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Michail Jurowski, Leitung
MICHAIL JUROWSKI IM GESPRÄCH
VON CHRISTA SIGG Fällt der Name Jurowski, muss man erst fragen: welcher? Der Dirigent Michail Jurowski kommt aus einer Musikerdynastie und ist wiederum der Vater von Wladimir und Dmitri Jurowski, die eine genauso steile Karriere am Pult hingelegt haben. Es ist der 75-jährige Senior, der nach Basel kommt, mit einem Programm, das kaum besser zu ihm passen könnte. Ein Gespräch über alte Familienfreunde, politische Brillen und das Lesen zwischen den Zeilen.
CS Herr Jurowski, Sie kennen Dmitri
Schostakowitsch seit Ihrer Kindheit und haben sogar Klavier mit ihm gespielt. Wie kam das? MF Ja, ich sage immer, Schostakowitsch hat mich früher gekannt als ich ihn. In meiner Familie sind die Künstler ein und aus gegangen, David Oistrach, Prokofjew... lauter bedeutende Leute. Aber für mich als Kind war das völlig normal, ich kannte es ja nicht anders. Schostakowitsch und mein Vater, der selbst Komponist war, haben sich im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Beide wurden nach Kuibyschew, das heutige Samara, evakuiert. Und bis zu Vaters Tod 1972 war das eine sehr freundschaftliche Beziehung voller gegenseitigem Respekt.
CS Welchen Eindruck hat Schostakowitsch auf Sie gemacht? MF Das ist schwierig zu sagen. Auf der einen Seite kam er sogar an meinem Geburtstag vorbei und hat dann einmal mit Chatschaturjan Tischhockey gespielt – das bekam ich damals geschenkt. Auf der anderen Seite verstand ich schon als Kind, dass er eine grosse, besondere Persönlichkeit ist. Wahrscheinlich hat mich das auch daran gehindert, ihn als Mensch wahrzunehmen.
MF Tschaikowski! Da war ich aber schon etwa sechzehn Jahre alt. In der Sowjetunion gab es spezielle Zentren für Komponisten, wo sie sich erholen und in Ruhe arbeiten konnten. Meine Familie war regelmässig in Rusa, und natürlich wurde dort viel musiziert. Gelegentlich kam auch Schostakowitsch, der das gemeinsame Spiel sichtlich genossen hat. Einmal wurde der Klavierauszug von Tschaikowskis 4. Sinfonie ausgesucht, und ich war plötzlich als zweiter Klavierspieler gefragt. Sie dürfen mir glauben, dass das ein ganz besonderes musikalisches Erlebnis war!
CS Sie gelten längst als Spezialist für
Schostakowitsch. Fühlen Sie sich seinem Werk besonders verpflichtet? MF Das ist sicher so. Ich habe das Gefühl, dass ich bei ihm ‹zwischen den Zeilen› lesen kann, wahrscheinlich spüre ich deshalb auch, was ihn beim Komponieren beschäftigt und bewegt hat. Ich bin seiner Musik sehr nahe, weil ich weit mehr als die Partitur vor mir habe.
CS In Basel dirigieren Sie die 15. Sinfonie, zu der Sie eine aussergewöhnliche Beziehung haben. MF Oh ja! Ich durfte die Proben zur Uraufführung Ende 1971, Anfang 1972 begleiten. Damals war ich Assistent von Gennadi Roschdestwenski, meinem unvergesslichen Lehrer beim Grossen Rundfunksinfonieorchester der UdSSR. Das Konzert dirigierte dann allerdings Schostakowitschs Sohn Maxim, der Komponist wollte das so. Nach der Uraufführung bat mich Schostakowitsch, mit sämtlichen Orchesterstimmen zu ihm nach Hause zu kommen, um den Druck der Partitur vorzubereiten. Zwei Wochen lang haben wir intensiv zusammengearbeitet, deshalb kenne ich dieses Stück bis in jedes Detail und Schostakowitschs Haltung dazu.
INTERVIEW CS Die 15. ist Schostakowitschs letzte
Sinfonie. Darf man sie als Rückblick auf ein Leben voller Tiefen und mit einigen Höhen verstehen? Oder als
Abrechnung? MF In seiner 14. Sinfonie setzt sich Schostakowitsch mit dem Tod auseinander, aber die 15. ist ein bewusster Abschied von seinem Leben, alles dreht sich um seine Visionen.
CS Man hört dabei auch eine Art Rekapitulation der Musikgeschichte. Auf
Wagner etwa oder Rossini. MF In dieser letzten Sinfonie nahm Schostakowitsch nicht nur Abschied vom Leben, sondern genauso von der musikalischen Welt, die er so sehr geliebt hat. Man denke an die Motive aus Wagners Tristan und natürlich aus der Götterdämmerung. Zu den Zitaten aus Rossinis Wilhelm Tell hat mir Schostakowitsch selbst eine schöne Begebenheit erzählt: In seiner Kindheit konnte er von seinem Zimmer aus auf den Stadtpark blicken, wo jeden Tag eine Blaskapelle die Tell-Ouvertüre gespielt hat – mit vielen falschen Tönen. Schostakowitsch hasste diese Musik, aber später hat er dann sehr wohl verstanden, dass sie genial ist. Insofern sind die Zitate aus Wilhelm Tell eine Entschuldigung und zugleich eine Verbeugung vor Rossini.
CS In Schostakowitschs letztem Werk, einer Sonate für Viola und Klavier, verneigt er sich vor Beethoven, der eine wichtige Rolle für ihn spielte.
Haben Sie deshalb das 5. Klavierkonzert ins Programm genommen? MF Schostakowitsch führte seine Sinfonien am liebsten mit Konzerten von Beethoven auf. Insofern passt diese Kombination immer, und ich glaube, diese hätte ihm sehr gefallen.
MICHAIL JUROWSKI
16 CS Der Cellist Mstislaw Rostropowitsch hat Schostakowitschs Sinfonien als
«Geheimgeschichte Russlands» bezeichnet. Wie sehen Sie das? MF Ich würde sagen, Schostakowitsch hatte eigene Vorstellungen vom damaligen Leben. Er erklärte ja selbst, dass alles, was er sagen wollte, in seinen Noten steht.
CS Besteht nicht die Gefahr, diesen
Komponisten zu sehr durch die politische Brille zu sehen? MF Das ist leider so, denn durch die Politisierung wird sein musikalischer Kosmos vereinfacht und meines Erachtens auch herabgesetzt.
CS Sie und Ihre Familie haben selbst Erfahrungen mit dem sowjetischen
System gemacht und sind emigriert. MF Da war einfach kein Sauerstoff, weder für das Leben noch für die Kunst.
CS Können Sie sich vorstellen, heute wieder in Russland zu leben? MF Wir haben das Land ja nicht ohne Grund verlassen. Ich hatte in den letzten Jahren einige Auftritte in Moskau und Sankt Petersburg, ich kenne die Verhältnisse immer noch gut. Aber seit dreissig Jahren bin ich deutscher Staatsbürger und Weltmensch, deshalb kann ich mir ein Leben im neuen Russland nicht vorstellen.
CS Was zählt im Leben? MF Musik, Frieden, Liebe, Familie, Freiheit, Gesundheit – das gehört für mich alles zusammen.
CS Sie gelten als Workaholic, ist das mit jetzt 75 Jahren immer noch so? MF Wenn die Gesundheit es erlaubt, ja!
CS Haben Sie dann noch Zeit zum Angeln? MF Gelegentlich.