteiger und Kletterer mitdiskutierten und Vertreter unterschiedlicher Sektionen – unter anderem auch um die Gewichtung des Begriffs „Bergsteigen“ gegenüber „Bergsport“.

Was steht hinter den Begriffen? Dabei mag es zuerst einmal um den Versuch gehen, ein schwammiges Kontinuum diverser steiler Aktivitäten durch Begriffe klar zu differenzieren. So findet die Kerndisziplin Klettern heute nicht mehr nur am Fels statt, sondern auch im steilen Eis, in gefrorenem Gras, aber auch an Brücken (Buildering), Gebäuden (Parcours) und natürlich an künstlichen Kletteranlagen. Kann man Klettern dann noch als „Berg“-Sport bezeichnen? Vielleicht, wenn man argumentiert wie das neue Grundsatzprogramm: „Auch künstlich angelegte Strukturen wie zum Beispiel Kletteranlagen können in einem metaphorischen Verständnis als Berge bezeichnet werden.“ (Wozu ein Freund, Kletterpionier und Alpinhistoriker treffend anmerkte, dann könne man einen Penis auch metaphorisch als Vagina bezeichnen, weil sie ähnlichen Zwecken dienten.) Schwierig ist es mit Begriffen. Einerseits ist die Argumentation des Grundsatzprogramms durchaus nachvollziehbar: „Mit diesem modernen Begriff [Bergsport; Anm.] lässt sich heute die Vielfalt des Sport- und Bewegungsverhaltens in den Ber-

gen beziehungsweise die Vielfalt der Bewegungsformen, die sich aus dem Bergsteigen entwickelt haben, deutlich besser erfassen.“ Und: „Das Bergsteigen ist als eigenständige Disziplin bestehen geblieben – unter dem Dach des Bergsports.“ So gesehen, ist Bergsport alles, was irgendwie aufwärts strebt. (Oder auch abwärts, wie Kajakfahren, Gleitschirmfliegen und Downhill-MTB?) Das Bergsteigen wäre dann eine Spezialität, die in alpinem Gelände gehobenen Anspruchs stattfindet, zum Beispiel jenseits markierter Wanderwege. Mit einer weiteren Unterdisziplin, dem Alpinismus, der für das Bergsteigen an großen Gipfeln steht, bis hin zu den Bergen der Welt: „super alpinism“ nennen das die Engländer. Genauso gut kann man die Begriffe aber von einer anderen Seite aufdröseln. So steht sogar noch im aktuellen DAV-Leitbild der Satz: „Die Kernaktivitäten des DAV sind Bergsport, Bergsteigen und Alpinismus.“ Dabei wird Alpinismus definiert als: „sämtliche Aktivitäten, die im Zusammenhang mit dem Besteigen, Erleben, Erkunden, Darstellen und Bewahren der Berge und Bergregionen stehen“. Bergsteigen wäre dann – neben beispielsweise Höhenmedizin, Kartografie oder Naturschutz – eine Unterdisziplin des Alpinismus; eine, bei der es ums konkrete Tun geht. Und von Bergsport könnte man reden, wenn man das Bergsteigen mit primär sportlichen Ambitionen betreibt, mag heißen tendenziell leistungsorientiert – ob man an einem Wettkampf teilnimmt oder die persönliche Bestzeit am Hausberg verbessern will. Oder wenn man, wie die vielen neuen Boulderhallen-Kunden, das komplexe Bewegungsvergnügen vor allem als coole Alternative zum Fitness-Studio betrachtet.

Alles nur ein Kampf um Wörter? Also was denn nun? Sind Bergsport und Bergsteigen vielleicht ein untrennbares Paar? Ein Dualismus – wie der Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik: Erst die Messung, der Blick des Beobachters, entscheidet darüber, ob man atomare Vorgänge als Wellenphänomen oder als Interaktion zwischen Teilchen wahrnimmt. Und nur der Kontext eines Gesprächs bestimmt, ob Bergsteigen als eine Disziplin in der Vielfalt des Bergsports gesehen wird oder ob eine Bergsteigerin ihre Aktivitäten als Sport betrachtet. Schafft viel-

An der „Gelben Kante“ der Kleinen Zinne. Natürlich ist diese Kletterei Sport. Aber als alpiner Klassiker offeriert die Route Gefahren und Emotionen, wie man sie in gebräuch­lichen Sport­arten selten findet. © A. Dick

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Der Schnee und das Pulver Zehn Stationen der Wintersportindustrie >> Axel Klemmer Ist Schnee eine Droge, die süchtig macht? Oder ist er nur der Rohstoff für den industrialisierten Wintertourismus? Egal, es geht um Geld – um sehr viel Geld. Denn ohne die Whiteware stürzt in den Alpentälern der Wohlstand ab.

