Go 2016 4 161020 web

Thema > Was Familien brauchen

November 2016

04

#

Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Zu Besuch bei Familien mit gehörlosen Kindern > Interview: Wie Familie Siebenhaar es geschafft hat > Der gehörlose Filmemacher Stanko Pavlica

Thema > Was Familien brauchen

> Editorial

Véronique Murk Leiterin Ressort Eltern und Frühförderung, SGB-FSS

Liebe Spenderin, lieber Spender Bilinguale Erziehung für gehörlose Kinder ist eines unserer wichtigsten Anliegen: Die Kinder sollen so früh wie möglich so viele Chancen bekommen wie nur möglich. Das heisst: Sie sollen von Anfang an Gebärdensprache und gesprochene Sprache lernen können, damit sie in der Schule und auch später, darauf zurückgreifen können.

Hörende Eltern, deren Kind als gehörlos oder schwerhörig diagnostiziert wird, brauchen von Anfang an viel Unterstützung. Vor allem dann, wenn sie zuvor keinerlei Kontakt mit Gehörlosen hatten. Sie sind oft verunsichert, haben viele Fragen und viele Entscheidungen zu treffen.

Wir tun, was wir können, um Familien zu unterstützen. In einigen Kantonen und Regionen funktioniert das bereits sehr gut. In anderen ist noch viel zu tun. Bitte helfen Sie uns mit Ihrer Spende, Familien und ihren gehörlosen Kindern alles mit auf den Weg zu geben, was sie brauchen.

Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung!

Véronique Murk (gehörlos)

Lucie und Patrice Clerc mit Camille (11), Léonie (2), Célestine (5) und Louise (8 1/2).

Léonie (2), die Jüngste Familie Clerc aus La Chaux-de-Fonds NE > Lucie und Patrice Clerc haben vier Mädchen. Ihr jüngstes, die kleine Léonie ist knapp zwei Jahre alt und gehörlos. Wir haben die Familie in La Chaux-de-Fonds besucht und nach ihren Erfahrungen gefragt.

«Zum Glück bin ich im Gesundheitswesen tätig», erzählt Lucie Clerc. «Das hat mir zu Beginn sehr geholfen, Fragen zu stellen und auf Antworten zu pochen.»

Sie habe viel recherchiert und telefoniert, um überhaupt herauszufinden, wo welche Hilfsangebote und -möglichkeiten für sie zur Verfügung stehen. Und sie hat sich oft alleine gefühlt, trotz der Bereitschaft von vielen Stellen, ihr zuzuhören. Ein grosses Problem ist: Die Unterschiede zwischen einzelnen Kantonen und Regionen sind

noch sehr gross und die Möglichkeiten in La Chaux-de-Fonds kleiner als anderswo. «Ich habe zwar erfahren, worauf wir ein Recht haben, aber ich hätte noch viel mehr konkrete Tipps gebraucht. Am besten gleich schon im Spital nach der ersten Diagnose.» Dank den verschiedenen Angeboten des Gehörlosenbundes ist die Familie von Léonie doch noch gut vorangekommen: Die Heimkurse in Gebärdensprache haben ihnen geholfen sich besser zu verständigen, und die Eltern besuchen zusätzlich einen Standardkurs, um die französische Gebärdensprache noch besser zu lernen. Sie sind bereits im Niveau 2 und das Gebärden im Alltag wird immer natürlicher. Mama Lucie begleitet das Sprechen mit Léonie automatisch mit Gebärden, und die anderen Mädchen achten auch beim Spielen darauf, dass ihre

Unsere Angebote für Familien Heimkurse Wer bilingual aufwächst, kann mehr.

Die Gebärdensprache fördert vom ersten Tag an die Sprachentwicklung und erleichtert den Zugang zur gesprochenen Sprache. Die Heimkurse werden von einer gehörlosen Gebärdensprachausbildnerin geleitet. Sie kann die Fragen der Familie beantworten und dem hörbehinderten Kind ein Vorbild sein.

So kann die Gebärdensprache Familiensprache werden und die Kommunikation untereinander fördern und verbessern.

