Thema > Verbot der Gebärdensprache
September 2017
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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS
Karl Franz Klose©LWL-Medienzentrum für Westfalen
ganzOHR
> Gebärdensprachverbot in der Schweiz: Heute überwunden > Interview mit einer Betroffenen des Verbots > Tag der Gebärdensprache
Thema > Verbot der Gebärdensprache
> Editorial
Gebärdensprache – elementar und lange Zeit verboten Das Verbot verwehrte Gehörlosen angemessene Bildungschancen Karl Franz Klose©LWL-Medienzentrum für Westfalen
Márta Gerbershagen Projektleiterin Studie «Gebärdensprachverbot»
Recht auf ein eigenständiges Leben Stellen Sie sich vor, Sie dürften Ihre Muttersprache nicht sprechen. Für Generationen von gehörlosen Menschen war das jahrzehntelang traurige Realität: Ihre Muttersprache – die Gebärdensprache – war in der Schweiz verboten. Wenn sich gehörlose Kinder in der Schule mit Gebärden verständigten, wurden sie bestraft und blossgestellt. Viele Gehörlose unter uns haben das Verbot noch erlebt – und nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Deshalb haben wir die Universität Basel mit einer Studie zum Gebärdensprachverbot beauftragt. Sie soll die dunkle Vergangenheit der Betroffenen aufarbeiten und interessierten Menschen von heute die Diskriminierung bewusst machen, die viele Gehörlose in unserem Land erleiden mussten. Wir danken Ihnen herzlich, dass Sie uns bei unserem Einsatz für hörbehinderte und gehörlose Menschen unterstützen.
Márta Gerbershagen (hörend)
Nebenan erfahren Sie mehr über das Gebärdensprachverbot. Die Studie können Sie auf www.gehörlosenbund.ch herunterladen.
konnte der Schulstoff nicht angemessen vermittelt werden. Dies führte zu anhaltenden Verständigungsproblemen zwischen Lehrern und Schülern, Frustrationen und ungenügenden Schulleistungen.
«In der Schule musste ich ein Hörgerät tragen. Das war etwa so sinnvoll, wie wenn man einem Baum ein Hörgerät anziehen würde. Als ob der dann plötzlich hören würde.» Aussage eines Betroffenen
Sprechen statt gebärden – falscher Ansatz mit fatalen Folgen.
> Ein Forscherteam der Universität Basel bestätigt, was viele gehörlose und hörbehinderte Menschen aus eigener Erfahrung wissen: In den Schweizer Gehörlosenschulen wurde die Gebärdensprache lange Jahre unterdrückt. Was bedeutete das Gebärdensprachverbot für die gehörlosen Menschen der Schweiz – vor allem im Hinblick auf ihre Bildungschancen? Der Schweizerische Gehörlosenbund wollte diese Frage klären und gab dem Departement Geschichte der Universität Basel eine Studie in Auftrag. Im April 2017 haben Rebecca Hesse (M.A.) und Prof. Dr. Martin Lengwiler den Schlussbericht «Verbot der Gebärdensprache in der Schweiz» fertiggestellt. Die Studie belegt, dass der Zugang zu Bil-
dung für Gehörlose während Jahrzehnten schlechter war als für Hörende. Bis in die 1980er-Jahre setzten die meisten Gehörlosenschulen allein auf den lautsprachlichen Unterricht. Zeitzeugen bestätigen, dass die Kommunikation in Gebärdensprache unerwünscht und oft sogar verboten war. Die Folge war, dass Kinder bestraft wurden, wenn sie gebärdeten. Diese Einstellung geht auf die Zeit der Aufklärung (!) um 1650 bis 1800 zurück, als die Gebärdensprache als rückständige und primitive Vorläuferin der Lautsprache galt. Verbot nicht zielführend Im Rückblick kann man sagen: Das Ziel, gehörlose Kinder über einen rein lautsprachlichen Unterricht in eine hörende Gesellschaft zu integrieren, wurde nicht erreicht. In der Schule erwies sich der Ansatz sogar als kontraproduktiv. Denn allein mit der gesprochenen Sprache
