DI E ZEI T U NG DER SOZ I A L IST ISCH E N J UGE N D ÖST ER R EICH
LINKS IM DRUCK.
Ausgabe 1/17 April 2017 www.sjoe.at
Frankreich wählt! Was ist mit der Französischen Linken los, welche Strategie wählt der Front National und wer ist eigentlich dieser Emmanuel Macron? s. 24–27
20 Jahre Frauenvolksbegehren Vor 20 Jahren unterzeichneten über 600.000 Menschen 11 frauenpolitische Forderungen – umgesetzt ist kaum etwas. Wir haben die Mitinitiatorin Eva Rossmann interviewt. s. 16–17
Integration!? Wertekurse!? Was ist Integration und wer legt fest, welche Werte in Wertekursen vermittelt werden? Über die Problematik und nationalistische Politik in der aktuellen Diskussion. s. 21–23
Religionskritik
s. 4–8
Glauben ist gefährlich Religion polarisiert, Kritik ist meist verkürzt und fällt oft mit Rassismus zusammen. Dabei ist Religionskritik extrem wichtig! Denn Religionen stützen Herrschaftssysteme und haben sich mit den brutalsten Regimes arrangiert. Religionskritik darf aber nicht nur auf eine einzelne Religion abzielen, sondern muss alle treffen!
Österreichische Post AG / Sponsoring.Post 02Z032957 S
Außerdem haben wir die Frauenreferentin im Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Carla Amina Baghajati, getroffen und mit ihr über Feminismus, den Diskurs um Islam und Kopftuch sowie frauenpolitische Forderungen gesprochen.
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INHALT INHALT
150 Jahre jung – ‚Das Kapital‘ feiert Geburtstag Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf, die Konzentration von Kapital und Macht in den Händen Weniger schreitet voran. Gleichzeitig können rechtsextreme Parteien in Europa einen Erfolg nach dem anderen verbuchen – egal ob sie in Regierungsposition gelangen, Zugewinne wie in den Niederlanden einfahren oder, wie in Österreich, die Regierungspolitik von der Oppositionsbank aus bestimmen. Didier Eribon bringt mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ den Verrat der Linken an der ArbeiterInnenklasse auf den Punkt und zeigt die Gründe für die Hinwendung vieler ArbeiterInnen zum französischen Front Natio-
nal. All diese Entwicklungen können wir heuer, 150 Jahre nachdem Karl Marx den ersten Band von ‚Das Kapital‘ veröffentlichte, mit Schrecken beobachten. „der Mehrwert] […] ist […] ein während des Produktionsprozesses vom Arbeiter neugeschaffner Wert – festgeronnene Arbeit. Nur kostet er dem Eigner des ganzen Produkts, dem Kapitalisten, nichts.“ – Das Kapital. Band II, 19. Kapitel Die Thesen von Marx und seine Analyse des Kapitalismus haben nichts an Aktualität eingebüßt. Zwar hat Marx die Bedeutung
unbezahlter Reproduktionsarbeit (die überwiegend von Frauen verrichtet wird) kaum beachtet und der Kapitalismus hat sich seit 1867 erheblich weiterentwickelt, ist schneller, differenzierter und globaler geworden, doch bleibt der Konflikt zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen bis heute aktuell. Ebenso wie der Kampf gegen dieses System der Ungerechtigkeit, der Ausbeutung und Unterdrückung. Ein Kampf für eine bessere Welt für alle. Und genau das müssen wir ansprechen! Für Demokratie und Selbstbestimmung. Für Sozialismus!
Die Trotzdem-Redaktion
Inhalt Editorial 3 Vorwort von Julia Herr: Schnipp, Schnapp!
Coverstory 4–5 Religionskritik:
Glauben ist gefährlich
6–8 Interview mit Carla Amina Baghajati: „Frauen brauchen viel mehr Mitsprache!“
9 Rezensionen Buch: Carolin Emcke – Gegen den Hass Film: Der junge Karl Marx Musik: Olympique – „Crystal Palace“
International 10 Der Portugiesische Weg: There is an alternative!
11 Französisch-Guyana: Generalstreik!
12–13 Trump und die EU-Armee:
Ein bis auf die Zähne bewaffnetes Friedensprojekt
Inland 14 Heer und Polizei:
Hegemonarchie – Konsens mit dem Panzer
15 Neues Regierungsprogramm: Rechts überholen verboten!
Frauen 16–17 Das Frauenvolksbegehren 1997: „Alles was recht ist“
18–19 Noch viel zu tun!
5 Punkte warum Frauen ökonomisch noch nicht gleichgestellt sind
Gesellschaft 20 Auswirkungen Neoliberalismus: Feminismus in der Falle?!
21 Diskurs zwischen Leistung und Gleichbe-
rechtigung: „Integration“: unterschiedliche Verständnisse, unterschiedliche Politik?!
22–23 Interview über Wertekurse:
„Orientierung Ja, Wertekurse Nein!“
Schwerpunkt 24–25 Wahlen in Frankreich:
„Ihre Welt geht unter …!“
26 Benoît Hamon:
PS = Parti splite
27 Bewegung „En Marche!“: Macron: Perfekte Synthese oder Post-Politiker?
Geschichte Jubiläum: 150 Jahre „Das Kapital!“ –
28–29 ein Grund zum Feiern? Kalender 30–31 Was war – was kommt
Die Sozialistische Jugend Österreich und die Frauenpolitische Kommission Österreich haben ihre neue Kampagne gestartet: „Kampfansage! Wir bestimmen selbst!“ – für Selbstbestimmung auf der Straße, im Netz und über den eigenen Körper.