«Ich hätte noch viel mehr konkrete Tipps gebraucht. Am besten gleich im Spital nach der Diagnose.»

kleinste Schwester Augenkontakt hat. Léonie hat sich mittlerweile an die Hörgeräte gewöhnt und reisst sie nicht mehr weg.

Die ganze Familie Clerc hat zweimal an einem Familien Forum teilgenommen und andere Familien mit gehörlosen Kindern und ihren Geschwistern kennen gelernt.

«Ja, wir haben wirklich viel gemacht», sagt Lucie Clerc. «Und dennoch: Es ist uns auch wichtig, dass sich nicht das ganze Familienleben nur um Léonies Gehörlosigkeit dreht. Jeder von uns soll seinen eigenen Platz haben.» <

Familien Forum Für Familien mit einem gehörlosen Kind ist der Austausch wichtig. Im Forum, in Intensiv-Wochenendkursen oder an Kinderwochenenden lernen Eltern, Geschwister und das gehörlose Kind andere Familien kennen. Sie üben Gebärdensprache und die Eltern können wichtige Fragen miteinander besprechen. Kinder machen die Erfahrung, einmal nicht das einzige Kind mit einer Hörbehinderung zu sein. Und auch ihre Geschwister finden Gleichgesinnte.

Papa Francesco, Bruder Luca , Lola und Maman Patr

Lola (10), die Familie Frangioni aus Lutry VD > In der Familie Frangioni ist Lola die einzige Gehörlose. Sie versteht und

Kinderlager Die Kinderlager für gehörlose Kinder und ihre Geschwister sind ein Highlight im Jahresprogramm. Sie stehen immer unter einem Motto. Dazu wird gespielt, gelernt und gebastelt. Kommuniziert wird ganz selbstverständlich in Gebärdensprache und in gesprochener Sprache. Weil Kinder im Spiel sowieso spielend lernen, sind die Kinderlager in jeder Hinsicht ein Gewinn.

Mit Ihren Spenden unterstützen Sie alle diese Angebote ganz direkt. Wenn Sie darüber noch mehr erfahren wollen, finden Sie ausführliche Informationen auf www.sgb-fss.ch

spricht aber dermassen gut, dass man mehrmals nachfragt, ob sie wirklich nichts hört – obwohl man es weiss. Ein erstaunliches Mädchen.

«Zuerst habe ich natürlich viel geweint, als wir es erfuhren», sagt Patricia Frangioni. «Das Schlimmste war das schlechte Gewissen. Wir haben ja erst nach vier Jahren überhaupt gemerkt, dass Lola praktisch nichts hört.» Und das hiess: «Lola zeigte keinerlei Probleme in der Verständigung und im Verhalten. Sie sprach gut.

Sie konnte uns folgen. Und noch heute ist es ja verblüffend, wie gut sie spricht.»

Tatsächlich. Lola hört, aber sie versteht keine Wörter über das Gehör. Lola ist

> Gebärden Die Gebärdensprache fasziniert. Und das Gebärdenlexikon ist auch für Hörende eine Fundgrube für Entdeckungen. Die Begriffe werden in einem Video erklärt, dazu schriftlich definiert und mit einem Beispiel ergänzt. Sie können das Gebärdenlexikon auch direkt ansteuern mit http://signsuisse.sgb-fss.ch Viel Vergnügen beim Entdecken!

ricia Frangioni.

Erstaunliche eine Meisterin im Lippenlesen. Und sie trägt Hörgeräte. Am Hals baumelt zudem ein Apparat, der einen Telefonanruf, die Lehrerin im Unterricht, oder das E ­ -Piano direkt auf ihre Hörgeräte schalten kann.