besser und können angemessen am soziale Austausch teilnehmen. Wenn sie zudem in beiden Sprachen unterrichtet werden, können sie sich den gleichen Schulstoff aneignen wie hörende Menschen und haben somit die gleichen Chancen auf eine höhere Bildung. Situation noch nicht optimal Heute wird die Gebärdensprache nicht mehr verboten. Trotzdem ist den Gehörlosen der volle Bildungszugang immer noch verwehrt. Denn der Unterricht findet in der Regel nur in gesprochener Sprache statt. Als Folge davon sind gehörlose Menschen zum Beispiel an Gymnasien und Universitäten nach wie vor untervertreten. <
Diese Schlechterstellung in der Bildung ist einer breiten Bevölkerungsschicht nicht bewusst. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass eine bedürfnisgerechte Bildung für gehörlose Menschen grundlegend ist: Sie bildet das Fundament für ein selbstbestimmtes Leben. Bilingualität als Ideal Die Gebärdensprache ermöglicht gehörlosen und hörbehinderten Menschen, sich zu verständigen. Sie ist keine 1:1-Übersetzung der gesprochenen Sprache, sondern eine eigenständige Sprache mit eigener Grammatik. Kleinkinder lernen sie intuitiv und legen damit früh die Basis für ein gutes Sprachgefühl. Dies erleichtert ihnen das mühsame Erlernen der gesprochenen Sprache, die für sie eine Fremdsprache ist. Die Erfahrung zeigt: Gehörlose Kinder, die mit der gesprochenen und der Gebärdensprache aufwachsen, entwickeln ihr Potenzial
Martin Lengwiler und Rebecca Hesse haben die Unterdrückung der Gebärdensprache in der Schweiz erforscht.
«Damit wir unsere Klassenkameraden nicht mit der Gebärdensprache ‹ansteckten›, mussten wir im Unterricht Kartonröhren um die Arme tragen.» Aussage eines Betroffenen
ation der Inform g a T Ein t r Solidaritä e d d un
Tag der Gebärdensprache 2017
Seit 1958 macht der Weltverband der Gehörlosen (WFD) am letzten Wochenende im September auf die Kultur der Gehörlosen aufmerksam und fordert gleiche Rechte. Die Schweiz beteiligt sich seit 1981 mit dem Tag der Gebärdensprache an diesem Gedenktag. Dieses Jahr lanciert der Schweizerische Gehörlosenbund am 24. September eine grosse Medienkampagne – bewusst an einem Abstimmungswochenende. Denn die Kampagne sensibilisiert die Bevölkerung und die politischen Verantwortlichen für die Hindernisse, die gehörlose Menschen überwinden müssen, um am politischen Leben teilzunehmen. So haben sie zum Beispiel nach wie vor nur ungenügend Zugang zu den Abstimmungsinformationen. Dies beeinträchtigt ihr Stimm- und Wahlrecht.
Engagement für gleiche Rechte und Chancen
> Gebärden
Gebärdensprache muss gefördert werden
senbunds steht den Nutzern seit Mitte
Das neue interaktive GebärdensprachLexikon des Schweizerischen GehörloJuli 2017 auf www.gehörlosenbund.ch
> Natürlich sind wir froh, dass die Gebärdensprache heute nicht mehr verboten wird. Doch anerkannt und in den Alltag integriert ist sie noch bei Weitem nicht. Dies wäre aber Voraussetzung, damit gehörlose Menschen Zugang zu Bildung und Informationen haben und somit ein selbstbestimm-
Vereinten Nationen verankert. Dennoch wird diese Anerkennung im Alltag noch viel zu wenig umgesetzt und man muss leider feststellen: Die Gebärdensprache ist mit der gesprochenen nicht gleichberechtigt. Dies ist für gehörlose und hörbehinderte Menschen eine schwerwiegende Diskriminierung.