Impressum Trotzdem 1/2017: Verlagspostamt: 1050 Wien Aufgabepostamt: 4020 Linz Zulassungsnummer: GZ 02Z032957 S Herausgeberin: Sozialistische Jugend Österreich (SJÖ), Amtshausgasse 4, 1050 Wien Tel.: 01/523 41 23, Fax: 01/523 41 23-85, Mail: office@sjoe.at, Web: www.sjoe.at DVR: 0457582, ZVR: 130093029 Medieninhaberin: Trotzdem VerlagsgesmbH, Amtshausgasse 4, 1050 Wien. Geschäftsführerin: Sara Costa, Eigentümerin: SJÖ (100%), Tel.: 01/526 71 12, Fax: 01/526 71 12-85, Mail: office@trotzdem.at Grundlegende Richtung: Das Trotzdem versteht sich als Medium zur Information von Mitgliedern, FunktionärInnen und Sympathisant Innen der SJÖ. Das Trotzdem informiert über aktuelle politische Debatten und thematisiert jugendrelevante Ereignisse. Chefredaktion: Dorothee Dober, Julia Herr, Roland Plachy MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Nina Andree, Radovan Baloun, Simon Březina, Mirza Buljubasic, Sara Costa, Ines Erker, Michael Gogola, Ella Hofreiter, Sybilla Kastner, Nadine Lenzinger, Katharina Mader, Gerald Netzl, Sebastian Pay, Thomas Pilgerstorfer, Luca Tschiderer, Marlis Zederbauer und Melanie Zvonik Lektorat: Roland Plachy Produktion: NGL-Mediamondial, 3151 St. Georgen Art Direction, Grafik: Peter Rüpschl Gefördert durch: BMFJ, gem. § 7Abs. 2B-JFG
EDITORIAL EDITORIAL
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Vorwort von Julia Herr
Schnipp, Schnapp! Schnipp, Schnapp – so schnell geht es, und unsere demokratischen Rechte sind ein Stück mehr beschnitten worden. Demorecht? Einschränken! BürgerInnen? Überwachen! Bildungsinhalte? Eingrenzen! Die Liste könnte ewig sein. Die Punkte auf besagter Liste mögen jeder für sich klein erscheinen, doch gemeinsam bilden sie einen Trend. Es wird undemokratischer und autoritärer in Österreich.
Let’s talk about … what FPÖ wants! ie FPÖ maßt sich mittlerweile an, bestimmen zu können wie in Schulen über gewisse Inhalte gesprochen wird. Ein Vortrag über Extremismus wurde an einer Schule abgebrochen- ein FPÖ-Nationalratsabgeordneter intervenierte – weil Extremismus habe mit FPÖ, Orban oder Burschenschaften ja nichts zu tun.1 Die Kritik an der Filmempfehlung des Bildungsministeriums zeigt ähnliches: Der Film „Der junge Karl Marx“ wurde für Schüler Innen ab der 7. Schulstufe empfohlen. Für die FPÖ ist dies „kaum die richtige Weise, politische Ideen zu vermitteln“. Gemeinsam mit der Idee neue Meldestellen einzurichten, weil „Kinder von FPÖ-Funktionären mit Tränen in den Augen von der Schule heimkommen“, zeigt sich eines deutlich: Die FPÖ macht ernst und mischt sich in Bildungsinhalte ein!
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Julia Herr Verbandsvorsitzende der SJÖ
Im Namen der Sicherheit Das Thema Sicherheit steht hoch im Kurs. Sicherheit am Arbeitsplatz? Nein, davon ist sicherlich nicht die Rede, entmachten wir das Arbeitsinspektorat! Soziale Sicherheit? Nein, derzeit wird darüber gesprochen schwangeren, arbeitslosen Frauen das Wochengeld zu streichen, weil dem FLAF nach der Kürzung der Lohnnebenkosten „überraschenderweise“ das Geld fehlt. Sicherheit bedeutet heute nicht Geld zu investieren in Kriminalitätsprävention, es bedeutet Geld zu investieren in Alarmanlagen. So sponsert das Burgenland Geld für Alarmanlagen. Sicherheit bedeutet heute Überwachung! Überwachung auch an öffentlichen Orten? Linz macht es vor! Überwachen will man uns aber nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch online. So sieht das neue Regierungsprogramm die Überwachung „internetbasierter Telekommunikation (wie z. B. Skype und WhatsApp)“ vor.
When we go marching, marching … Die Liste ist natürlich noch viel länger, aber dieses Vorwort ist kurz! Abseits von der absoluten Aushöhlung des Asylrechts und dem verfehlten neuen Staatsschutzgesetz will ich auf die Einschnitte im Demonstrationsrecht verweisen. Hier geht es Minister Sobotka ganz klar um Einschüchterung von politischen GegnerInnen und kalkulierte Machtpolitik, die über seine reine Schlagzeilengier und Symbolik hinausgeht. Sperrzonen werden bei Demos jetzt größer, die Anmeldung komplizierter. Langfristig sollen sie laut Sobotkas Plan auch Geld kosten, zweifelsohne um Demonstrationen zu verhindern. In der Gesamtbevölkerung blieb der Aufschrei verständlicherweise aus, ob eine Demo 24 Stunden vorher oder wie jetzt 48 Stunden vorher angemeldet werden muss, bewegt die wenigsten. Als SJ müssen wir jedoch das ganze Puzzle sehen, das sich aus den ständigen Beschneidungen unserer Rechte ergibt.
Conclusio Wir müssen auf alle diese Punkte hinweisen und dürfen nicht müde werden, sie in einen politischen Zusammenhang zusetzen. Der Wind weht derzeit undemokratisch und zeigt einmal mehr, wie weit die FPÖ zu gehen bereit ist, was für eine autoritäre Partei die ÖVP wirklich ist und welche Kompromisse die SPÖ eingehen muss, in einer Koalition, die spätestens im Frühjahr hätte enden sollen.
1 diepresse.com/home/bildung/ schule/5191967/Oberoesterreich_ FPOe-richtet-Meldestelle-fuerParteipolitik-in
→ Wir riefen zur Demo gegen die autoritäre Politik des Innenministers! Quelle: SJ Wien
Religionskritik
Glauben ist gefährlich Der Religionsbegriff hat heute mehr denn je eine unheimlich polarisierende Wirkung. Es wird das „christliche Abendland“ dem „politischen Islam“ gegenübergestellt und vermeintliche Konflikte und Interessengegensätze dominieren das Denken und Handeln der Politik und Gesellschaft. Buddhismus und Naturreligionen werden romantisiert, das Judentum wird entweder in der Kritik tabuisiert oder in antisemitischen Kreisen als das Böse selbst stilisiert. Doch wie bei vielem haben die unterschiedlichen Religionen doch so viel mehr Gemeinsames als Trennendes – leider.
Der Glaube hat Geschichte aum eine Analyse kann erfolgreich sein, ohne Hintergründe genau zu durchleuchten. Gerade deshalb ist es wichtig, Religionen im geschichtlichen Kontext zu verstehen. Die meisten Bräuche und Rituale sind über viele Jahrhunderte gewachsen und haben sich regelmäßig an die gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst. Während vor hundert Jahren in Österreich noch flächendeckend gemeinschaftlich in die Kirche gegangen wurde, wird heute in der christlichen Szene der Glaube viel individueller ausgelegt – Zweifellos ein Produkt der massiv individualistischen freien Marktwirtschaft, die unsere Kultur maßgeblich prägt. Es darf also nicht nur von „dem privaten Glauben“ oder der „eigenen Überzeugung“ gesprochen werden. Wenn man am Sonntag in die Kirche geht oder zum Ramadan von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts isst, dann ist das eine Handlung, die das eigene Umfeld und damit die Gesellschaft beeinflusst.