Lola spielt Klavier, Geige und nahm früh Ballettstunden. In der Schule hat sie keinerlei Probleme, «ausser diejenigen, die alle Mädchen in diesem Alter eben manchmal miteinander haben. Sie sind heute beste Freundinnen und tuscheln morgen übereinander.» Das ist schwierig für Lola mit 70% Hörverlust. Ebenso wie wenn die Lehrperson zwischendurch vergisst, dass Lola nicht hört, weil sie eben so gut spricht und versteht. Aber Lola hat gelernt, sich zu wehren. Lachend erzählt sie: «Wenn man mich übergeht, mache ich auf mich aufmerksam – mit meinem Gesichtsausdruck oder in dem ich auch

Familie

«Es gibt die Welt der Gehörlosen und die Welt der Hörenden.

Und ich bewege mich dazwischen.»

Eltern

mal sehr laut seufze.» Und das sagt sie quirlig, selbstbewusst und strahlend, während Papa Francesco und Bruder L ­ uca sich zum Fototermin neben sie auf das weisse Sofa büscheln. Und die Gebärdensprache?

Mutter und Tochter schauen einander an.

Gemeinsam absolvieren sie einen Heimkurs. Ein gehörloser Ausbildner besucht sie zu Hause und unterstützt sie beim Lernen der Gebärdensprache. Ihren Freunden erklärt Lola: «Es gibt die Welt der Gehörlosen und die Welt der Hörenden.

Und ich bewege mich dazwischen.» <

1 mal: Sohn

2 mal: Tochter

«Ein Kind saugt Sprache auf wie ein Schwamm» Foto: privat

Interview mit Christoph Siebenhaar über das Aufwachsen seines gehörlosen Sohnes > Andrin Siebenhaar ist 15 und macht eine Lehre als Automatiker. Mit 11 Monaten wurde er als hochgradig schwerhörig erkannt. Seine Eltern Christoph und Tanja haben in bilingual aufwachsen lassen.

Christoph Siebenhaar, wie hat Andrins Weg zur Sprache begonnen?

Andrin machte im Vergleich zu seiner älteren Schwester Lara wenig Fortschritte in der Sprache. Er machte eigenartige Laute und wurde immer stiller. Als er 11 Monate alt war, haben wir sein Gehör getestet.

Andrin Siebenhaar (links) mit seiner Familie.

Und dann? Schock?

Ja, schon. Wir waren traurig – obwohl ja niemand gestorben war. Aber es zerbrach doch etwas. Wir stellten uns viele Fragen: Wird er reden können? Freunde finden?

In welche Schule wird er gehen?

Was hat Ihnen geholfen?

Einerseits bekam Andrin Hörgeräte, und einmal pro Woche besuchte ihn die Audiopädagogin für eine Förderstunde. Sie zeigte uns auch, wie wir seine Hörfähigkeit und die Lautsprache fördern können.

Zweitens wollten wir so rasch wie möglich mit unserem Kind kommunizieren können und haben aktiv Möglichkeiten dafür gesucht. Durch den Gehörlosenbund haben wir an einem Wochenende für Eltern mit gehörlosen Kindern teilgenommen und entschieden, nicht nur die Laut-, sondern auch Gebärdensprache zu lernen.

Sehr bald hat die ganze Familie im Alltag mit allen Mitteln kommuniziert.

Warum haben Sie sich für Laut- und Gebärdensprache entschieden?

Ein kleines Kind ist unglaublich neugierig und saugt Sprache auf wie ein Schwamm.

Wenn man ihm nur Lautsprache bietet, wird dieser Durst nicht genug gestillt. Und ich glaube auch, das Interesse an der Umwelt nimmt ab. Andrin konnte dank der visuellen Hilfe, die eigentlich seine Stärke ist, seinen Sprach- und Wissensdurst stillen. Und er hat sich altersentsprechend entwickelt. Er hat die Gebärdensprache sofort angenommen und sein Sprachnetz ständig erweitert. Auch die Lautsprache konnte so viel einfacher eingebaut werden.

Was raten Sie hörenden Eltern mit einem gehörlosen Kind?