zur Verfügung. Das umfangreiche Werk umfasst die schweizerdeutsche, die französische und die italienische Gebärdensprache der Schweiz. Es besticht durch seinen frischen Look und eine einfache, übersichtliche Navigation. In der neuen Slow-Motion-Funktion lassen sich die Gebärden auch verlang-
tes Leben führen können.
samt anschauen. Wer sich registriert,
Die Gebärdensprache ist die eigenständige Sprache der hörbehinderten und gehörlosen Menschen. Zudem ist sie die Grundlage für ihren politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Zugang zum Leben. Nur wenn sie die Gebärdensprache und die gesprochene Sprache beherrschen, können sie die gleichen Rechte, Chancen und Pflichten wahrnehmen wie hörende Menschen. Anerkennung noch nicht umgesetzt In der Schweiz wird die Gebärdensprache inzwischen gesellschaftlich anerkannt und ihre pädagogische Bedeutung ist bekannt. Überdies ist das Recht auf die Gebärdensprache im Schweizer Gleichstellungsgesetz und der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der
Deshalb fordern wir für Hörbehinderte den gleich-
wird per E-Mail automatisch über neue Gebärden im Lexikon informiert.
zeitigen und gleichwertigen Erwerb der Gebärdensprache und der gesprochenen Sprache. Für dieses Ziel setzen wir uns politisch ein.
Bis es so weit ist, braucht es noch viel Arbeit. Neben unserem politischen Engagement stehen wir gehörlosen Menschen und ihrem Umfeld mit Rat und Tat zur Seite. Zu unserer Unterstützung zählen unter anderem ein breites Angebot an Gebärdensprachkursen, die Frühförderung der Bilingualität und ein unentgeltlicher Rechtsdienst. <
Bitte helfen Sie uns bei unserem Einsatz für gehörlose Menschen. Herzlichen Dank!
«Alle Gehörlosen sollten die Gebärdensprache lernen können.» Jutta Gstrein hat das Gebärdensprachverbot noch erlebt
Gebärdensprache in der Klubschule Migros
> Jutta Gstrein besuchte in den 70er-
Zum ersten Mal nimmt eine grosse Sprachschule die Gebärdensprache in ihr Programm auf. Die Klubschule Migros Winterthur bietet seit August 2017 Gebärdensprachkurse an. Dieses Angebot ist dank der Kooperation mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund entstanden.Das Interesse an der Gebärdensprache als Fremdsprache ist gross,
Jahren im Kanton St. Gallen eine Gehörlosenschule – in einer Zeit also, in der das Gebärdensprachverbot noch galt. Im folgenden Gespräch erzählt sie von ihren Erfahrungen. Wie haben Sie das Verbot erlebt?
In der Spezialschule durften wir nur mündlich sprechen, Gebärden waren verboten. Die Lehrer wollten, dass wir die Stimme verwenden und den Körper ruhig halten. Gebärden akzeptierten sie nicht. Während ich sprach, musste ich auf dem Kopf einen Massstab balancieren, der nicht herunterfallen durfte. Die Lehrer sagten, die Gebärdensprache sei eine dumme Sprache, eine Affensprache. Dieses negative Bild hat mich lange geprägt.
«Während ich sprach, musste ich einen Massstab auf dem Kopf balancieren, der nicht herunterfallen durfte.» Haben Sie auch die Gebärdensprache eingesetzt?
Ja, in der Familie. Meine Eltern sind hörend, mein Bruder und ich gehörlos. Wir kommunizierten mit einfachen Hausgebärden, die nicht der heutigen Gebärdensprache entsprachen. Aber wir konnten uns gut miteinander verständigen. Wurde die Anwendung der Gebärdensprache bestraft?
Ja, in der Schule immer. Wenn mich ein Lehrer beim Gebärden erwischte, musste
Jutta Gstrein engagiert sich für die Gebärdensprache.
ich mit dem Rücken zur Klasse stehen. Für eine gehörlose Person ist das eine schlimme Strafe. Man ist komplett isoliert, denn man bekommt vom seinem Umfeld nichts mehr mit. Wie war das Bildungsangebot für Gehörlose, als Sie zur Schule gingen?