K
Religionen haben sich in der Geschichte immer hervorragend mit ihren zeitgenössischen Herrschaftssystemen arrangiert. Beispielsweise in Indien, wo der Hinduismus seit jeher und bis heute die Gesellschaft in Kasten teilt, die das Leben der Menschen von Geburt an unveränderlich vorbestimmen und in Unterdrückungsverhältnisse zwingen. Oder die christlichen Kirchen in Europa, die viele der scheußlichsten Regimes der menschlichen Geschichte mitgetragen oder sogar geschaffen haben, angefangen mit dem dunklen Mittelalter, der spanischen Inquisition, Hexenverbrennungen, die zahllosen Massenmorde und globale Versklavung durch die Europäischen Kolonialimperien, bis hin zur Duldung und Stützung der faschistischen und nationalsozialistischen Regimes im vergangenen Jahrhundert. Der Islam war einer der Grundsteine des Osmanischen Reichs, eines der größten feudalen Systeme der Geschichte. Heute gibt es im Namen des Islams eine der schlimmsten Diktaturen der Welt – den Islamischen Staat.
Alle genannten Glaubensgemeinschaften sind massiv patriarchal organisiert. Das bedeutet, dass die Kontrolle über Sexualität und Körper von Frauen Sache der Gebetshäuser ist und LGBTIQ* Personen oft drakonisch verfolgt werden.
Warum nicht Gutes tun? In der Regel basiert die Philosophie der meisten Glaubensgemeinschaften auf Mitgefühl und Solidarität. Im Koran steht, der Islam sei eine Religion des Friedens, Jesus spricht in der Bibel davon, Sündern zu vergeben und im Hinduismus ist das Leben heilig. Wie kann es also sein, dass trotz solcher Kernwerte so viele Verbrechen im Namen der jeweiligen Religion begangen werden? Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte. Der konstante Wertewechsel der religiösen Institutionen im Laufe der gesellschaftlichen Veränderungen beweist, dass sie nichts anderes sind als ein Machtblock in Systemen der Unterdrückung, der noch dazu sehr flexibel ist. In den Anfängen des Christentums, als es noch nicht die dominante Religion war, waren Männer
und Frauen gleichermaßen berechtigt, als PriesterInnen zu predigen. Als sich das Christentum mit den Machthabenden arrangierte und als Religion etabliert wurde, wurde Frauen das Amt verboten. Deshalb sind Religionen in der Geschichte auch immer so präsent. Sie reproduzieren in der Regel die Interessen der aktuellen herrschenden Klasse. Denn für Fürst, Kaiser und Diktator ist Gottes Garantie, berechtigterweise
Religionen reproduzieren in der Regel die Interessen der aktuellen herrschenden Klasse. über den anderen zu stehen, sehr viel wert. So erfüllen Religionen vor allem die Rolle der Machtstabilisatoren, eine inhärent konservative Haltung. Das gilt nicht nur für die konkreten Machthaber, sondern auch für Machtgefüge innerhalb der Gesellschaft. Beispielsweise das „Kernfamilienbild“, also Vater, Mutter, Kind ist ein Abbild sexisti-
COVERSTORY COVERSTORY → Religionen, Staat, staatliche Institutionen und überhaupt Herrschaftssysteme sind oft eng verflochten. Egal ob in den USA, …
… in Russland (hier Putin mit Oberhäuptern der russisch-orthodoxen Kirche) oder auch in Österreich, wo religiöse Tabus beispielsweise immer noch Einfluss auf den Sexualkundeunterricht haben. Quelle: kremlin.ru
LGBTIQ* steht für Lesbian, Gay, Bi-, Trans-, Intersexualität sowie Queer und umfasst Menschen, die sich im heteronormativen System zweier Geschlechter nicht wiederfinden und Diskriminierung erfahren.
scher Gesellschaftsstrukturen – und trotzdem wird es von niemandem mehr verteidigt als von der katholischen Kirche.
Was gibt ihnen diese Macht? Während der Staatsapparat klassischerweise zur Gewalt greift, funktionieren Religionen in ihrer Rolle als Stabilisatoren der Verhältnisse oft anders. Religionen leben von der Ungewissheit und bieten Antworten, die sie eigentlich nicht geben können. Was geschieht nach dem Tod? Wer bin ich? Warum ist die Ernte dieses Jahr schon wieder nichts gewor-
den? Damit haben sie eine massive Gewalt über die Gedankenwelt ihrer Anhänger – vor allem wenn man ihnen weismachen kann, dass, wenn sie nicht brav sind, nach dem normalen Leben, dafür bestraft werden. Zugegeben, der Gedanke, dass der gestorbene Vater jetzt im Himmel ist, mag auch eine therapeutische Wirkung haben, ist aber auch ein effektives Werkzeug, das leicht missbraucht werden kann. Zudem verfügen religiöse
Daher macht es wenig Sinn, sich eine Glaubensrichtung herauszusuchen und sich besonders auf sie zu konzentrieren oder Religionen wie den Buddhismus aus der Kritik herauszunehmen, weil er sympathisch wirkt. Institutionen bis heute über einen Einflussbereich im Bildungssystem. Die katholische Kirche hat bis heute eine gute Chance, den moralischen Kompass im Religionsunterreicht mitzugestalten, während junge Buben, deren Eltern Muslime sind, in Gebetsschulen geschickt werden, wo ihnen frauenfeindliche Inhalte eingetrichtert werden.
