Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS
März 2019
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ganzOHR
Gehörlose Kinder früh fördern Kinderlager
Silvio Janner, Lagerleiter
Einmal mittendrin sein und voll dazugehören
«Freude und Selbst bewusstsein der Kinder stärken.»
Einmal mittendrin sein un dazugehören In unseren Kinderlagern erleben gehörlose, schwerhörige und hörende Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren gemeinsam Abenteu er und schliessen Freundschaften. Die gehörlosen Kinder sind für ein mal voll dabei und fühlen sich nicht ausgeschlossen. Werfen Sie einen Blick in unser letztjähriges Herbstlager im Zürcher Weinland.
Gemeinsam viel erleben und lernen Was ist für schwerhörige und gehörlose Kinder etwas vom Schönsten? Unsere Kinderlager! Da sind sie eine Woche lang unter ihresgleichen und für einmal nicht die oder der «Gehörlose». Das unbeschwerte Zusammensein macht Spass und es verbessert die Kommunikationsfähigkeit und das Selbstbewusstsein der gehörlosen Kinder. An unseren Lagern nehmen auch hörende Kinder teil. Diese Durchmischung fördert den selbstverständlichen Umgang miteinander. Immer wieder entstehen so wertvolle Freundschaften, die weit über das Lager hinaus Bestand haben. Kommuniziert wird in den Lagern vor allem in der Gebärdensprache, der Muttersprache der Gehörlosen, aber auch in der gesprochenen Sprache. Diese Zweisprachigkeit zu fördern, gehört zu unseren wichtigen Anliegen. Denn sie ist für die Entwicklung gehörloser Kinder von gros ser Bedeutung. Um die Kinderlager für alle Familien erschwinglich zu machen, übernehmen wir einen Teil der Kosten. Damit dies auch in Zukunft möglich ist, sind wir auf private Spenden angewiesen. Dürfen wir wieder auf Ihre Unterstützung zählen? Dafür danken wir Ihnen von Herzen!
Véronique Murk (gehörlos)
Ein Herbstmorgen im Zürcher Wein land, Nebel senkt sich über die Auen landschaft zwischen der Thur und dem Rhein. Der Wydhof bei Flaach liegt ruhig in der weiten Landschaft. Doch die Ru he täuscht. Denn im Werkraum des Bau ernhofs herrscht bereits emsiges Trei ben. Kinder stehen um einen grossen Tisch und formen und dekorieren farbi ges Marzipan. Muffins werden es sein, wenn das Gebäck später aus dem Back ofen kommt. Einige Kinder sind in ihre Tätigkeit vertieft, andere rennen aufge regt hin und her und zeigen den Gspänli ihre Meisterwerke.
Foto: Lua Leirner
Véronique Murk Verantwortliche Familie und Bildung SGB-FSS
«Hier halten alle zusammen. So soll es auch sonst im Leben sein.» Zora, 13
«Wir werden auch nach dem Lager Freunde bleiben.» Anja, 9
Wir sind in einem Kinderlager. Einem normalen Kinderlager? Auf den ersten Blick schon. Doch wenn sich die Kin der etwas sagen oder jemanden von den Leitern etwas fragen, machen sie das in der Gebärdensprache. Denn die meisten Kinder und Leiter sind schwerhörig oder gehörlos. Wie die neunjährige Anja – sie erzählt begeistert: «Gestern haben wir ein Bienenhaus besucht. Das war span nend. Zum Glück hat uns keine Biene gestochen!» Nun freut sie sich auf den Besuch im Hallenbad, der am nächsten Tag auf dem Programm steht.
Im Gegensatz zu Anja kann die drei zehnjährige Zora hören. Trotzdem kom muniziert sie ganz selbstverständlich in der Gebärdensprache, denn ihre Mutter ist gehörlos. Sie sagt: «Ich bin schon zum fünften Mal in einem solchen Lager, die ich total lässig finde. Es gefällt mir, dass gehörlose und hörende Kinder und Er wachsene hier beisammen sind und es gut miteinander haben. Hier fühlt sich niemand ausgeschlossen. So soll es auch sonst im Leben sein.» Stolz erwähnt sie noch, dass ihre Mutter Kinderbücher zum Erlernen der Gebärdensprache schreibe. Luan Martin ist neun Jahre alt und schwerhörig. Er ist mit seinem Bruder
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«Die heterogenen Gruppen haben sich zu einer Gemeinschaft gefunden. Das ist spannend.» Fabio Feller, Leiter
Meron, der zwei Jahre älter und hörend ist, im Lager. Luan sagt: «Nun haben auch unsere Eltern mal eine Woche frei, das finde ich schön. Es ist der Plausch hier, vom Morgen bis zum Abend.» Wann werden am Abend denn die Lich ter gelöscht? Meron antwortet: «Eigent lich sollte um neun Uhr Ruhe sein», und ergänzt mit einem Schmunzeln: «Das ist aber nicht immer so.»