Mir wurde in der Schule sehr wenig Wissen vermittelt. Denn im Unterricht habe ich das meiste nicht verstanden. Ich habe mir alles selber beigebracht – natürlich nicht in der Schule. Später absolvierte ich eine Lehre als Zahntechnikerin. Meine gesamte Lehrzeit und die Prüfung musste ich ohne Gebärdensprachdolmetscher durchstehen. Was wünschen Sie sich für die gehörlosen Kinder von heute?
Die Gebärdensprache soll Gehörlosen voll zugänglich gemacht werden. Jeder und jede sollte die Möglichkeit erhalten, sie zu lernen, und zwar bereits als Kind. Als Teenager hatte ich einen Traum: Die Ge-
hörlosen sollten in allen Schulfächern in Gebärdensprache unterrichtet werden. Wie ein Hörender Mathematik, Geschichte, Physik, Deutsch usw. in einer Lautsprache lernt, sollten Gehörlose in Gebärdensprache lernen können. Idealerweise erfolgt der Unterricht in Kombination mit der gesprochenen Sprache, die für uns ebenfalls existenziell ist. In Wirklichkeit sind wir aber nach wie vor eingeschränkt und haben schlechtere Bildungschancen. Das muss sich ändern. <
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Einzigartige Erfahrung für die Lernenden.
Ich spende für den Gehörlosenbund, weil die Kommunikation mit
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den Mitmenschen für die Lebensqualität enorm wichtig ist und der Gehörlosenbund die Verbreitung der Gebärdensprache fördert. Peter Bär, Eglisau
Erfolgsgeschichten von gehörlosen Menschen: Bessere Chancen dank SEK3 mit bilingualem Unterricht integrierte Schüler mit einer Hörbeeinträchtigung und Gehörlose die Sekundarschule – nicht in gemischten Klassen, aber unter einem Dach. Die Integration wird in den Pausen und in gemeinsamen Projekten gelebt.
Jutta Gstrein hat einen Traum Jutta Gstrein ist gehörlos und arbeitet als Lehrerin für die schweizerdeutsche Gebärdensprache. In ihrer Schulzeit erfuhr sie das Gebärdensprachverbot noch am eigenen Leib. Obwohl das Verbot heute nicht mehr gilt, hat sich ihr Traum noch nicht erfüllt: dass die Gehörlosen die gleichen Bildungschancen haben wie Hörende.
ebenso die Nachfrage nach entsprechenden Kursen. Das ist ein Gewinn für alle: Für die Gehörlosen rückt das Ziel der Anerkennung der Gebärdensprache näher, die Sprachschule kann ihr Angebot um attraktive Kurse erweitern und die Lernenden werden um eine einzigartige Erfahrung reicher – jene der visuellen Kommunikation. <
Im Schulhaus Hans Asper in Zürich Wollishofen besuchen Regelschüler, teil-
Diese SEK3 geht nach einem schweizweit einzigartigen bilingualen Unterrichtskonzept für Schüler mit einer Hörbeeinträchtigung vor. Es unterrichten jeweils zwei Lehrpersonen: Die eine ist hörend, setzt die gesprochene Sprache ein und unterstützt mit Gebärden, die andere ist
Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Benjamin Hofer Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 31 840 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1
gehörlos und unterstützt in Gebärdensprache. Sie besprechen, wer in welcher Lernsequenz die Führung übernimmt. Zudem finden mehrere Lektionen in kleinen Fördergruppen und im Einzelunterricht statt. Auf diese Weise werden die Lerninhalte hörbehinderten und gehörlosen Schülern verständlich und auf hohem Niveau vermittelt. Dies hat zum Ziel, dass sich die Jugendlichen in der hörenden Gemeinschaft der Regelklassen und später in weiterführenden Schulen oder Ausbildungen behaupten können. <