GanzOhr Nr. 03 2018

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Thema > Gleiche Rechte für Gehörlose

September 2018

03

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Gehörlose Menschen noch immer diskriminiert > Engagement für gleiche Chancen wichtig > Was die Familie Bajram erlebt hat


Thema > Gleiche Rechte für Gehörlose

Gehörlose Menschen werden noch immer diskri Unser Engagement für Chancengleichheit ist wichtiger denn je > Jeder Mensch mit einer Behinderung hat die gleichen Rechte, Chancen Carmela Zumbach (gehörlos) Projektleiterin Fundraising Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Recht haben und Recht bekommen Ich erfahre immer wieder, dass die Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Invalidenversicherung (IV) eine zeitintensive und administrative Herausforderung ist. Eine finanzielle Unterstützung für Gebärdensprachdolmetschende, die ich für meine Arbeit, Weiterbildung und somit auch mein berufliches Weiterkommen brauche, wird mir nicht immer zugesprochen und hängt vom Ermessen der IV ab. Mein beruflicher Werdegang wird damit stark fremdbestimmt. Es ist unfair, dass ich für mein Recht auf berufliche Aus- und Weiterbildungen rechtliche Unterstützung benötige. Umso dankbarer bin ich, dass der Schweizerische Gehörlosenbund einen Rechtsdienst hat, der sich mit den Bedürfnissen von gehörlosen Menschen auskennt und helfen kann. Er unterstützt gehörlose Menschen insbesondere bei Diskriminierungen am Arbeitsplatz, in der Bildung und beim Zugang zu Informationen. Damit dieses wertvolle Engagement des Rechtsdienstes weiterhin möglich ist, benötigen wir finanzielle Mittel – und sind auf Ihre Spende angewiesen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Unterstützung.

und Zugänge zu allen Ressourcen wie alle anderen Einwohner der Schweiz. Das klingt vom Gesetz her gut – in der Praxis ist die Gleichstellung jedoch noch lange nicht erreicht. Gehörlose Menschen müssen nach wie vor für ihre Rechte kämpfen – wie zum Beispiel die Familie Bajram.

Elianna kommt von der Schule nach Hause, sie ist gehörlos. «Wir haben Sport gehabt, Volleyball gespielt. Es ist heiss gewesen, aber schön», erzählt die Siebenjährige. Nach einer kurzen Erfrischung möchte sie gleich wieder raus, im Garten mit ihrer hörenden Freundin spielen gehen. Die beiden Mädchen verständigen sich in der gesprochenen Sprache. Elianna liest die Lippen ihrer Freundin und meint: «Das geht mal besser, mal weniger. Aber wir haben viel Spass miteinander.» Gleichwertige Bildung für gleiche Chancen Elianna besucht die öffentliche Primarschule in Sonceboz-Sombeval (BE) und ist in ihrer Klasse die einzige gehörlose Schülerin. Eine solche Integration ist eine grosse Herausforderung, besonders für Elianna. Denn als Gehörlose ist die Gebärdensprache ihre Muttersprache. Für eine gleichberechtigte Schulbildung braucht Elianna vor allem in den ersten Schuljahren viel Unterstützung in Gebärdensprache. Aktuell wird sie zwei Stunden pro Woche in Gebärdensprache unterstützt und erlernt die Lautsprache mit einer Audiopädagogin*. Den Grossteil des Unterrichts ist sie nach wie vor darauf angewiesen, die Lippen der

