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Oliver Schnyder, Klavier
DEN UNSICHTBAREN RAUM FÜLLEN
VON ALAIN CLAUDE SULZER Zu diesem Gespräch traf der Schriftsteller Alain Claude Sulzer den Pianisten Oliver Schnyder nach einem musikalischen Ereignis der besonderen Art. Oliver Schnyder hatte am letzten Augustwochenende in der Villa Morillon bei Bern die Goldberg-Variationen gespielt. Nicht zum ersten Mal und nicht nur einmal, sondern an zwei Tagen gleich je zweimal hintereinander. Nach den vier Konzerten fand der Pianist Zeit, sich mit dem Autor über Beethovens letztes Klavierkonzert zu unterhalten und darüber, wie man sich ein solches Werk aneignet.
ACS Wie gelingt es Dir, ein so anspruchsvolles Programm wie Bachs mit nichts zu vergleichendem Meisterwerk gleich zweimal an einem Tag zu bewältigen? OS Dank guter mentaler Vorbereitung und gescheiter Ernährung. Ein Publikum wie das hier angetroffene trägt einen viel stärker, als man es vielleicht denken würde. Eine so unerhörte Aufmerksamkeit, die gespannte Stille, geben mir die Kraft ‹dranzubleiben›.
ACS Es war der durch Corona bedingte
Lockdown, der Dir die Möglichkeit eröffnete, dieses musikalische Monster so einzustudieren, dass es unter
Deinen Händen klingt, als wärst Du von klein auf damit vertraut. Hatte
Corona für Dich also auch seine guten Seiten? OS Ja, die Beschäftigung mit Bach hat mich durch den ersten Lockdown getragen. Bundespräsidentin Sommaruga kam bei ihrer Ansprache am 16. März 2020 früh auf die Einschränkungen zu reden, welche die Kultur im Besonderen zu bewältigen haben würde. Mich hat das berührt, und es gab mir den Impuls, die Variationen aufs Notenpult zu stellen. Jetzt hatte ich endlich Zeit dafür.
INTERVIEW hovens aufgenommen hast, bereits ein längeres Gespräch über den Zyklus geführt. Wir waren uns einig, dass ein ‹danach› in dieser Gattung für andere Komponisten nicht gerade leicht war. War das 5. Klavierkonzert auch für Beethoven ein ‹Abschluss›, der nicht zu überbieten war? Oder ist das Denken in Zäsuren eine Unart der Nachgeborenen? OS Beides, denke ich. Beethoven war zwar schon zu Lebzeiten eine Legende, aber noch nicht die überlebensgrosse Figur, zu der er postum wurde. Mit seinem Ableben war auch er in erster Linie ein toter Komponist. Den Blick richtete man nach vorne, was auch für die damals aufkommenden jungen Komponisten wie Weber, Mendelssohn Bartholdy, später Schumann, Chopin und Liszt galt, die sich bei aller Bewunderung von Beethoven abgrenzen wollten und mussten. Sie hatten wohl stärker mit der Leere des unbeschriebenen Notenpapiers zu kämpfen als mit dem erdrückenden kompositorischen Erbe. Erst viele Jahre später war es der junge Brahms, der den Ball aufnahm und nach mehreren Leidensphasen eine persönliche Entsprechung zu den Idealen der späten Wiener Klassik fand.
ACS Beethoven hat bei seinem 5. Klavierkonzert, anders als bei seinen früheren Klavierkonzerten und anders als bei der Mehrzahl seiner Sonaten, sehr genaue Interpretationsangaben gemacht. Wollte er damit allzu willkürlichen Interpretationen einen
Riegel vorschieben? OS Bestimmt! Der zunehmend taube Beethoven war – nachdem die Krankheit seine Virtuosenkarriere beendet hatte – auf Pianisten angewiesen, die seine Werke zu Gehör brachten. Die minutiösen Vortragsbezeichnungen waren das Mittel, um die Chancen für eine adäquate Umsetzung seiner Intentionen zu erhöhen.
OLIVER SCHNYDER
8 ACS Wie frei fühlst Du Dich selbst, wenn
Du dieses Konzert spielst? Ist Freiheit überhaupt ein anwendbarer Begriff, wenn es um die Interpretation eines so genau notierten Notentextes geht? OS Natürlich! Vortragsbezeichnungen in der Partitur können nicht absolut angewendet werden wie Mengenangaben in Kochrezepten.
ACS Wie frei fühlst Du Dich denn grundsätzlich gegenüber einem Notentext? Die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten ist ja sehr weit, wie wir wissen. Sie reicht von ‹ausbuchstabiert› bis zu ‹exzentrisch›.
Wo verortest Du Dich da? OS Ich sehe mich als Interpreten, der den Komponisten unterstützt. Dazu gehört, dass ich mich mit jedem notierten Detail analytisch und emotionell so intensiv befasse und damit über längere Zeit ‹schwanger gehe›, bis sich mein pianistischer Körper einen Reim darauf machen kann, sobald er am Klavier sitzt. Die Partitur ist abstrakt, der Reim dagegen sinnlich, da er in der Echokammer persönlichen Erlebens entsteht. Wenn ich Beethoven im Konzert spiele, habe ich das Stadium des Ausbuchstabierens, die Bestandsaufnahme sämtlicher notierter Informationen, metabolisiert. Jetzt herrscht ‹informierter Ausdruckswille› vor, was in Deinen Ohren womöglich exzentrisch klingt.
