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Thema > Berufsbildung

März 2018

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Für gleich lange Spiesse in der Berufsbildung > Gehörlose Menschen sind coole Mitarbeiter > Gesetze werden nicht respektiert


Thema > Berufsbildung

Für gleich lange Spiesse in der Einen Beruf lernen: Basis für ein eigenständiges Leben > Arbeit ist mehr als blosse Existenzsicherung. Sie ist sinnstiftend und wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und die Integration in die Gesellschaft. Das gilt besonders für Menschen mit einer BeeinRonny Bäurle Verantwortlicher Finanzen & Controlling

trächtigung. Doch auf ihrem Weg durch die Berufswelt stossen sie auf viele Herausforderungen. Den Schritt zu wagen, braucht viel Mut, und den Weg zu begehen, viel Ausdauer.

Gleiche Rechte und Chancen – auch im Beruf! Nach der Bezirksschule absolvierte ich eine KV-Lehre mit BMS und anschliessend die Weiterbildung zum Buchhalter mit eidgenössischem Fachausweis. Damals gab es für meine Aus- und Weiterbildungen noch keine Gebärdensprachdolmetscher. Dementsprechend war der Kommunikationsstress enorm. Anstatt mich auf den Stoff konzentrieren zu können, musste ich mich mit dem wenig «Gehörten» auseinandersetzen und war mehrheitlich mit dem Kombinieren von Wörtern beschäftigt.

Lesen Sie die Erfahrungen von zwei gehörlosen Jugendlichen, die eine Lehre absolvieren und die Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung BSFH besuchen. Die Zürcher Schule ist die anerkannte Bildungsstätte der deutschsprachigen Schweiz für die berufliche Aus- und

Weiterbildung hör-, sprach- und kommunikationsbeeinträchtigter Menschen. Sie vermittelt die schulische Bildung für aktuell 105 Berufe. Der Unterricht zielt auf eidgenössisch anerkannte Berufsabschlüsse und die Integration der jungen Berufsleute in den ersten Arbeitsmarkt. <

Gerade in der Bildung müssten die Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschern selbstverständlich und der Bewilligungsprozess für diese elementare Unterstützung viel einfacher sein. Die Hürden sind immer noch derart hoch, dass viele gehörlose Menschen an Barrieren stossen und sich nicht wie gewünscht weiterbilden können. So haben sie im beruflichen Alltag weniger gute Chancen und höhere Positionen bleiben ihnen verwehrt.

Ronny Bäurle (gehörlos)

Alexandre Thiébaud, 26

kommuniziert mit seinen Baustellenkollegen schriftlich. Das braucht Geduld.


Berufsbildung Fernanda Falchi, 21 ist gehörlos und als Restaurationsfachfrau exponiert. Das braucht Mut.

Alexandre Thiébaud absolviert zurzeit seine zweite Berufslehre. Nachdem er die erste als Fachmann Betriebsunterhalt erfolgreich abgeschlossen hatte, blieb er in seinem Lehrbetrieb, dem GZO Spital Wetzikon, und arbeitete dort während einem Jahr. Er sagt: «Die Arbeit hat mir zwar gefallen, aber ich habe gesehen, dass für mich mehr drinliegt. Deshalb wollte ich einen zweiten Beruf lernen, der etwas mit dem ersten zu tun haben sollte. Nach längerer Bedenkzeit habe ich mich für eine Lehre als Elektroinstallateur entschieden, die ich nun im letzten Lehrjahr bei der Firma Hunziker

«Ich bin stolz auf meinen Beruf, und dass ich ein guter Fachmann bin.» Installationen absolviere.» Ist das nun sein Traumberuf? Er lächelt: «Heute schon – ursprünglich wollte ich jedoch Seilbahnmechaniker werden. Das ging aber wegen meiner Gehörlosigkeit nicht. Denn in diesem Beruf muss man viel per Funk kommunizieren.» Immer einen Notizblock dabei Als Elektroinstallateur arbeitet Alexandre Thiébaud viel auf Baustellen und ist da von A bis Z für die Installationen verantwortlich. Seine Aufträge erhält er schriftlich, per E-Mail oder auf Papier. Natürlich muss er sich auf dem Bau oft mit anderen Handwerkern austauschen, was eine Herausforderung sein kann. Er sagt: «Meine Kollegen beherrschen die Gebärdensprache nicht. Ich erkläre ihnen am Anfang kurz, wie sie mit mir kommunizieren kön-

nen. Nach einer Gewöhnungszeit geht das immer sehr gut.» Wenn Alexandre Thiébaud etwas nicht versteht, fragt er nach: «Das braucht etwas Mut, aber ich bin ein offener Mensch. Klappt der mündliche Austausch nicht, schreiben wir es auf. Ich habe darin viel Übung – für meine Kollegen ist das allerdings ungewohnt. Aber mit gutem Willen geht es immer.» Eigene Firma als Ziel Nach seinem Lehrabschluss kann es sich Alexandre Thiébaud vorstellen, selbstständig zu werden. Denn es gefällt ihm, für seine Kunden Lösungen zu finden. Ein spannendes Ziel. Nur wird er dann weniger Zeit für seine Hobbys haben: Snowboarden, Skifahren und Wandern mit Freunden – wenn immer möglich verbunden mit einer Seilbahnfahrt. <