Lehrer und Mitschüler zu lesen. Dabei ist sie stark davon abhängig, dass sich Lehrer und Mitschüler ihr beim Sprechen immer zuwenden. Umso wichtiger sind die aktuellen Unterstützungsmassnahmen, auch wenn diese noch lange nicht ausreichen. Anastasia Bajram, Eliannas Mutter, ist überzeugt, mit der öffentlichen Schule den richtigen Weg gewählt zu haben: «Unsere Tochter erhält so die Chance auf eine gleichwertige Bildung und hat damit später die gleichen Berufschancen wie Hörende. Zudem lernt sie, sich in der Welt der Hörenden zurechtzufinden.» Als Alternative wäre nur der Besuch einer Sprachheilschule in Frage gekommen, wo Kinder mit unterschiedlichen, insbesondere auch geistigen Behinderungen separat geschult werden. Elianna wäre hier in mehrfacher Hinsicht fehl am Platz. Denn ihr Potenzial steht dem einer hörenden Person in keiner Weise nach. Sich für sein Recht einsetzen Die Familie Bajram musste auf dem Weg zur schulischen Unterstützung von Elianna viele Hürden überwinden. Denn trotz gesetzlicher Regelungen ist es leider noch keine Selbstverständlichkeit, die notwendige Unterstützung in der Schule zu erhal-

* Fachperson in Pädagogik für Schwerhörige und Gehörlose, tätig in verschiedenen Formen der Schulung und Förderung von hör-

Carmela Zumbach (gehörlos)

beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen. Zum Beispiel in der Frühförderung, in der Förderung und Beratung von hörbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen in integrativen Settings (Kindergärten, Regelklassen, in der erstmaligen beruflichen Ausbildung).


iminiert ten. Die Eltern waren in ihrem Kampf um Unterstützung ihrer Tochter in der Schule auf sich allein gestellt, bis sie Unterstützung beim Schweizerischen Gehörlosenbund fanden. Lesen Sie dazu das Interview weiter hinten. Viele Eltern sind überfordert, wenn es um das Recht der gleichwertigen Schulbildung ihrer gehörlosen Kinder geht. Doch Menschen mit einer Hörbehinderung werden im Alltag auch in anderen Bereichen immer wieder diskriminiert – wie diese vier typischen Beispiele zeigen: Weiterbildung: Gehörlose Menschen können faktisch nicht selber über ihre Weiterbildungen bestimmen. Denn die IV entscheidet jeweils, ob sie die Kosten für die Gebärdensprachdolmetschenden übernimmt, ohne die eine Weiterbildung praktisch nicht möglich ist. Arbeit: Ohne Gebärdensprachdolmetschende sind Bewerbungsgespräche kaum möglich. Öffentlicher Verkehr: Fehlende visuelle Informationen verunsichern. So verstehen Gehörlose zum Beispiel Durchsagen in Bahnhöfen, Flughäfen, Zügen, Trams und Bussen nicht. Gesundheit: Bei einem medizinischen Notfall können sich gehörlose Menschen nur schwer verständlich machen. Wie gut sie das medizinische Personal verstehen, hängt von deren Verhalten und Lippenbild ab. Der Informationsaustausch ist erschwert. Damit geht wichtige Zeit verloren, was schlimme Folgen haben kann.

Unhaltbare Situation Behörden haben kaum Erfahrung in der Kommunikation mit Menschen mit einer Hörbehinderung. Sie verletzen damit aus Unwissen deren Rechte, indem sie zum Beispiel aus Kostengründen auf Gebär-

densprachdolmetschende verzichten wollen. Die Öffentlichkeit muss darauf sensibilisiert werden, was es heisst, gehörlos zu sein. Nur so wird ein funktionierendes Miteinander möglich. <

Gebärden spielerisch lernen Elianna Bajram hat ihren Freundinnen ein paar wichtige Gebärden beigebracht. Diese acht robusten Pappbüchlein mit lustigen Illustrationen haben das gleiche Ziel: Sie animieren gehörlose und hörende Kinder, ihre ersten Gebärden spielerisch zu lernen. Sie bekommen sie einzeln für CHF 11.00 pro Exemplar oder alle acht zusammen als Paket für CHF 77.00. Erhältlich in unserem Online-Shop: www.sgb-fss.ch/shop


Rat und Tat bei Rechtsfragen und Problemen Wir verhelfen gehörlosen Menschen zu ihren Rechten