ACS Spannt sich dabei so etwas wie ein ganz persönlicher Draht zu Beethoven? Sprichst Du mit ihm, wenn
Du ihn spielst? OS Ich spreche nicht mit ihm, höchstens mal fragend, hadernd oder verzweifelt zu ihm. Aber seine Musik spricht durch mich. Ohne einen ‹persönlichen Draht› wäre ich nur eingeschränkt fähig, mich seinem Werk gegenüber so zu öffnen, dass ich mich mit Haut und Haaren darauf einlassen kann. Interpreten sind unersetzlich, ohne uns kommt die Musik nicht zum Klingen. Aber die musikalischen Gedanken entspringen der geistigen Welt eines anderen. Somit bin ich eine Art Botschafter, der lieben, respektieren und verteidigen muss, was er vertreten soll. Und dafür kämpfen!
INTERVIEW ACS Es kann aber auch passieren, dass einem die eine oder andere geistige oder musikalische Welt verschlossen bleibt? Beethoven hat Dir diesbezüglich nie Probleme bereitet? OS Manchmal schon, doch. Aber die gründliche Beschäftigung bringt in meinem Fall immer ein gewisses Mass an persönlicher Identifikation und emotionaler Nähe. Beethoven stellt einen freilich immer vor Probleme. Deren Überwindung schafft unablässig neue Hindernisse. Viele seiner Werke fordern mehr ein als das, was man während eines Musikerlebens einlösen kann. Aber seine Ausdruckswelt und die Geisteshaltung, die sie offenbaren, liegen mir nahe.
ACS Für viele scheint diese Ausdruckswelt allerdings Lichtjahre von unserer entfernt. OS Für mich spricht sein Werk von den universalen Dingen und den grossen Fragen unserer Existenz. Waren sie jemals relevanter als heute? Die Ausdrucksmittel, die Beethoven zur Verfügung standen, waren zwar andere, aber wir sollten sie nicht mit der Aussage verwechseln, die sie transportieren.
ACS Mit anderen Worten: Beethoven ist
Dir, wenn Du ihn spielst, so nah, als wäre er da; ist er das? Du spielst ihn, während er Dich spielt? OS Eine aufgrund des Gesagten logisch erscheinende Schlussfolgerung! Aber ich muss Dich enttäuschen: Das Werk spielt mich − um bei Deinem Bild zu bleiben −, nicht der Mensch, der dahintersteht. Oder besser: Es spielt das, was ich von dessen Substanz zu spiegeln vermag.
OLIVER SCHNYDER
9 sonate – immer wieder öffentlich gespielt und wirst sie demnächst sicher auch aufnehmen. Verglichen damit ist ein Klavierkonzert – salopp gesagt – vermutlich ein Spaziergang.
Wenn es denn so ist: Erleichtert das
Zusammenspiel von Orchester und
Solist, das Musizieren? Oder lauern auch hier ungeahnte Gefahren? Man trifft auf viele Unbekannte … OS Jedes Werk Beethovens stellt den Interpreten vor ganz spezifische Herausforderungen, keine zwei Werke sind im Wesen wirklich miteinander vergleichbar. Sie alle erfordern zu ihrer Bewältigung ein massgeschneidertes Arsenal an technischen beziehungsweise klanglichen Mitteln. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass pianistische Anstrengung und Überwindungskraft ein zentrales Ausdrucksmoment sowohl in der Hammerklaviersonate als auch im Emperor Concerto sind. Beide Werke zielen im Klaviersatz auf eine bis dahin kaum gekannte orchestrale Wirkung, die sich im Es-Dur-Konzert durch die Verschmelzung mit dem tatsächlich mitagierenden Klangkörper noch vervielfacht. Das Klavier ‹konzertiert› nicht mehr wie bis dato, sondern wird zu einem Primus inter Pares im sinfonischen Miteinander. Den unsichtbaren Raum zu füllen, den der Solist dabei einzunehmen hat, ist leider alles andere als ein Spaziergang…
ACS Dann also eher die Besteigung eines
Fünftausenders! Und ähnlich wie bei einer solchen weiss man auch im Fall eines Konzerts kaum je, was einen erwartet. Man trifft sich zwar mit
Gleichgesinnten, die dasselbe Ziel vor Augen haben, aber doch mit unterschiedlichen Vorstellungen ans
Werk gehen: Wo geniesst man die
Aussicht, wo beeilt man sich, was zieht die Aufmerksamkeit des einen an, was die des anderen? Da kann die Luft auch ganz schön dünn werden, oder? OS Ja. Man darf bei allem gebotenen heiligen Ernst aber nicht vergessen, dass wir im Grunde nur Musik machen. Alle spielen all in, setzen sämtliche Jetons – ungeachtet der grossen Absturzgefahr – auf einen musikalischen Moment, der dem Werk Genüge tun soll. Glücklicherweise kann man ihm – auch im ungünstigsten Fall – über diesen Moment hinaus nichts anhaben!