Es ist doch nicht alles an Religionen schlecht! Religionen sind auch für Gutes verantwortlich. Sie arbeiten nicht nur als Stabilisatoren von Unterdrückungssystemen, sondern wirken auch oft als Katalysatoren für humanitäres Handeln. Die organisierte humanitäre Hilfe besteht zu einem großen Teil aus religiösen Vereinen und Organisationen. Allerdings ist Wohltätigkeitsarbeit im Vergleich ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wie Kritik üben? Was überhaupt kritisieren? Kritik an Religionen zu formulieren ist schwer. Denn die Religion ist etwas, was alle Lebensbereiche durchzieht und alle berührt, selbst wenn man nicht Teil einer Glaubensgemeinschaft ist. Gesellschaftlich dominante Religionen gestalten große Teile der ungeschriebenen Gesetze, manchmal auch geschriebene Gesetze mit. Wer wann wie heiraten kann, was verboten ist, wie und wann etwas bestraft wird, ja sogar wie man sich grüßt, wird von Religionen beeinflusst. Religionen mögen sich in ihrer Intensität und Namen, ja sogar in Organisationsform unterscheiden. Dennoch erfüllen sie den gleichen Zweck. Daher macht es wenig Sinn, sich eine Glaubensrichtung herauszusuchen und sich besonders auf sie zu konzentrieren oder Religionen wie den Buddhismus aus der Kritik herauszunehmen, weil er sympathisch wirkt. Sich in Vergleichen zwischen Glaubensrichtungen oder theologischen Einzeldetails zu verlieren bedeutet gleichzeitig, die große Perspektive auf die Religionskritik zu verlieren.
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Es ist notwendig, Abstand von den regelmäßigen Angriffen der Medien auf einzelne Religionen, wie zum Beispiel den Islam, zu nehmen. Eine konstruktive Religionskritik ist nur möglich, wenn sie alle Religionen umfasst und Unterdrückungsmechanismen ausnahmslos in jeder Religion aufzeigt und dabei keine auslässt. Tatsächlich ist es egal woran Menschen glauben. Der individuelle Glaube ist nicht das Problem. Nur die einflussreichen Handlungen der religiösen Institutionen sind wichtig zu analysieren, zu bekämpfen und in ihrer Macht zu beschneiden.
Trotzdem: Gerade jetzt, wo rassistische Diskurse über dem Kultur und Religionsbegriff geführt werden, braucht es eine differenzierte Kritik am Islam. Es reicht nicht, rassistische Angriffe abzuwehren und dabei zu ignorieren, dass im Islam Sexismus, Homophobie, Fremdenhass sowie autoritäre Systeme gefördert werden. Tut man das nicht, läuft man Gefahr, dass christlich-konservative Populisten
Religionen müssen kritisiert werden. Aber richtig! Nicht den individuellen Glauben oder einzelne Religionen, sondern alle Religionen, ohne eine auszulassen! Quelle: Michael Coghlan
Eine konstruktive Religionskritik ist nur möglich, wenn sie alle Religionen umfasst und Unterdrückungsmechanismen ausnahmslos in jeder Religion aufzeigt und dabei keine auslässt. die Deutungshoheit über die Islamkritik erlangen. Mangels linker Alternative können so viele Menschen davon überzeugt werden, rassistische Diskurse zu dulden oder mitzutragen. Also: Wenn Religionen kritisieren, dann richtig!
Simon Březina
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Die Frauensprecherin der SJÖ, Marlis Zederbauer (re.), und die Frauenpolitische Sekretärin der SJÖ, Dorothee Dober (li.), trafen Carla Amina Baghajati (mi.), Frauenreferentin im IGGiÖ.
Interview mit Carla Amina Baghajati
„Frauen brauchen viel mehr Mitsprache!“ Der Islam in Europa – ein Thema, das in der Öffentlichkeit immer wieder heftige Wellen schlägt. Gerade bei Feminismus und Frauenpolitik wird der Islam oft als Sinnbild der Rückschrittlichkeit herangezogen. TROTZDEM hat nachgefragt: bei Carla Amina Baghajati, Frauenreferentin im Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Trotzdem: Frau Baghajati, Sie sind Frauenreferentin im Obersten Rat der IGGiÖ. Was bedeutet Feminismus für Sie? Baghajati: Für mich persönlich verbindet sich mit Feminismus der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit, für Chancengleichheit zwischen Mann und Frau, und dass hier nicht mit Geschlechterstereotypen gearbeitet werden soll, die uns irgendwie in ein gewisses Rollenschema pressen. Und dann denke ich bei Feminismus natürlich auch an eine lange, lange Geschichte von Frauen, die sich eingesetzt haben für ihre Rechte. Und mir ist es auch sehr wichtig daran zu erinnern, dass Frauenrechte, die wir jetzt als selbstverständlich genießen, wie etwa dass der Mann zur Berufstätigkeit nichts hineinreden kann, erst in den 70ern ausverhandelt worden sind. Und nun kommen wir zu muslimischen Frauen, die als Migrantinnen herkommen: Wenn sie diese Geschichte nicht kennen, dann können sie auch schwer darüber reflektieren, dass ihr Erscheinungsbild, wenn sie zum Beispiel ein Kopftuch tragen, mitunter negative Emotionen hervorruft, weil gerade die ältere Frauengeneration intensiv erlebt hat, wie hart der Kampf in den 70ern war. Und so kommt dann ein Gedanke hoch wie: „Was soll das – heißt das jetzt zurück ins Mittelalter?“ Und das ist natürlich ein fatales
Missverständnis, wenn man annehmen würde, Musliminnen seien nicht genauso froh über die gesetzlichen Errungenschaften im Kampf für mehr Gleichberechtigung! Und ich bin sehr froh, dass es auch immer wieder Formate gibt, wie etwa bei einer feministischen Stadtführung, wo muslimische, migrantische Frauen dann erleben, dass Wien Erinnerungsorte dieser Geschichte hat. Wenn man zum Beispiel in die Universität geht, wo Frauen sehr lange nicht studieren durften, an den Ballhausplatz, wo Johanna Dohnal wirkte und so weiter und so weiter. Das sind Dinge, die öffnen die Augen und die zeigen: Wenn es um Frauenrechte geht, müssen wir noch viel intensiver gemeinsam arbeiten. Trotzdem: Im Feminismus geht es ja auch darum, die Frage zu stellen: Wer hat Macht und warum? Der Islam ist ja, wie die meisten anderen Religionen, sehr stark von Männern dominiert. Wie setzen sich Frauen innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft damit auseinander, dass so viele Machtpositionen von Männern besetzt sind und auch dementsprechend Auslegungen von Männern gemacht werden? Baghajati: Der Islam in seiner Offenbarungszeit ist eigentlich mit einem Programm angetreten, das geradezu revolutionär war. Wenn man es ver-
gleicht mit der islamischen Stammesgesellschaft im 7. Jh., wo Frauen nicht einmal ein eigener Rechtsstatus zugesprochen wurde, wo neugeborene Mädchen oft lebendig begraben wurden, wenn der Vater nicht wollte, dass sie weiterleben. Wo eine Frau so sehr Sache war, dass sie vererbt werden konnte – das ist wirklich gruslig sich das vorzustellen. Und sowohl die koranischen Aussagen, als auch was Prophet Mohammed vorgelebt hat, bringen dann Frauen in eine Rolle, dass sie gleichwertig mit Männern sind und ebenso wie sie Verantwortung in der Gesellschaft tragen. Im Koran wird das in vielen Versen deutlich – die patriarchalen Auslegungen, die sind ein Problem. Ich bin ja islamische Religionslehrerin und finde es sehr spannend gemeinsam mit jungen Menschen darüber zu reden. Auch über ihre eigenen Erfahrungen mit starren Geschlechterrollen und dass es immer um das Selbstbestimmungsrecht gehen muss. Das ist eine Schlüsselvokabel, die sich auch islamisch sehr gut argumentieren lässt, denn jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich, heißt also auch im Umkehrschluss: Man muss ihm auch zugestehen, die eigene Entscheidung mündig zu treffen. Wichtig ist auch Frauenrechte zu kennen, die sich aus der Theologie stark argumentieren lassen. Ich würde immer beginnen mit dem Recht
auf Bildung. Weil Bildung immer der Schlüssel ist, um überhaupt über die anderen Rechte Bescheid zu wissen. Ich finde es oft erschreckend, dass auch unter Musliminnen manche der Rechte gar nicht bekannt sind – wie man sich etwa im Ehevertrag absichern kann oder der große vermögensrechtliche Bereich.