Fabio Feller gehört zum vierköpfigen Be treuungsteam – als einziger kann er hö ren. «Sollte es einen Notfall geben, ist das praktisch», meint er. «Zudem kommt es ab und zu vor, dass ein hörendes Kind spontan in der gesprochenen Sprache spricht. Grundsätzlich kommunizieren wir im Lager jedoch in der Gebärden sprache. Sie ist hier die normale Sprache und nicht, wie sonst oft, die fremde.» Die
Kinder geniessen das nicht nur sehr, sie verbessern auch ihre Fähigkeit, in der Ge bärdensprache zu kommunizieren. Fa bio Feller macht das erste Mal in der Lei tung eines unserer Kinderlager mit. Das Miteinander von gehörlosen, schwerhö rigen und hörenden Menschen fasziniert ihn: «Trotz aller Unterschiede bilden wir hier eine Gemeinschaft. Das ist schon ein starkes Gefühl, vor allem für die gehör losen Kinder. Sie fühlen sich bei den Ak tivitäten im Lager gleichwertig und stär ken so ihr Selbstwertgefühl. Das ist für ihre Entwicklung enorm wichtig.» Lua Leirner ist schwerhörig und gehört ebenfalls zum Leitungsteam. Sie ist von Beruf Grafikerin und bastelt, spielt und fotografiert mit den Kindern. Sie schätzt es, dass sie im Lager ihre Kreativität aus leben und die Kinder damit anstecken kann. Lua Leirner spricht fünf Gebärden sprachen, obwohl sie die erste erst spät gelernt hat. Sie sagt: «Ich freue mich, dass die Kinder hier neugierig auf die Gebärdensprache sind. Je besser sie die se beherrschen, desto einfacher haben sie es im Leben – beim Kommunizieren, Lernen und Finden ihrer Identität.»
Grosses Engagement für Kinder und Familien Unser Programm für die Förderung gehörloser Kinder umfasst nicht nur die Kinderlager. Besonders am Herzen liegt uns, dass die Kinder schon früh die gesprochene und die Gebärdensprache lernen, damit sie sich in Familie, Schule und Freizeit in jeder Situation verständigen können. Gehörlose Kinder, die mit der Gebärdenund der gesprochenen Sprache aufwach sen, entwickeln ihr Potenzial besser. Sie können ihre Gefühle und Wünsche aus drücken, in jedem Umfeld situationsge recht kommunizieren und sich in der Kultur der Gehörlosen und jener der Hö renden entfalten. Das ist für ihre geisti ge und seelische Entwicklung elemen
tar. Werden sie zudem in beiden Spra chen unterrichtet, können sie sich den gleichen Schulstoff aneignen wie hören de Kinder und haben somit eine bessere Chance auf eine gute Ausbildung – die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Idealerweise lernt ein gehörloses Kind die Gebärdensprache schon im Klein kindalter, wo man sich Sprachen noch einfach aneignet. Natürlich sollten alle Familienmitglieder gebärden können, damit man sich versteht. Unsere Heim kurse helfen mit, dies sicherzustellen.
Gebärden Auf http://signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges OnlineGebärdensprach-Lexikon. Das visuelle Wörterbuch umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeutsche, die französische und die italienische. Die Begriffe werden in einem Video vorgeführt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Passend zum Thema dieser «Ganzohr» Ausgabe zeigen wir Ihnen die Gebärde für «Zukunft». Weil den Kindern die Zukunft gehört!
Heimkurse: Sich gegenseitig verstehen In unseren Heimkursen lernt ein gehörloses Kind zusammen mit seinen Eltern, Geschwistern und Ange hörigen die gemeinsame Familiensprache – die Gebärdensprache. Die Kurse finden im Familienalltag statt.
«Zukunft»
Die gehörlose Lehrperson besucht die Familie zu Hause und trainiert dort mit allen die Gebärdensprache. Dabei nimmt das gehörlose Kind die Lehrperson als Vorbild wahr.
r vor ent für Kinde m e g a g n E r n unse Sie Wir finanziere en Dank, dass ch li rz e H . n e n Spend allem mit Ihre ! unterstützen uns weiterhin
«Freude und Selbstbewusstsein der Kinder stärken.» Silvio Janner hat unser Herbstlager 2018 in Flaach geleitet. Der gelernte Koch ist selbst gehörlos und weiss, wie wichtig es ist, dass gehörlose Kinder schon früh gefördert werden: vor allem ihr Selbstbewusstsein und ihre Fähigkeit zu kommunizieren. Unsere Kinderlager leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Herr Janner, was motiviert Sie, bei den Kinderlagern des Schweizerischen Gehörlosenbunds mitzumachen?