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1 Messe (Innsbruck) Hinter Kufstein füllt sich der Zug. Gruppen von Männern steigen ein. Fahren sie zu einem Fußball­ turnier? Sie tragen die Jacken ihrer Teams, ver­ schiedene Farben, verschiedene Namen: Skiwelt Wilder Kaiser, Bergbahn Westendorf, Skijuwel Alp­ bachtal Wildschönau. In Jenbach steigen die Zil­ lertaler zu. Natürlich sind die Männer nicht zum Fußball unterwegs, sondern zur Interalpin. Die „Messe für alpine Technologien“ in Innsbruck ist der größte und wichtigste Treff der Seilbahnbran­ che weltweit. Hier werden alle zwei Jahre die mo­ dernsten Beschneiungsanlagen gezeigt, High­ tech-Seilbahnen und -Lifte, elektronische Steue­ rungen und Zugangssysteme, Pistenraupen. Gleich am Eingang wirbt ein kleiner Stand für „Snow how“. Eine weiß bepuderte Plastikpalme steht auf dem Boden. Das Unternehmen, dem der Stand gehört, ist aus Finnland und garantiert ge­ nau das: Schnee, der auf Palmen fällt – zu jeder Jahreszeit, bei jeder Temperatur. Ein paar Besu­ cher bleiben stehen, die meisten gehen weiter zu den großen und kleinen Geräten, die ihnen die Furcht nehmen sollen vor den größten Global Playern der Szene, dem Klima und der Atmosphä­ re, die zwar keinen Messestand haben, doch über­ all präsent sind. Die Interalpin ist eine Männerwelt: Männer mit Biergläsern in der Hand; Männer mit Beuteln von Kässbohrer und TechnoAlpin, in denen Mützen, kleine Pistenraupen und Schneekanonen liegen (für die Kinder zu Hause); Männer in konzentrier­ ter Betrachtung der schweren Maschinen, die Be­ wegungen ausführen und Lärm machen, wenn

man auf Knöpfe drückt. Maschinen haben ein de­ finiertes Leistungsprofil und einen genauen Preis, die in die Gesamtkalkulation einfließen und die Ware Schnee so berechenbar wie möglich ma­ chen. Männer mögen Maschinen. Sitzt man im Cockpit so einer Hightech-Pistenraupe, fühlt man sich unbesiegbar und verdrängt schnell den Ge­ danken, dass diese tollen Dinger wohl bald auto­ matisch fahren werden wie jetzt schon manche Traktoren und Erntemaschinen auf den Feldern der Neuen Welt.

2 Kristalle (Atmosphäre) Ursprünglich, oder sagen wir: naturgemäß, ist Schnee eine Freeware und allen frei zugänglich. Schnee entsteht in der Atmosphäre, in der analo­ gen Cloud sozusagen, wo feinste Tröpfchen an sogenannten Kristallisationskeimen anlagern und gefrieren. So bilden sich zuerst Eiskristalle, die langsam an Masse gewinnen, der Schwerkraft fol­ gend nach unten sinken, dabei weiter wachsen und schließlich die hübschen sechseckigen For­ men annehmen. Dummerweise hat die Atmosphäre ihre Bugs. Sie ist nicht zuverlässig, was während der Saison zu Abstürzen führen kann. Weil sich aber die hochtourige, hypervernetzte Schneesporttouris­ musmaschine keine Leerzeiten erlauben darf, muss die Freeware kapitalisiert werden: Schnee wird zur Whiteware und kostet nun Geld – dafür hat man seine Produktion im Griff. Ideal für die technische Beschneiung sind kalte, trockene Ver­ hältnisse. Chemische Hilfsmittel brauche es dabei nicht, erklärt der Fachverband Seilbahnen in der

Gender-Schutzgebiet Interalpin: In den Hallen der Innsbrucker Messe beraten Schnee-Männer über ihre nächsten Investitionen. @ Alle Fotos, soweit nicht anders angegeben, A. Klemmer

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Die Interalpin liefert nicht nur Schneeflocken, sondern auch Wortblasen und Luftschlösser. Der „schlaue Schnee“ auf dem Watzmann ist aber Fake News.

Wirtschaftskammer Österreich WKO. Wie in der Natur werde das Wasser lediglich in einen ande­ ren Aggregatzustand überführt, weshalb es auch falsch sei, Kunstschnee zu sagen. Richtig sei tech­ nischer Schnee. Allerdings braucht auch technischer Schnee, damit seine Produktion nicht zu teuer wird, tiefe Temperaturen. Ob es die in Zukunft noch gibt?