Wir brauchen hier viel mehr Mitsprache und ich sehe mich hier durchaus in einer Rolle gerade die jungen Frauen zu ermutigen. Trotzdem: Wo sehen Sie in Ihrer Religion noch Aufholbedarf beim Thema der Gleichberechtigung, oder wo stoßen Sie immer noch auf Konfrontationen in diesem Bereich? Baghajati: Vor allem bei der Teilhabe der Frau. Also wir haben innermuslimisch noch immer einen Zustand, dass die großen Islamverbände und Vereine zwar Frauen wertschätzen, aber sie sind meistens organisiert in einer Frauenabteilung. Und so sehr ich auch aus feministischer Sicht davon weiß, dass es diese geschützten Räume für Frauen braucht, bin ich sehr vorsich-
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Baghajati sieht im Koran vor allem die patriarchale Auslegung als Problem. Als Beispiel für Gleichwertigkeit von Mann und Frau im Koran bringt sie Sure 33, Vers 35, wo 10 positive Charaktereigenschaften explizit für „die standhaften Männer, die standhaften Frauen“ aufgelistet werden. Das steht biologistischen und essentialisierenden Zuschreibungen und Rollenklischees diametral entgegen. Quelle: Cezary Piwowarski
Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich ist die offizielle Vertretung der MuslimInnen in Österreich. Aktuell leben rund 600.000 MuslimInnen in Österreich.
tig, dass aus einem geschützten Raum nicht ein Abstellgleis wird. Tatsächlich sind die wirklichen Entscheidungen, was die Linie des Moscheevereins oder des islamischen Verbandes betrifft, Männersache. Wir brauchen hier viel mehr Mitsprache und ich sehe mich hier durchaus in einer Rolle gerade die jungen Frauen zu ermutigen. Ich bin einer der beiden ersten Frauen überhaupt, die in den obersten Rat, das ist das höchste Gremium der Glaubensgemeinschaft, berufen und gewählt wurden Und hier muss sich wirklich sehr, sehr viel ändern. Frauen müssen mitentscheiden können, denn gerade jetzt in Österreich erleben wir in den letzten Wochen, wie der Diskurs über Islam am Frauenthema entlang geführt wird. Und es ist absolut widersinnig, dass in diesem Diskurs vor allem Männer reden. Männer haben die Verbotsdiskussionen aufgebracht. Auf der politischen Seite, aber auch innermuslimisch ist es wichtig, dass die Deutungshoheit darüber, welche Kleidung wir warum tragen bei den Frauen bleibt.Also gerade bei der Kopftuchfrage ist es mir sehr wichtig, dass wir mit dem Schlüsselwort „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ einen gemeinsamen Nenner haben. Schluss mit: islamisches Kopftuch ist gleich Muslimin, nein, diese Gleichung stimmt so nicht. Es gibt genug Frauen die kein Kopftuch tragen. Und das ist der Alltag in muslimischen Familien, dass es Kopftuchträgerinnen gibt, aber auch Frauen ohne. Das Kopftuch ist wirklich nicht das Thema Nummer eins, aber wenn es zu diesem gemacht wird, dann muss ich natürlich reflektieren warum. Es ist so sichtbar, dass es Platzhalter für alle möglichen ideologisch aufgeladenen Debatten und Symbolpolitik wird. Ich sehe es überhaupt nicht als ein religiöses Symbol, sondern schlicht und einfach als Kleidungsstück. Aber es wird dazu
gemacht, sowohl von innen mitunter als Zeichen für die sittsame, die reine, die gläubige Frau, was ich schwer aushalte, genauso wie von außen: als angebliches Symbol der Unterdrückung oder des „politischen Islam“. Als Musliminnen können wir die Sichtbarkeit des Kopftuchs nicht ändern, sehr wohl uns aber gegen jede Art der ideologischen und symbolhaften Aufladung verwahren. Und gegen Zuschreibungen von außen, was Kopftuchtragen oder Nichttragen denn automatisch impliziere. So viele Kopftuchträgerinnen (und Nichtträgerinnen), so viele individuelle Geschichten dahinter. Trotzdem: Gibt es über die Kultusgemeinden hinaus Frauennetzwerke wo sie sich austauschen können? Bahajati: Ich sehe das auch als meine Aufgabe, die Frauen zu vernetzen. Und jetzt ist es mir wichtiger denn je, Ziel wäre nicht nur diese Vernetzung, sondern auch etwas wie eine Frauenkonferenz, wo wir auch die Themen die uns ein Anliegen sind bestimmen, wo wir uns auch gegenseitig stärken können und dadurch auch Männer zum Nachdenken bringen. Mir ist dieses dialogische Element sehr wichtig. In der Sache hartnäckig und doch bereit zum Zuhören,lässt es sich leichter zu Ergebnissen kommen. Manchmal hat man in sich so eine Wut, dass
klassischen Themen der europäischen Frauenbewegung, wie zum Beispiel Schwangerschaftsabbruch: Ist das ein Thema für muslimische Frauen? Baghajati: Eigentlich nicht. Es passiert ganz oft, dass die eigene Geschichte, die eigenen Themen auf muslimische Frauen projiziert werden. Es wäre aber ein Trugschluss zu sagen: Aha, Islam das ist Religion, Hilfe da sind wir doch drüber weg, das ist Katholizismus in grün. Das ist es nicht. Reden wir nicht nur über Schwangerschaftsabbruch, reden wir auch über Verhütung. Im Islam ist das möglich und es liegt bei der Frau, sich zu entscheiden, ob sie verhütet oder nicht. Sexualität überhaupt ist im Rahmen der Ehe etwas sehr Wichtiges, was das Paar zusammenhält, was Lebensfreude bringt und einen Vorgeschmack