Fernanda Falchi wurde in Brasilien geboren und kam mit 17 Jahren in die Schweiz. Um sich hier verständigen und einen Beruf ausüben zu können, lernte sie die schweizerdeutsche Gebärdensprache, was für die sprachbegabte junge Frau kein Problem war. Dass in der Schweiz viele Mundartdialekte gesprochen werden, macht ihr allerdings noch zu schaffen. «Da muss ich noch einiges lernen», sagt sie. Kommunikation als Herausforderung Vor rund zwei Jahren absolvierte Fernan-

«Es soll in meinem Leben keine Barrieren geben.»

da Falchi ein Praktikum als Restaurationsfachfrau. Die vielseitige Tätigkeit und der Umgang mit den Gästen gefielen ihr und sie entschloss sich, diesen Beruf zu lernen. Nun ist sie im ersten Lehrjahr und arbeitet im angesagten Restaurant Zur Mühle in Oberentfelden. Sie sagt: «Ich bin stolz, dass ich diesen Schritt geschafft habe. Denn es soll in meinem Leben keine Barrieren geben. Taucht eine auf, versuche ich, sie zu überwinden. Auch für uns gehörlose Menschen ist fast alles möglich.» Es fällt ihr jedoch auf, dass sich auch die Hörenden oft zu enge Grenze setzen. Respekt von den Gästen Im familiären Team des Restaurants fühlt sich Fernanda Falchi wohl. Die Kommunikation mit den Gästen wird manchmal zur Herausforderung. Die Stammgäste wissen, dass sie mit ihr ein deutliches Hochdeutsch sprechen sollen – die anderen weist sie darauf hin. Ihre Erfahrung ist positiv: «Wenn die Gäste realisieren, dass ich gehörlos bin, zeigen sie Respekt und sind speziell freundlich.» Etwas wünscht sie sich dennoch: Dass die Hörenden mehr darüber wissen, was es bedeutet, gehörlos zu sein. <


Coole Mitarbeiter gesucht?

> Gebärden

Stellen Sie einen gehörlosen Menschen an!

Auf http://signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges Online-Ge-

Gehörlose Menschen können alles – aus­ ser eben hören. Das muss bei der Büroarbeit kein Nachteil sein. Besonders dann nicht, wenn man das Büro mit einem Choleriker teilt, den bereits ein Telefonanruf auf die Palme bringt. Manchmal sind gehörlose Menschen eben doch die cooleren Mitarbeiter.

Engagement gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz Unsere Kampagne um das Video «Coole Mitarbeiter gesucht» macht mit einem Augenzwinkern auf ein ernstes Thema aufmerksam: die Diskriminierung von gehörlosen Menschen in der Arbeitswelt. Ihre spezielle Kommunikationsweise ist ihre grösste Hürde auf dem Arbeitsmarkt, der in vielen Belangen auf hörende Menschen ausgerichtet ist. Selbst bei gleicher Qualifikation haben Gehörlose bei der Bewerbung um eine Stelle oft das Nachsehen. So beträgt ihre Arbeitslosigkeit etwa 10 Prozent – das ist dreimal so viel wie bei den hörenden Menschen.

bärdensprach-Lexikon. Es umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeutsche, französische und italienische. Die Begriffe werden in einem Video vorgeführt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Passend zum Thema dieser Ausgabe von ganz Ohr zeigen wir Ihnen die Gebärde für «Ausbildung». Schwingt da nicht ein wenig «auf Augenhöhe» mit? Und zwar im Sinne von: seinen Mitmenschen auf Augenhöhe begegnen.

> www.youtube.com // Suchbegriff: «sgb-fss coole mitarbeiter gesucht»

«Mit gehörlosen Menschen sehr gute Erfahrungen gemacht.» Peter Spuhler, Stadler Rail Peter Spuhler (rechts) verbindet ein herzliches Verhältnis mit Peter Wyss (links), seinem ersten gehörlosen Mitarbeiter. Ende 2016 übergab der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS den ersten «Award Access» an Peter Spuhler, CEO von Stadler Rail. Peter Spuhler zeichnet sich seit 26 Jahren als beispielhafter Arbeitgeber von gehörlosen Menschen aus.

«

Ausbildung

cen derem die Berufschan an r te un e Si en tz tü rs Mit Ihrer Spende unte rzen.» nken wir Ihnen von He da r fü Da n. he sc en M gehörloser


«Gehörlose Menschen können alles – ausser hören.» Gehörlosigkeit muss im Beruf keine Hürde sein Foto: privat

> Christof Sidler arbeitet als Möbelschreiner und in der Arbeitsvorbereitung der Schreinerei. Beim Ausüben seines Berufes fühlt er sich durch seine Gehörlosigkeit nicht eingeschränkt. «Es ist meine Realität, die ich nicht als Hindernis wahrnehme», sagt er. Wie sieht Ihr beruflicher Werdegang aus?