> Gebärden

> Menschen mit einer Hörbehinde-

Auf http://signsuisse.sgb-fss.ch

rung werden im Alltag mit vielen Herausforderungen und Benachteiligungen konfrontiert. Unser Rechtsdienst unterstützt sie, Lösungen zu finden und zu ihrem Recht zu kommen. Die Schweiz garantiert in ihrer Verfassung gleiche Rechte für alle. Trotzdem sind auch 2017 wieder viel zu viele gehörlose Menschen diskriminiert worden: 52 Fälle hat unser Rechtsdienst im letzten Jahr allein im Bereich Gleichstellung behandelt. Fälle, die gemäss der Rechtslage nicht mehr vorkommen dürften und nur die Spitze des Eisbergs bilden.

Der Rechtsdienst interveniert, unterstützt und begleitet gehörlose Menschen bei juristischen Fragen und Diskriminierungen. Zu seinen Dienstleistungen zählen:

fin­den Sie unser einmaliges OnlineGe­bärdensprache-Lexikon. Es umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeut-

• Schriftliche oder persönliche Beratung in juristischen Fragen für gehörlose Menschen • Telefonische Auskunft für Unternehmen, Organisationen und Vereine zu rechtlichen Themen in Zusammenhang mit Gehörlosigkeit und Hörbehinderung • Unterstützung bei Fragen zu Kostenübernahmen von Dolmetschenden, Gesuchen an Behörden, Ansprüchen gegenüber der AHV/IV, Aus- und Weiterbildung sowie zum Arbeitsrecht

Hörende Menschen aufklären: «Zu viele Menschen mit einer Hörbehinderung werden abgewiesen, ausgegrenzt und diskriminiert – meistens ohne böse Absicht. Denn die hörenden Menschen wissen kaum, wie man mit Gehörlosen kommuniziert. Aus diesem Unwissen heraus verhalten sie sich oft unsensibel oder sogar widerrechtlich. Deshalb gehört es zu unseren Aufgaben, die Öffentlichkeit über die Gehörlosigkeit aufzuklären.»

sche, französische und italienische. Die Begriffe werden in einem Video vorgeführt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Ein gehörloser Mensch würde sich bei Ihnen wie folgt für Ihre Spende bedanken:

«Danke»

Bitte unterstützen Sie unseren Ein satz für gleiche Rechte und Chancen gehörloser Menschen. Herzlichen Dank! Viktoria Würtz Juristin, Rechtsdienst des Schweizerischen Gehörlosenbundes


«Nie aufgeben, wenn es um unsere Rechte geht!» Die Bajrams müssen sich für die Rechte ihrer Tochter einsetzen > Anastasia und Sejran Bajram möchten ihre gehörlose Tochter Elianna (7) in der Gebärden- und gesprochenen Sprache fördern – auch in der Schule. Das scheint selbstverständlich zu sein und ist vom Gesetz her so vorgesehen. Doch sie stossen mit ihrem Anliegen auf viele Hürden. Der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS hat die gehörlose Familie unterstützt – mit erfreulichen Folgen für Elianna! Ihre Tochter besucht die Primarschule Sonceboz-Sombeval, wo sie das einzige gehörlose Kind ist. Haben Sie sich eine

In der Familie Bajram sind die Eltern und beide Kinder gehörlos. Untereinander gebärden sie. Die Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. In der öffentlichen Schule und mit ihren hörenden Freundinnen kommuniziert die ältere Tochter Elianna in der gesprochenen Sprache. So wächst sie zweisprachig auf, was der Schweizerische Gehörlosenbund als strategisches Ziel definiert hat.

solche Integration gewünscht?