Manchmal hat man in sich so eine Wut, dass Frauen immer noch über die gleichen Themen reden müssen wie vor 100 Jahren. Frauen immer noch über die gleichen Themen reden müssen wie vor 100 Jahren. Und dann kann ich verstehen, dass man sehr harsch auftritt und kämpferisch. Das braucht es auch. Allerdings gepaart mit dem dialogischen Element, um Leute mit rein zu holen und Bewusstsein zu schaffen: Es ist für die gesamte Gesellschaft wichtig und richtig, dass wir geschlechtergerecht leben. Da geht es nicht um ein Ausspielen der Geschlechter gegeneinander, sondern wir brauchen ein Zusammen – wir Menschen. Wir Frauen und dann wir Menschen. Trotzdem: Sie haben gesagt, Sie würden auch gerne die Themen formulieren, die gerade auch für die muslimischen Frauen wichtig sind. In Verbindung zu den
aufs Paradies wie Mystiker sagen und nicht nur, damit man Nachkommenschaft zeugt. Es bildet sogar einen Scheidungsgrund, wenn eine Frau hier keine Erfüllung findet. Schwangerschaftsabbruch wird in Verbindung gebracht mit der Frage: Wann ist das menschliche werdende Leben beseeltes Leben. Nach muslimischer Vorstellung gibt es einen Moment, wo die Seele eingehaucht wird. Das lässt sich natürlich nicht wissenschaftlich nachweisen, ist aber eine religiöse und eine schöne Vorstellung. Dieses Seele Einhauchen bedeutet auch, dass jeder Mensch, egal wo er auf die Welt kommt, in welchem Land oder in welcher Religion, prinzipiell die gleiche Menschenwürde hat. Jetzt ist aus den Quellen nicht eindeutig
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Sebastian Kurz hier 2016 beim Fastenbrechen. Zuletzt ließ er mit Burkaverbot im öffentlichen Raum aufhorchen, welches er sogar ins Regierungsprogramm hinein verhandelt hat. 2014 lehnte er dieses noch mit dem Satz „Mit einem Burkaverbot werden wir in Österreich die Integration nicht lösen“ ab. Quelle: BMEIA
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Carla Amina Baghajati in der Diskussion mit dem Wiener ÖVP-Chef Gernot Blümel zum Kopftuchverbot. Für Baghajati ein Stück Stoff, welches leider ideologisch und symbolisch aufgeladen wird. Quelle: ORF
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ableitbar, wann der Zeitpunkt ist. Da gibt es Gelehrte, die meinen, der 42. Tag, andere sagen nach 120 Tagen. Was aber unbestritten ist: Das Leben der Mutter zählt mehr als das des werdenden Kindes, also wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet wäre, bringt ein Schwangerschaftsabbruch sie in keinen Gewissenskonflikt. Auch das psychische Wohl wird bedacht, etwa bei Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung, wo das gleiche gilt. Mir ist es immer wichtig, dass eine Frau mit der Entscheidung dann gut weiterleben kann. Ich habe also Gespräche erlebt, wo die Entscheidung sowohl in die eine als auch in die andere Richtung ging. Ich weiß, das ist ein ganz wichti-
Generell nehme ich schon seit einigen Jahren mit großer Sorge wahr, dass je aufgeheizter der Außendiskurs wird, es umso schwieriger wird, einen offenen und selbstkritischen innermuslimischen Diskurs zu führen. ges Thema für die Frauenbewegung: Mein Bauch gehört mir. Bei einer Demonstration, die muslimische Frauen bezüglich der Kopftuchdebatte organisiert hatten, war ein Slogan: Mein Körper, mein Recht, meine Freiheit! Ich habe dann mit den jungen Frauen geredet, ob sie denn die Geschichte dieser Slogans kennen, und das war eigentlich auch ganz schön. Trotzdem: Noch ein Thema, das auch sehr stark mit dem Selbstbestimmungsrecht zusammenhängt, ist das Thema der Homosexualität. Wie steht da Ihre Glaubensgemeinschaft, bzw. Sie selbst dazu? Das ist ja auch ein sehr divers diskutiertes Thema. Baghajati: Im Mainstream Islam ist die Position sehr ähnlich wie die der katholischen Kirche.
Allerdings halte ich es für entscheidend, den Respekt vor der Geschaffenheit des Menschen, wie er eben ist, zu thematisieren, die Menschenwürde. Und das ist für mich ein Weg, wie wir hier in dem Diskurs langsam weiterkommen. Ich finde hier wieder die jungen Menschen sehr wichtig. Es kann natürlich geschehen, dass im Unterricht jemand sitzt, der gerade vor einer Identitätsfrage steht, was die eigene sexuelle Orientierung betrifft. Und das muss man begleiten können, in einer Weise, dass sich die jungen Menschen gestärkt und nicht verunsichert fühlen. Wir haben ein Motto im Unterricht herausgearbeitet: Kein Mensch ist haram. Haram ist das Vokabel, mit dem man etwas bezeichnet, das aus religiösen Gründen nicht erlaubt ist. Dass zwei Menschen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung verheiratet werden, das würde kein Imam mitmachen. Allerdings gibt es erste Gruppen, zum Beispiel im englischen Raum, die sagen: Wir sind bekennende Muslime und wir brauchen unseren Platz, wir müssen das Thema verhandeln. Und wir haben immer wieder eng zusammengearbeitet mit verschiedenen LGBT Gruppen, gerade wenn es um Antidiskriminierungsgesetzgebung ging. Trotzdem: Von der Glaubensgemeinschaft ist ja kürzlich das Gebot des Kopftuch-Tragens erneut festgeschrieben worden. Dabei scheint es sich um eine Reaktion auf die Debatte des Kopftuchverbotes zu handeln. Wie schätzen Sie diese Diskussion ein? Baghajati: Generell nehme ich schon seit einigen Jahren mit großer Sorge wahr, dass je aufgeheizter der Außendiskurs wird, es umso schwieriger wird, einen offenen und selbstkritischen innermuslimischen Diskurs zu führen.