Es macht mir vor allem Spass, denn ich bin gerne mit Kin dern zusammen. Meine eigenen Kinder sind schon etwas älter und hörend. Hier erlebe ich eine jüngere Generation – und die meisten Teilnehmer sind schwerhörig oder ge hörlos. Zudem erachte ich Freiwilligenarbeit im sozialen Bereich als etwas Sinnvolles. Hat es in Ihrer Kindheit auch schon solche Lager gegeben?
Nein, leider nicht. Ich war schon 15 Jahre alt, als ich zum ersten Mal an einem Jugendlager teilnahm. Es ist wichtig, dass es heute Lager für jüngere Kinder gibt. Denn sie sind nicht nur der Plausch, sondern machen die Kinder auch selbstbewusster und fördern ihre Fähigkeit, miteinander und mit uns Leitern zu kommunizieren. Was sind für Sie die wichtigsten Ziele solcher Lager?
der Lager. Jede Gruppe verwendet in ihrem Alltag ja ihre eigenen Kommunikationsformen. Wir stellen klare Re geln auf. Im Vordergrund steht die Gebärdensprache, die natürliche Sprache von uns Gehörlosen. Wer sich in der gesprochenen Sprache mitteilt, soll seinem Gegenüber ins Gesicht schauen und langsam und deutlich Schrift deutsch sprechen. Weitere Formen, die in den Lagern vor kommen, sind das Fingeralphabet und das Aufschreiben von Mitteilungen auf Zetteln. Welche Erfahrungen haben Sie mit nach Hause genommen?
Viele positive Erlebnisse und gute Stim mungen. Wir haben zusammen viel er lebt und gelacht. Doch wichtiger ist, was die Kinder mit nach Hau se genommen haben. Sie haben das Lager fröhlich und selbstbe wusst verlassen und gesagt: «Es war toll, wir kommen wieder!»
Die Kinder sollen unbeschwerte Tage geniessen und sich unabhängig von ihrem Hörstatus ein bringen und austauschen können. Alle sollen ein fach Kinder sein. Das ist gerade für die gehörlosen Kinder wichtig, die sich in ihrem Alltag oft als Au ssenseiter fühlen. Im Herbstlager 2018 haben sie zu dem das Leben auf einem Bauernhof kennengelernt. Wir haben zusammen gespielt, gebastelt, geba cken und Ausflüge gemacht, zum Beispiel eine Biberexkursion an den nahen Rhein. Wie kommuniziert man in den Lagern miteinander?
Das Fördern einer angemessenen Kom munikation unter den gehörlosen, schwerhörigen und hörenden Teilneh mern ist ein weiterer wichtiger Aspekt
Silvio Janner arbeitet als Koch und hat schon zweimal in der Leitung unserer Kinderlager mitgemacht. Er und seine Frau sind gehörlos. Sie haben zwei hörende Kinder von 15 und 18 Jahren.
«Rot ist Grün … für Freunde» Eine Freundschaft mit einem stillen Geheimnis Was für eine Quälerei für Ismene, wenn sie morgens in aller Frühe aufstehen muss! Doch die Fahrt mit dem Schulbus hält unglaubliche Überraschungen bereit, wenn zwei Kindergesichter an der Scheibe kleben und sich gegenseitig zuwinken. Kann diese Freundschaft hal ten, auch mit einem stillen Geheimnis? Zwei Kinder im Schulbus. Jedes für sich. Die beiden Busse halten an der Ampel und die Kinder sehen sich. Das wieder holt sich fast täglich. Langsam fangen das Mädchen und der Bub an, sich gegensei tig wahrzunehmen. Sie freuen sich auf diesen Augenblick vor ihrem Schulall tag. Mit Händen, Bildern und Mimik kommunizieren sie von Bus zu Bus – bis sie sich eines Tages persönlich kennen lernen. Doch welche Überraschung, der Bub ist gehörlos. Doch spielt das eine Rolle, wenn sie gelernt haben, sich auch ohne Worte zu verständigen?
Frantzeska Alexopoulou-Petraki hat diese berührende Kindergeschichte geschrie ben. Die Illustrationen stammen von Ma ria Tzamboura.
Aus dem Griechischen übersetzt von Doris Wille. Ausgezeichnet mit dem «Griechischen Staatspreis für Illustrationen», dem «Pinelopi Maximou-Preis». 28 Seiten mit vielen Illustrationen. Für Kinder ab drei Jahren. Preis: CHF 27.00 Erhältlich in unserem Online-Shop: www.sgb-fss.ch/shop
Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Staffel Medien AG / Beny Hofer Gestaltung: www.designport.ch. Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 36 527 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1