Ja. Wir haben abgewogen, sie in die Sprachheilschule St. Joseph du Guintzet in Fribourg zu schicken oder eben hier im Dorf in die Primarschule. Im St. Joseph wäre sie mit Kindern in einer Klasse, die sich vom Alter und von den Behinderungen her stark unterscheiden. So wäre sie unterfordert gewesen. Das haben wir als nicht passend erachtet und uns für die Dorfschule entschieden. Allerdings braucht Elianna hier spezielle Unterstützung. Haben Sie diese Unterstützung ohne

«Wir müssen immer wieder erklären, was es heisst, gehörlos zu sein.» der Kanton Elianna in der Krippe zuerst keine Gebärdensprachunterstützung zugestanden. Als gehörlose Familie haben wir uns in dieser Auseinandersetzung alleingelassen gefühlt und uns in unserer Not an den Schweizerischen Gehörlosenbund gewendet.

Weiteres erhalten?

Nein, überhaupt nicht. Wir hatten schon vorher, als Elianna mit drei Jahren in die Kinderkrippe eintrat, mit der Unterstützung Probleme. Wir mussten der Krippenleitung erklären, was es heisst, gehörlos zu sein, und wie wichtig es ist, in der Gebärdensprache gefördert zu werden. Das ist unsere Muttersprache. Das Wissen darüber ist kaum vorhanden. So hat

Welche Herausforderungen hat es beim Schuleintritt gegeben?

Wir mussten wieder um Unterstützung kämpfen und kamen erneut dank der Hilfe des Gehörlosenbundes zu unserem Recht. Heute steht Elianna im Schulunterricht teilweise eine Gebärdensprachlehrerin zur Seite. Zudem erhält sie von einer Audiopädagogin Unterstützung in der Lautsprache. Bevor der Kanton seiner Zahlungspflicht nachgekommen ist, hat der Schweizerische Gehörlosenbund einen grossen Teil dieser Kosten übernommen. Wir sind ihm wirklich sehr dankbar.

Wie hat er Ihnen geholfen?

Der Schweizerische Gehörlosenbund hat uns über unsere Rechte aufgeklärt und uns insofern unterstützt, dass der Kanton die Kosten für Gebärdensprachunterstützung übernommen hat. Unsere Tochter hat sich in der Kinderkrippe dann auch gut entwickelt und ihre Kommunikationsfähigkeit stark verbessert.

Bald kommt Angèlina, Ihre jüngste Tochter, in den Vorkindergarten …

Genau. Nun sind wir jedoch besser auf die Situation vorbereitet. Elianna besucht die öffentliche Schule, was trotz der Herausforderungen gut funktioniert. So blicken wir zuversichtlich auf den Weg, den Angèlina nun gehen wird. <


Volle Teilhabe am Leben ist ein Menschenrecht Gesetze schützen die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Lebensbereichen gleiche Rechte

gleichheit, Achtung der Autonomie des Einzelnen, Schutz vor Ausbeutung und den Respekt von Menschen mit Behinderung. Zudem verbietet der Artikel 8 unserer Bundesverfassung jede Diskriminierung aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Und das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) sollte Rahmenbedingungen schaffen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, selbstständig am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Insbesondere, dass Menschen mit einer

für alle. Dies soll unter anderem die volle Inklusion gehörloser Menschen in der Gesellschaft ermöglichen. Lernen Sie die wichtigsten Gesetze kennen. Die Schweiz hat die Konvention der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UNO-BRK) unterzeichnet. Damit anerkennt sie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Chancen-

«

Hörbehinderung eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Kommunikation erlernen dürfen. Mit ihren Gesetzen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gehört die Schweiz zu den besten Ländern in der Welt. Theoretisch. Denn der Alltag zeigt: Gesetze allein machen das Leben gehörloser Menschen nicht besser. Deshalb setzen wir uns stark dafür ein, dass die Gleichstellung auch wirklich gelebt wird. <

gegen die hörlosenbund kämpft Ge e ch ris ze ei hw Sc r De tige Menschen. Dieses wich er os rl hö ge ng gu ili te Benach Spende. tze ich gerne mit einer tü rs te un t en m ge ga En bourg

Guillaume Crausaz, Fri

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Stephan Engler Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 60 000 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1

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> In der Schweiz gelten in allen


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