Ich merke es auch in der eigenen Arbeit, wie da manchmal blockiert wird; von den Ängstlichen, die sagen: Man will uns unsere Religion wegnehmen. Oder von jenen, die sich so im Rechtfertigungseck sehen, dass sie es für den falschen Zeitpunkt halten, über Missstände offen zu reden. Und das ist schade und kontraproduktiv und eigentlich genau das Gegenteil von einem Islam europäischer Prägung. Wir waren da eigentlich sehr gut auf Schiene, das war ein Begriff, den Muslime gesetzt haben, 2003 in Graz. Aber in dem Moment, wo das verordnet wird von oben, mit einem Unterton – ihr seid so defizitär, ihr könnt gar nicht europäisch sein – dann wird gemauert. Und das ist wirklich eine Sache, die mir Sorge macht und die gerade den Frauen auf den Kopf fällt, denn wo ich am meisten Bedarf sehe, einen zeitgemäßen und authentischen Islam zu leben, ist beim Frauenthema. Da muss ganz, ganz viel passieren. Da arbeitet es stark in mir, da habe ich eine große Unruhe, wenn ich daran denke.
„Muslimin sein – 25 Fragen, 25 Orientierungen“ – das Buch von Baghajati erschien 2015 bei Tyrolia. Mit vielen Fakten beleuchtet Baghajati die Situation von Musliminnen, sie spricht sich für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen aus und möchte MuslimInnen und Nicht-Muslim Innen ansprechen.
Trotzdem: Welche Themen sind Ihnen noch wichtig? Baghajati: Ich wünsche mir eine Stärkung der jungen Frauen, der Mädchen, auch wenn sie über ihre Religion reflektieren, ihnen Mut zu machen, kritische Fragen zu zulassen. Das ist auch so eine Erfahrung aus dem Religionsunterricht. Viele finden wirklich sehr viel Halt in der Religion. Aber wenn sie etwas entdecken, das – gerade aus Frauensicht – zu hinterfragen ist, da soll ihnen Mut gemacht werden.Hier können wir es uns nicht so einfach machen und alles auf die „schlechte kulturelle Tradition“ schieben, ohne nachzudenken, wo die religiöse Auslegung diese auch noch gedeckt hat. Beim Thema „Ehre“ zum Beispiel, wo es dann nicht weit ist, kritisch über Verbrechen im Namen der Ehre zu reden. Überhaupt das Thema Gewalt gegen Frauen, also dieses Ermutigen, dass in der Religion nichts drinnen ist, was dich als Frau/ Mädchen in irgendeiner Weise in deinen Potentialen bremsen soll. Im Gegenteil: Such das, was dich innerlich befreit, was dich stärkt, was dir Argumentation gegen einengende Denkweisen, Rollenkorsetts und schädliche Traditionen gibt.
Das Interview führten Marlis Zederbauer und Dorothee Dober
Links: Das gesamte Interview ist auf unserer Webseite nachzulesen! www.sjoe.at/ interviewbaghajati
REZENSIONEN REZENSIONEN
BUCH BUCH
„Gegen den Hass“
C
arolin Emcke spannt in ihrem Buch einen Bogen von Gefühlen wie Liebe und Hass, aber auch Sorge, bis hin zu offen ausgetragenem Rassismus und Homophobie. Das Buch gleicht über weite Strecken einem Plädoyer für ein Mehr an Protest gegen den wachsenden Hass in unserer Gesellschaft: „Allein mit dem Mut, dem Hass zu widersprechen und der Lust, die Vielfalt auszuhalten und zu verhandeln, lässt sich Demokratie verwirklichen.“ „Gegen den Hass“ ist aber mehr als ein Buch, dass Mut zum Widerspruch machen soll. Es übt auch Kritik an der bereits breit getretenen Worthülse „die Sorgen der BürgerInnen ernst nehmen“. Am Beispiel von Liebe und
„Der junge Karl Marx“
1 Regie: Raoul Beck Land: Frankreich, Deutschland, Belgien Jahr: 2017 Laufzeit: 112 Minuten
MUSIK MUSIK
844, kurz vor dem Revolutionsjahr 1848, lebt der junge Karl Marx mit seiner Frau Jenny im Exil in Paris. Er lernt Friedrich Engels kennen, von dessen Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) über die Verelendung des englischen Proletariats er begeistert ist. Engels wiederum ist fasziniert von Marx‘ philosophischen Ideen. Gemeinsam entwickeln sie eine ökonomische Theorie und verfassen schließlich im Frühjahr 1848 die programmatische Grundlage aller ArbeiterInnenparteien, das Manifest. Der Film müsste besser „Der junge Karl Marx, der junge Friedrich Engels und die junge Jenny Marx“ heißen, doch wäre das
Olympique – „Crystal Palace“
B
chon seit 2009 machen die drei Jungs aus Salzburg gemeinsam Musik. Erst 2014 veröffentlichte die Band ihr Debüt „Crystal Palace“. In dem Album kommt sehr gut zur Geltung, womit sich die Band schon seit Beginn an auszeichnet. Nämlich ihr auffällig individueller Musikstil. Möchte man diesen in ein Genre packen, kann von alternativen Indie-Rock mit funky Pop-Elementen und jeder Menge Melancholie die Rede sein. Schon das Album-Intro „Faith of the Art“ erzeugt allein durch den
Hass zeigt sie, dass diese Gefühle nicht zwingend von genau dem selben Menschen oder der selben Gruppe hervorgerufen werden, wie sie sich schlussendlich artikulieren. Und selbiges gilt auch für Sorgen. Sorgen können genauso hervorgerufen, gelenkt, herbeigeführt und manipuliert werden. Wer unreflektiert die Sorgen „ernst nimmt“, tappt damit oft in die Falle der Rechten, die manche Sorgen heraufbeschworen haben, um ihre eigene rassistische Agenda voran treiben zu können. Das Buch schafft es dabei in einer leicht zu lesenden Art und Weise rassistische Übergriffe wie in Clausnitz mit philosophischen Gedanken zu verknüpfen und zeigt dabei, wie weit die Entmenschlichung bereits reicht.