Ich habe im Wallis, wo ich aufgewachsen bin, eine Lehre als Möbelschreiner und in Zürich eine Weiterbildung mit Fachrichtung Innenarchitektur absolviert – und anschliessend immer auf dem Beruf gearbeitet.

Christof Sidler sieht keine Hürden

Warum wollten Sie Schreiner werden?

Ich habe mich bei der Berufswahl durch die IV beraten lassen. Der Berater hat mir einige Berufe vorgeschlagen. Daraufhin habe ich mehrere Schnupperlehren absolviert. Der Beruf des Möbelschreiners hat mir am besten gefallen. Aktuell arbeite ich in einer Schreinerei in der Stadt Zürich – 50% immer noch als Schreiner und 50% in der Arbeitsvorbereitung des Betriebs. Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit?

Ich arbeite sehr gerne mit Holz, das Material fasziniert mich. Meine Tätigkeit ist sehr kreativ, herausfordernd und vielseitig. Zudem gefällt es mir, zusammen mit Menschen im Team zu arbeiten. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Sie füllt mich aus. Mit welchen Herausforderungen werden Sie konfrontiert?

Ich persönlich sehe keine Hürden in mei-

Der gelernte Möbelschreiner ist 48 Jahre alt und seit seiner Geburt gehörlos. Er wohnt in Niederglatt, ist verheiratet und Vater von zwei jugendlichen Kindern. Beruflich lässt er sich durch seine Gehörlosigkeit nicht einschränken.

«Gehörlose Menschen können viele Berufe ausüben. Wichtig ist, dass sie sich durchsetzen und nie aufgeben weiterzumachen.» nem Berufsalltag. Klar, die Kommunikation mit meinen Arbeitskollegen ist etwas schwieriger, aber kein Problem. Wir

kommunizieren schriftlich, in der Gebärden- und der Lautsprache. Das ist meine Realität, die ich nicht als Hindernis wahrnehme. Gehörlose Menschen können viele Berufe ausüben. Wichtig ist, dass sie sich durchsetzen und nie aufgeben weiterzumachen. Was unternehmen Sie in Ihrer Freizeit?

Da verbringe ich viel Zeit mit meiner Familie. Das ist sehr wichtig für mich. Im Weiteren bin ich gerne mit dem Bike unterwegs, spiele Curling und Volleyball. <


2017: Gehörlose Menschen weiterhin diskriminiert Gleiche Rechte für alle? Schön wärs! > In der Schweiz garantieren mehrere Gesetze gleiche Rechte für alle. Dennoch wurden auch 2017 wieder viel zu viele gehörlose Menschen Opfer von Diskriminierungen. Als nationaler Dachverband setzen wir uns

gen sind in unserem Land vorbildlich. So hat die Schweiz die entsprechende UNOKonvention unterzeichnet. Zudem verbietet sie per Verfassung jede Diskriminierung und hat ein nationales BehindertenGleichstellungsgesetz.

Wir setzen uns seit Jahrzehnten dafür ein, den inakzeptablen Graben zu verkleinern, der für gehörlose Menschen zwischen der Rechtslage und der Realität besteht. <

vehement für gleiche Chancen von Menschen mit einer Hörbehinderung ein. Es gibt noch viel zu tun! Eine gehörlose Frau wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Pünktlich stand sie vor der Tür des Unternehmens. Doch diese war verschlossen. Weil sie die Gegensprechanlage nicht benutzen konnte, meldete sie sich mit einer Textnachricht beim Personalverantwortlichen. Dieser sagte ihr unverfroren, dass das Unternehmen keine gehörlosen Menschen beschäftigen würde. Man liess die Frau vor der Türe stehen und gab ihr keine Chance, sich vorzustellen. Nicht nur Recht haben, sondern auch Recht bekommen 2017 sind uns 52 Fälle von Diskriminierungen gehörloser Menschen gemeldet worden. Viele davon haben direkt oder indirekt mit der Ausbildung und Berufsausübung zu tun. Das ist klar zu viel. Denn die Fälle, von denen wir erfahren, sind nur die Spitze des Eisberges. Dabei wäre gesetzlich alles bestens geregelt. Denn die Rechte von Menschen mit Behinderun-

«Die Situation ist unhaltbar. Die bestehenden Gesetze müssen endlich respektiert werden: Damit wir uns viel weniger um Fälle von Diskriminierung kümmern müssen.»

Viktoria Würtz Juristin, Rechtsdienst des Schweizerischen Gehörlosenbundes

Kostenlose Rechtsberatung Unser Rechtsdienst berät gehörlose Menschen unentgeltlich in juristischen Fragen. Seine Experten besitzen Gebärdensprachkenntnisse und kennen die Kultur der Gehörlosen – zwei unabdingbare Voraussetzungen für eine angemessene Beratung. Dank ihrem spezifischen Sachwissen können sie die Rechtsuchenden bei Diskriminierungsfragen fundiert unterstützen und gangbare Lösungen finden.

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Benjamin Hofer Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 37 056 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1


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