Natürlich werden wir die Gebärdensprache nie perfekt können, weil sie nicht unsere Muttersprache ist. Aber es ist wichtig, den Kindern eine Sprache zu geben, die sie einfach verstehen und ganz natürlich anwenden. Ausserdem haben wir drei Kinder. Wir wollten, dass sie miteinander spielen, sich austauschen, streiten und Konflikte lösen können. Mithilfe beider Familiensprachen ist das einfacher geworden. Durch Andrin haben wir andere Schwerhörige und Gehörlose mit ih-

«Wir haben erlebt, wie sich die beiden Sprachen gegenseitig befruchten und zusammen einen vielfältigeren Sprachschatz ergeben.» rer Kultur und Kommunikation kennen gelernt. Und nachträglich bekam Andrin gehörlose Gotte und Götti, damit er sich in beiden Welten zuhause fühlt. <

Die Familie Siebenhaar lebt im Aargau.

Andrin (15 , gehörlos) hat zwei Geschwister. Seine Mutter Tanja ist Kindergärtnerin und Primarlehrerin, sein Vater Christoph ist Heilpädagoge. Über die ersten Jahre von Andrin Siebenhaar gibt es einen Film: «Mein Weg zur Sprache». Der Folgefilm der Entwicklung Andrins von 6 bis 16 Jahren ist in Arbeit.

Tolles Weihnachtsgeschenk: Ein Gebärdensprachkurs des Schweizerischen Gehörlosenbundes gibt es keine Zulassungsbeschränkung.

Alle sind herzlich willkommen: Ob jung oder alt, hörend oder hörbehindert. Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme an einem Kurs ist die Neugier auf eine neue Sprache und die Bereitschaft, sich körperlich ausdrücken zu wollen. Schenken Sie sich selber oder jemand anderem einen Gebärdensprachkurs!

Wir wissen es: Die meisten hörenden Menschen sind von der Gebärdensprache fasziniert. Warum nicht selber einmal einen Kurs besuchen und Gebärdensprache lernen? Die Gebärdensprache ist ein komplexes System und völlig anders aufgebaut als die gesprochene Sprache. Ein Gebärdensprachkurs ist ein prima Training fürs Hirn! Man kann in jedem Alter noch anfangen, sie zu lernen – und man kann es auch einfach zum persönlichen Vergnügen tun oder um den eigenen Horizont zu erweitern. Für die Gebärdensprachschule

Hier erfahren Sie mehr: www.sgb-fss.ch > Angebote

Erfolgsgeschichten von gehörlosen Menschen: Foto: privat

Stanko Pavlica (42), Filmemacher aus Zürich

Im Jahr 2003 hat Stanko Pavlica das Internet-Fernsehen FocusFive TV gegründet.

Stanko Pavlica: «Dank Breitband-Techno-

logie sowie günstigen Videoausrüstungen konnten wir einsteigen und uns ausprobieren. Eine tolle und lustige Zeit.» Stanko ist gehörlos, seine Schwester ist schwerhörig.

Die Gebärdensprache hat er im Kindergarten an der Gehörlosenschule Wollishofen gelernt. Später war er kurz in einer hörenden Schule integriert, danach an der Schwerhörigenschule Landenhof. «Nach Wollishofen habe ich nur gesprochen, nicht gebärdet. Meine Gebärdensprache hatte also eine lange ‹Winterschlafzeit›.

Ich bin erst in der Berufsschule erwacht, als ich wieder andere Gehörlose traf. Mit

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Edina Duss, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.sgb-fss.ch Redaktion: Christine Loriol Fotos: Stephan Engeler Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 33‘619 Ex. in Deutsch und Französisch.

Spendenkonto: 80-26467-1

FocusFive TV füllt er eine Lücke: Es geht um die Herstellung und Verbreitung visueller Nachrichten, Informationen und Reportagen in Gebärdensprache im Web TV für die Gehörlosen, Schwerhörigen und alle, die Gebärdensprache benützen.

Fairness für gehörlose Menschen ist ihm ein grosses Anliegen: «Ich wünsche mir mehr gesunden Menschenverstand von allen Leuten, Behörden, Kommissionen, Fachleuten, Medizinern und auch von anderen ‹Randgruppen›, wenn sie über uns denken, sprechen und entscheiden.» < www.focusfilm.ch