Roland Plachy
ein sehr sperriger Titel. Damit soll ausgedrückt werden, dass im Film sehr gut umgesetzt wurde, dass die marxistische Gedankenwelt nicht das Produkt EINES Mannes allein war, sondern ein gemeinsames Werk. Der Film bildet auch die in jungen Jahren oft prekäre finanzielle Situation der Familie Marx ab, ist weder ein langweiliger Lehrfilm noch ein durchsichtiger Propagandafilm. Er zeigt die von Marx und Engels aufgedeckten und noch heute gültigen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus auf. Der Besuch des Films lohnt, trotzdem die Handlung 1848 endet, also zu einem frühen Zeitpunkt im gemeinsamen Schaffen unserer Ikonen.
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Autorin: Carolin Emcke Gebunden: 240 Seiten Verlag: S. Fischer Preis: €20,60 ISBN: 978-3-10-397231-3
FILM FILM
Gerald Netzl, www.freiheitskaempfer.at
Instrumental-Teil Spannung und hebt die Erwartungen auf das, was kommt. Charakteristisch für die Musik von Olympique ist das rege Zusammenspiel aus schwerer Melancholie und kraftvollen, rockigen Parts. Kaum ein Lied weist einen durchgehenden Rhythmus auf, sondern jedes einzelne Werk erzählt eine Geschichte und die einzigartige Stimme von Sänger Fabian trägt zusätzlich noch dazu bei, dass die Musik in Kombination mit den Lyrics tiefgreifende Emotionen in den Zuhörenden erreicht. Olympique tritt als Abschluss des diesjährigen Fackelzuges am 30. April am Rathausplatz in Wien auf!
Nadine Lenzinger
Release: 2014 Genre: Rock/Pop Label: Acoda/ Karmarama (Sony Music)
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INTERNATIONAL INTERNATIONAL
Der Portugiesische Weg
There is an alternative! Die portugiesische Sozialdemokratie glänzte in den letzten Jahren nicht durch progressive und linke Politik. Die letzten zwei Jahre zeigen hingegen eine Wende in dieser Entwicklung. Ein Abriss.
António Costa ist seit 2015 Premierminister, dank einer Minderheitsregierung, die von Links gestützt wird. Quelle: PES
Troika: Die Troika, bestehend aus der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfond und der Europäischen Kommission, überwachte die Durchführung der Kürzungen, die Voraussetzung für Kredite waren.
P
ortugal durchlebte turbulente Jahre, die geprägt waren von einer radikalen Austeritätspolitik die unter Führung einer sozialdemokratischen Regierung implementiert und von einer konservativen weitergeführt wurde. Vorbildlich setzten sie die Vorgaben der Troika um, was zu einer massiven Verschärfung der Krise in diesem Land führte. 2015 kam es jedoch zu einer Wende: die konservativen und rechts-populistischen Regierungsparteien kandidierten bei den damaligen Parlamentswahlen als Bündnis. Portugal á Frente (PAF), das rechtskonservative Regierungsbündnis, schaffte es zwar mit 36,8% auf den 1. Platz, wurde aber massiv abgestraft. Aus 132 Parlamentssitzen und somit einer absoluten Mehrheit wurden schließlich nur noch 102.
Portugals Regierung und mit ihr die portugiesische Sozialdemokratie zeigt also, dass ein Ende der Austeritätspolitik nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich ist.
Anfänglich sah es danach aus, als würden die zwei Regierungsparteien ihre Ära weiterführen, denn sie wurden mit einer Regierungsfindung beauftragt. Schließlich ging die portugiesische Sozialdemokratie jedoch einen entscheidenden Schritt, der eine Wende in ihrer Politik darstellte: seit der Nelkenrevolution, die Portugal 1974 vom Faschismus befreite, grenzte sich die PS (Partido Socialista) stark von der – vergleichsweise – starken Kommunistischen Partei (PCP) und dem Bloco Esquerda (BE) ab. Diese Abgrenzung endete, denn dem Partido Socialista wurde klar, dass in einer Koalition mit dem konservativen Bündnis PAF ihnen ihre Glaubwürdigkeit langfristig völlig verloren ginge. So einigten sich die drei Parteien PS, BE und CDU (ein Bündnis aus der Kommunistischen und Grünen Partei), die gemeinsam eine absolute Mehrheit haben, darauf, dass BE und CDU eine sozialdemokratisch geführte Minderheitsregierung unterstützen. Diese Entscheidung war maßgeblich für die weitere Entwicklung Portugals. Anfänglich wurde dies, logischerweise, von den konserva-
tiven Kräften nicht goutiert und aktiv bekämpft. Der damalige portugiesische Präsident, Anibal Cavaco Silva, versuchte dies sogar aktiv zu verhindern und warf dem linken Bündnis vor, nicht für Stabilität sorgen zu können. Am 10. November wurden aber die Pläne dieses linken Bündnisses klar und sie lehnten das Regierungsprogramm von PAF ab, was schließlich zum Rücktritt der konservativen Regierung führte. Seitdem erholte sich die portugiesische Wirtschaft massiv. Maßnahmen der Troika wurden zurückgenommen und das wirkte sich auch auf die wirtschaftlichen Indikatoren aus. Eine der ersten sofortigen Maßnahmen war z. B. die Rücknahme der Einschränkung von Reproduktionsrechten. Weiters folgte auch eine Anhebung des Mindestlohns, niedrige Pensionen werden wieder der Inflation angepasst, Lohnkürzungen wurden für den öffentlichen Dienst zurückgenommen und eine Vermögenssteuer eingeführt. Diese und andere Maßnahmen sorgen dafür, dass Portugals Budgetdefizit im Jahr 2016 nicht nur unter den von den Maastricht Kriterien verlangten 3% liegt, sondern sogar der niedrigste Wert in der Geschichte von Portugals Demokratie ist. Portugals Regierung und mit ihr die portugiesische Sozialdemokratie zeigt also, dass ein Ende der Austeritätspolitik nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich ist. Umfragewerte aus Ende 2016 zeigen, dass vor allem die PS davon profitiert und gerade knapp vor einer absoluten Mehrheit stünde, wären bald Wahlen. Zeigen wird sich aber, ob die PS alleine – also ohne dem Druck von links – diesen Kurs weiterführen wird. Es zahlt sich jedenfalls aus, die Lage in Portugal weiterhin zu beobachten!
Sara Costa
PS (Partido Socialista): Nicht verwirren lassen: In Portugal heißt die Sozialdemokratische Partei & