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von Sigfried Schibli
VOLLENDUNG IN REPINO
VON SIGFRIED SCHIBLI Karelien war im Lauf der Jahrhunderte unterschiedlichen Herrschaften unterworfen und ist heute zwischen Russland und Finnland geteilt. Die ursprünglich finno-ugrische Bevölkerung wurde in der Zeit, als Finnland eine russische Provinz war, weitgehend vertrieben. Während des Zweiten Weltkriegs war Karelien heftig umkämpft. Im ‹Winterkrieg› 1939/40 zwischen Finnland und der Sowjetunion fiel ein Grossteil Westkareliens an die Sowjetunion, wurde im ‹Fortsetzungskrieg› von Finnland zurückerobert, fiel danach aber erneut an die UdSSR.
Repino ist ein Ort am Finnischen Meerbusen in Karelien, der wie ganz Karelien eine wechselhafte Geschichte hat. Die rund 45 Kilometer nordwestlich vom Stadtzentrum des ehemaligen Leningrads gelegene Gemeinde hatte vor der russischen Besetzung Kareliens zu Finnland gehört und Kuokkala geheissen. Seit dem ‹Pariser Frieden› von 1947 gehörte sie wieder zur Sowjetunion. In Kuokkala hatte bis zu seinem Tod der bedeutende russische Maler Ilja Repin (1844–1930) gelebt. Er nannte das von ihm selbst entworfene Haus nach den römischen Hausgöttern ‹Penates› oder russisch ‹Penaty›. Zu Ehren Ilja Repins benannten die Sowjets den Ort Kuokkala 1948 in Repino um. Dort entstand weitgehend die 15. und letzte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Schostakowitsch hatte schon in den Dreissigerjahren eine Villa in Repino bewohnt, die ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war. Das Haus brannte im Zweiten Weltkrieg ab, aber Schostakowitsch hatte weiterhin eine Datscha in der Nähe von Moskau. Nach dem Krieg unterhielt der sowjetische Komponistenverband in Repino eine Art von Feriendorf für Künstler. Zwischen 1961 und seinem Todesjahr 1975 hielt sich Schostakowitsch fast jeden Sommer im ‹Haus der Komponisten› in Repino auf. Vor allem sein Spätwerk ist untrennbar mit dem Namen dieses Seebads verbunden.
ORTSGESCHICHTEN
Es ist bekannt, dass Schostakowitsch unter den Sowjets viel zu leiden hatte, weil seine Musik nicht dem Ideal des ‹sozialistischen Realismus› entsprach. Er wurde vor allem nach der Uraufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk von höchster Stelle angefeindet und des ‹Formalismus› und der ‹Dekadenz› beschuldigt. Gleichwohl sollte man sich vor allzu groben Vereinfachungen hüten. Schostakowitsch genoss einige Privilegien, er wurde mit zahlreichen Ehrungen, Preisen und Kompositionsaufträgen bedacht, und seine Werke wurden ernst genommen. «Ich konnte mich nie im Leben über fehlendes Interesse an meiner Musik in meinem Heimatland beklagen – sie wird viel aufgeführt, und die Dirigenten nehmen sie oft, vielleicht unverdientermassen oft, in die Programme der Sinfonie- und Kammermusikkonzerte auf», schrieb der Komponist im Rückblick auf einen Aufenthalt in Edinburgh, wo zu seinen Ehren 1962 ein Musikfestival ausgerichtet worden war. Nachdem er sich im künstlerischen Ausdruck zum Schein und mit viel Geschick dem Ideal des ‹sozialistischen Realismus› angenähert hatte, war sein Schaffen in der Sowjetunion durchaus anerkannt. Es gab Schostakowitsch-Festivals im In- und im Ausland, er erhielt Preise und Auszeichnungen, aber als eine Schule in Gorki ihren Musikklub nach ihm benennen wollte, lehnte der Komponist ab und empfahl der Schule, den «grossen russischen Komponisten Modest Mussorgski» als Namenspatron zu wählen.
In Kuokkala oder eben Repino am Finnischen Meerbusen schrieb Schostakowitsch an der Filmmusik zu König Lear und an seinen letzten Streichquartetten. Dort vollendete er im Juli 1971 seine 15. Sinfonie, die seine letzte werden sollte. Schostakowitsch war damals fast 65 Jahre alt, und er kämpfte schon seit vielen Jahren gegen ernsthafte Krankheiten. Zwar konnte er sich von einem Herzinfarkt, den er fünf Jahre zuvor erlitten hatte, einigermassen erholen. Aber im September 1971 erlitt er einen zweiten Infarkt, und eine zunehmende Muskelschwäche – eine Art von Poliomyelitis – erschwerte ihm das Schreiben und das Klavierspielen. Umso bemerkenswerter, dass er seine letzte Sinfonie, sein letztes Instrumentalkonzert (das 2. Violinkonzert), seine letzten
Dmitri Schostakowitsch mit seiner Frau Irina in Repino (Ende 1960er-Jahre)
Streichquartette und seine letzte Filmmusik allesamt in Repino vollenden konnte.
Heute ist das frühere Künstlerdorf Repino ein luxuriöser Vorort von Sankt Petersburg und ein beliebtes Ausflugsziel mit mehreren Hotels und der als Museum dienenden Villa ‹Penaty› mitsamt Park als grösster Sehenswürdigkeit.