3 Wissenschaft (Lech, Wien) Den einen gilt Schnee, natürlich oder technisch, als Auslaufmodell. Die anderen setzen weiter auf ihn, weil sie keine Alternativen finden. Es ist ein bisschen so wie mit dem Dieselmotor.

zu den seit nunmehr etwa 25 Jahre andauernden, zum Teil „absurden“ Diskussionen über ein baldi­ ges Ende des Wintersports: „Fakten und veröffent­ lichte Meinung driften in erschreckendem Maße auseinander.“ Günter Aigner ist freischaffender „Skitouris­ mus-Forscher“ aus Kitzbühel, seine Homepage verzeichnet als Referenzen die Skigebiete Kitzbü­ hel und Zell am See – Kaprun sowie das weltweit führende Seilbahnunternehmen Doppelmayr. Den Vortrag in Lech beschließt er mit folgenden Worten: „Es ergeben sich aus der statistischen Auswertung der amtlichen Messdaten keinerlei Indizien, dass der Skisport am westlichen Arlberg

„Kaum eine Sportart ist so eng mit der Natur verbunden wie der Wintersport.“

TechnoAlpin, Beschneiungsanlagen

Am 1. Februar 2018 hielt Günter Aigner in der Postgarage Lech einen Vortrag, den man auf You­ tube anschauen kann. Er heißt „Lech-Zürs: Eine Analyse historischer Temperatur- und Schnee­ messreihen“. Der Redner bilanziert, dass der Kli­ mawandel den Wintersport am Arlberg bisweilen nicht einmal im Ansatz bedrohe – im Gegensatz

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einem baldigen, klimatologisch bedingten Ende entgegengehen könnte. Das Schüren diesbezüg­ licher diffuser Ängste ist unwissenschaftlich, un­ seriös und – aus volkswirtschaftlicher Perspektive betrachtet – geschäftsschädigend.“ Die Wirtschaftskammer Österreich WKO („Wir vertreten die Interessen der österreichischen Un­


ternehmen“) zitiert in offiziellen Presseaussen­ dungen des Fachverbands Seilbahnen die „wis­ senschaftliche“ Arbeit von Günter Aigner, nicht aber die Untersuchungen der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik ZAMG in Wien, auf die Aigner sich beruft. Dr. Marc Olefs leitet die Klimaforschung bei der ZAMG. Er sagt: „Die Zahlen, die Günter Aigner nennt, sind nicht falsch. Das Problem ist die ­unvollständige Betrachtung der Faktenlage, die dadurch in eine Richtung stark subjektiviert wird.“ Das Missverständnis löse sich auf, wenn man die verschiedenen Zeitskalen und Wirkungszeiten ­betrachte. Ende 2017 veröffentlichte die ZAMG die Ergebnisse ihres SNOWPAT-Programms. Da­ nach ! l iegen die Wintertemperaturen in Österreich in den letzten Jahren auf dem höchsten Niveau der rund 250-jährigen Messgeschichte. ! s ind seit den 1930er-Jahren die Winter im Durch­ schnitt um etwa 0,25 Grad pro Jahrzehnt wär­ mer geworden. !w ird der deutliche langfristige Temperaturan­ stieg an allen Messstationen von markanten Schwankungen überlagert, zum Beispiel auch von Temperaturrückgängen für Zeiträume von 20 bis 30 Jahren – Aigners Zeithorizont. !g eht langfristig die Zahl der Tage mit Schneede­ cke in allen Höhenlagen sowie die Schneehöhe in allen Höhenlagen zurück (Ausnahme Nord­ ostösterreich).

! l assen regionale Klimamodelle zukünftig eine weitere Erwärmung im Winter und weniger Schnee erwarten. Eine allgemeine Aussage für den Skitourismus der nächsten Jahre lasse sich aus den Untersu­ chungen nicht ableiten, sagt Olefs. Anders als Aig­ ner überzeugt er mit solchen Aussagen kein Pub­ likum, das in Investitions- und Abschreibungszeit­ räumen denkt. Oder einfach nur bis zur nächsten Saison. Der Vorwurf der Fake Science wendet sich gegen die seriöse Wissenschaft, die einer weiteren „Emotionalisierung“ keinen Vorschub leisten will und sich öffentlich zurückhält. Es ist ein Muster unserer Zeit.

Kapitale Bergwelt: Im Hochgebirge arbeitet eine Menge Geld – im Seilbahnrevier von Ischgl (links) ebenso wie hoch oben auf dem Rettenbachferner (rechts). © Tirol Werbung, Foto: M. Jarisch (links)

4 Kapital (Wien, Ischgl) „Technische Beschneiung stellt die Basis für einen gesicherten Wintertourismus dar!“ Die WKO bringt es auf den Punkt – und setzt am Ende ein Ausrufezeichen. Wie sieht er aber aus, der gesi­ cherte Wintertourismus, und was bringt er den Menschen? Hier also, es muss sein, einige Zahlen der WKO: Es gibt in Österreich 253 Seilbahnunterneh­ men und rund 550 Schlepplift-Unternehmun­ gen mit insgesamt über 1105 Seilbahnanlagen und etwa 1840 Schleppliften. Und es gibt im Land zusammengerechnet knapp 24.000 Hektar Pistenflächen, die zu rund 70 Prozent technisch beschneibar sind, wofür mehr als 420 Speicherbe­ cken zur Verfügung stehen.

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