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Thema > Bildung

Juni 2016

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Foto: Benjamin Hofer

ganzOHR

> 70 Jahre Schweizerischer Gehörlosenbund > Ohne Bildung keine gerechten Chancen > «Hear My Story»: Interview mit Lehrerin Isabelle Cicala


Thema > Bildung

> Editorial

«Gerechte Chancen sind d

Was es in der Familie, in der Schule, in der Aus- und Berufsbildung Roland Hermann Präsident Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

> Kommunikation und Wissen sind entscheidende Werte und Herausfor-

Liebe Spenderin, lieber Spender Gerechte Chancen sind ohne Bildung nicht zu haben. Für gehörlose und schwerhörige Menschen ist der Weg aber immer noch viel zu oft und zu systematisch mit Hindernissen verbunden. Barrieren abzubauen ist deshalb eines unserer zentralen Anliegen. Verrückt ist, dass wir sogar immer noch darum kämpfen müssen, dass Gehörlose die Rechte ausüben und durchsetzen können, die ihnen zustehen! Unser Engagement ist deshalb nicht nur für den Alltag der gehörlosen Menschen, sondern auch politisch enorm wichtig. Und ohne Sie und Ihre Beiträge und Spenden kämen wir nicht weiter. In dieser Ausgabe geht es um Bildung. Wir zeigen Ihnen auf, was frühe Förderung, bilinguale Erziehung, Ausbildung und der Weg zu höherer Bildung für gehörlose Menschen bedeutet. Wir geben Ihnen einen Einblick in unsere Angebote, die wir zum Teil mit Ihren Beiträgen finanzieren und unterstützen. Und wir erzählen Ihnen auch von gehörlosen Menschen, die etwas erreicht haben – wie die Lehrerin Isabelle Cicala und die Verlagsleiterin Marina Ribeaud. Danke für Ihre Unterstützung!

Roland Hermann (gehörlos)

derungen für alle. Ganz besonders gefordert sind gehörlose und hörbehinderte Menschen. Damit sie mithalten können, brauchen sie aber gleiche Chancen, von Anfang an. Gute Bildung, lebenslanges Lernen und Bilingualität von Anfang an: Das sind die zentralen Anliegen, für die sich der Schweizerische Gehörlosenbund SGBFSS einsetzt. Bilingualität ist gewissermas­ sen matchentscheidend für das spätere Leben und bedeutet: Gehörlose Kinder erwerben gleichzeitig und gleichwertig die Gebärdensprache sowie auch gesprochene und schriftliche Sprache. So sind sie mit beiden Kulturen verbunden und können auf Augenhöhe an der Gesellschaft teilhaben. Dadurch werden sie gestärkt und ermächtigt, in der Schule und später im Berufsleben ihre Talente und Möglichkeiten auszuschöpfen. Der frühe Zugang zur Gebärdensprache hilft ihnen, besser zu lernen und zu verstehen.

Heimkurse für Familien in Gebärdensprache: Sie sin auch, wenn ein Kind mit Hörbehinderung in eine hör

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GebärdensprachHeimkurse für Familien

«Eine Familie, mehrere Sprachen»: Das ist der Leitgedanke der Heimkurse für Familien. Das Angebot richtet sich an Kinder mit

Der Gehörlosenbund muss allerdings immer wieder darum kämpfen, dass gehörlose Kinder die Rechte, die ihnen zustehen, auch durchsetzen können. Oder dass im späteren Berufsleben die Arbeitsumgebung ihren Bedürfnissen angepasst wird. Es ist deshalb entscheidend, die Arbeitgeber zu informieren und zu sensibilisieren. Was sie nicht wissen: Oft braucht es nur kleine Anpassungen, damit hörbehinderte Menschen ihre Fähigkeiten voll einbringen können, und die Kosten dafür werden übernommen.

einer Hörbehinderung und ihre Familien. Die gehörlosen Gebärdensprachausbildenden unterrichten die ganze Familie in ihrer gewohnten Umgebung. Der Unterricht ist ans Alter des betroffenen Kindes angepasst. Mit der Gebärdensprache soll die Kommunikation in der Familie mit unterschiedlichem Hörstatus gefördert und verbessert werden. Das hörbehinderte Kind lernt von Anfang die Gebärden- und die gesprochene Sprache. Diese frühe bilinguale Förderung bereitet es gut auf die späteren Jahre vor.


das A und O für Gehörlose» Foto: Andreas Schwaiger

g und später in der Weiterbildung braucht

nd sehr stark gefragt und enorm wichtig, gerade rende Familie hineingeboren wird.

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Kinderlager Kindersamstage

Die Kinderlager sind für gehörlose Kinder,

Rechtsdienst Immer noch müssen gehörlose und hörbehinderte Menschen darum kämpfen, dass ihre Rechte gewahrt oder umgesetzt werden. Dies betrifft insbesondere auch die Bereiche Bildung, Ausbildung und Weiterbildung. Bei der Bildung beispielsweise geht es um bilinguale Frühförderung, integrative Schulung oder Aspekte der Mitwirkung von gehörlosen Eltern mit hörenden Kindern in der Schule. Der Rechtsdienst des Schweizerischen Gehörlosenbundes berät Menschen mit einer Hörbehinderung in juristischen Fragen und kämpft für sie und mit ihnen. Die Nachfrage ist riesig. Allein im Jahr 2015 war der Rechtsdienst in insgesamt rund 180 Fällen aktiv.

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Bilingualer Unterricht in der Schule

Der bilinguale Unterricht für gehörlose

Kinderlager für gehörlose oder schwerhörige Kinde sondern auch fürs Lernen in Gebärdensprache wertv

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Ausbildung Berufsbildung

In der Aus- und Berufsbildung gibt es noch

ihre Geschwister und ihre Familien enorm

Kinder ist ein Erfolg, aber noch nicht im

viel zu tun. Eltern müssen oft schon sehr

wichtig. Sie gehören zu den Höhepunkten

Bildungssystem verankert. Es bräuchte

früh darum kämpfen, dass ihre Kinder

des Jahres. Die gehörlosen Kinder sind in

ein nationales bilinguales Bildungskon-

Beiträge für den Einsatz von Gebärden-

den Kinderlagern unter ihresgleichen. Sie

zept, damit gehörlose Kinder Lerninhalte

dolmetschenden bekommen. Das ist bei-

sind für einmal nicht die Aussenseiter, son-

in Gebärdensprache vermittelt erhalten

spielsweise dann wichtig, wenn die Kinder

dern sie gehören dazu und alle kommu-

und gleichzeitig auch die Laut- und Schrift-

oder Jugendlichen eine Prüfung ablegen

nizieren miteinander in Gebärdensprache.

sprache lernen. Das würde ihre Chancen

müssen. Für gehörlose Lehrlinge ist es

Spielend verbessern sie so ihre Möglich-

markant verbessern. In Zürich beispiels-

schwierig, sich in einer hörenden Um-

keiten beim Kommunizieren und beim Ler-

weise wird in der Sek3 bilingualer Unter-

welt durchzusetzen. Gehörlosengerechte

nen. Die Kinderlager finden sowohl für die

richt in Kleinklassen angeboten, in der Ro-

Ausbildungs- und Lernplätze sowie aus-

Romandie als auch für die Deutschschweiz

mandie hat das Inklusions-Projekt «Coffre

reichende Mittel sind notwendig. Berufs-

statt. Im Tessin gibt es eine kürzere Vari-

à histoires» Erfolg, das sich an gehörlo-

schulen für Gehörlose und Hörgeschädigte

ante. In der Deutschschweiz ergänzen die

se Unterstufenkinder und ihre hörenden

gibt es, aber auch dort ist Unterricht in

Kindersamstage zu einem Jahresthema

Klassengspänli richtet.

Gebärdensprache nicht vollständig ge-

das Lern- und Freizeitangebot.

währleistet.


Fotos: Benjamin Hofer

> Gebärden Die Gebärdensprache fasziniert. Und das Gebärdenlexikon ist auch für Hörende eine Fundgrube für Entdeckungen. Die Begriffe werden in einem Video erklärt, dazu schriftlich definiert und mit einem Beispiel ergänzt. Für einige steht eine Illustration zur Verfügung. Interessant ist, wie zwei lautsprachlich ähnliche Wörter durch verschiedene Gebärden ausgedrückt werden.

er und ihre Geschwister sind nicht nur ein wichtiges soziales Freizeitangebot, voll.

«kennenlernen»

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Arbeit und Weiterbildung Kurse und Seminare

Sowohl in der Deutschschweiz als auch in

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Wochenend-Intensivkurs für Familien

Angebote für Familien sind enorm wichtig.

der Romandie wird seit 2015 das Bildungs-

Egal, ob ein gehörloses oder schwerhöri-

seminar für Gehörlose angeboten, das vor

ges Kind in einer hörenden Familie auf-

allem Kommunikations- und Selbstma-

wächst, ob in einer Familie alle gehörlos

nagementfähigkeiten verbessern will. Zu

sind oder in einer gehörlosen Familie ein

oft ist es für Gehörlose schwierig, Wei-

Kind hörend ist. In der Romandie veran-

terbildungen zu absolvieren, dafür Gebär-

staltet das «forum famille» zweimal im

densprachdolmetscher zu finden und zu

Jahr ein Wochenende für Familien mit ge-

finanzieren. Für ihre Chancen auf dem Ar-

hörlosen Kindern. Es geht um Erfahrungs-

beitsmarkt sind gezielte Weiterbildungen

austausch, aktuelle Fragen und die Gele-

aber notwendig – ebenso die Information

genheit, Gebärdensprache zu praktizieren.

und Sensibilisierung der Arbeitgeber. Denn

In der Deutschschweiz werden Wochen-

die Gehörlosen sagen: «Wir können alles,

end-Intensivkurse in Gebärdensprache für

ausser hören.»

hörende Eltern und Angehörige angeboten. Gleichzeitig finden für gehörlose Eltern mit gehörlosen Kindern Kurse statt.

«lernen»

Sie können das Gebärdenlexikon auch direkt ansteuern mit signsuisse.sgb-fss.ch Der Gebrauch des Lexikons ist ausführlich beschrieben. Viel Vergnügen beim Entdecken!


«Mit Menschen zu arbeiten, ist wunderbar» Isabelle Cicala setzt sich für bessere Bildungschancen von Gehörlosen ein > Isabelle Cicala (28) ist Lehrerin an der «Sek3» in Zürich, der Oberstufe für Gehörlose und Schwerhörige Jugendliche aus der ganzen deutschsprachigen Schweiz. Das Filmprojekt «Hear My Story» stellt sie vor. Warum haben Sie bei «Hear My Story» mitgemacht?

Ich wollte zeigen, dass ich stolz auf meine Gebärdensprache und Kultur bin. Hier in der Schweiz gibt es 10 000 gehörlose Menschen. Das ist nicht wenig. Trotzdem sind wir als Minderheit unsichtbar. Mit dem Film können wir sensibilisieren und zeigen, wie wir leben. Wir wollen Offenheit schaffen und Brücken bauen. Persönlich war es für mich eine tolle Erfahrung, ein Teil dieser Kampagne zu sein. Was ist Ihnen als Lehrerin wichtig?

Ich bin sehr gerne Lehrerin, denn mit Menschen zu arbeiten, ist einfach wunderbar. Es ist mir ausgesprochen wichtig, anderen Gehörlosen Bildung zu ermöglichen und vor allem auch als Betroffene mit Betroffenen zu arbeiten. Innerhalb

der Bildung ist Sprache zentral. Deshalb sollen gehörlosen Menschen in ihrer Erstoder Muttersprache, das heisst in Gebärdensprache, unterrichtet werden. Ich arbeite im Team-Teaching zusammen mit einer hörenden Lehrerin. Dadurch lernen die Kinder gleichzeitig die Gebärdensprache sowie die gesprochene und geschriebene Sprache. Die Gebärdensprache ist für gehörlose Kinder sofort zugänglich und hilft ihnen, andere Sprachsysteme

«Hear My Story» In der Schweiz leben rund 500 000 Menschen mit einer Hörbehinderung, rund 10 000 sind vollständig gehörlos. Die meisten von ihnen sehen sich selber nicht als behindert – sie können alles, ausser hören. Das Projekt «Hear My Story» zeigt sechs von ihnen in je einem Filmporträt. Darunter die Lehrerin Isabelle Cicala. Sie setzt sich dafür ein, dass gehörlose Kinder und Erwachsene Zugang zu höherer Bildung bekommen. Die Porträts von «Hear My Story» sind im Internet zu sehen. www.hearmystory.ch

«In Gebärdensprache begreifen Kinder den Inhalt rascher.» leichter zu verstehen. Sie begreifen den Unterrichtsinhalt rascher und können ihr Wissen vernetzen. Welche Hindernisse gibt es?

Bilingualer Unterricht ist sehr erfolgreich, aber noch nicht verankert im schweizerischen Bildungssystem. Es braucht ein nationales bilinguales Bildungskonzept, damit gehörlose Kinder die gleichen Chancen auf höhere Bildung haben wie gut hörende Kinder. Heute müssen gehörlose Studierende in der Schweiz um Gebärdensprachdolmetscher kämpfen, Prüfungen in einer für sie fremden Sprache ablegen und sich ständig um die mündlichen Informationen aus Lerngruppen und Pausengesprächen bemühen. So erreichen nur wenige gehörlose Erwachsene einen höheren Abschluss. Die bilinguale Bildung ist ein wichtiger Schritt, um diese Ungleichheit abzuschaffen. <


Bildungskongress 2016 Thema: Resilienz

70 Jahre Schweizerischer Gehörlosenbund

Am 1. und 2. Juli findet in Bern der 3. Bildungs- und Fachkongress des Gehörlosenbundes statt. Internationale Referentinnen und Referenten berichten über neue Erkenntnisse zum Thema «Resilienz – das unentdeckte Kapital der Gebärdensprache». Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen und Hindernisse zu bewältigen. Der Kongress wird in den drei Schweizer Gebärdensprachen, den gesprochenen Sprachen sowie in Englisch und in International Signs durchgeführt. <

Gegründet wurde der Schweizerische Gehörlosenbund 1946 und zwar als Mitglied des «Schweizerischen Verbandes für Taubstummenhilfe». Hörende Fachleute bestimmten über das Schicksal von gehörlosen Menschen. Der Befreiungsschlag aus der Bevormundung kam 1970 mit der «Deaf Power»-Bewegung aus den USA und erreichte in den 1980er Jahren die Schweiz. Das 70 JahrJubiläum wird im Rahmen des 3. Bildungskongresses in Bern gefeiert. <

Erfolgsgeschichten von gehörlosen Menschen Foto: privat

Marina Ribeaud, Verlagsleiterin Verlag Fingershop, Allschwil BL Marina Ribeaud (45) ist Gebärdensprachlehrerin und Verlagsleiterin. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Ihre Herkunftsfamilie ist hörend, während ihrer Schulzeit wurde sie in Lautsprache unterrichtet, die Gebärdensprache war damals noch verboten. Seit vielen Jahren macht sie sich für die Förderung bilingualer Erziehung und Bildung stark. Vor 10 Jahren hat Marina Ribeaud den Verlag fingershop.ch gegründet. Er steht für einen einfachen Einstieg in die Gebärdensprache. Der Verlag hat viele Produkte entwickelt, die für die Gebärdensprachgemein-

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Edina Duss, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.sgb-fss.ch Redaktion: Christine Loriol Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 33‘619 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1

schaft mittlerweile unverzichtbar sind: von Büchern für den ersten Spracherwerb über Fachbücher und Lernhilfen bis hin zu einer Lernapp. Marina Ribeaud: «In diesen 10 Jahren neue Bücher zu machen, war eine sehr schöne Aufgabe. Ich habe sehr viel dazugelernt, bin tollen Menschen begegnet und konnte meinen Kindern zeigen, dass die Gebärdensprache eine normale, vollwertige Sprache ist.» < www.fingershop.ch oder auch im Onlineshop www.sgb-fss.ch erhältlich.


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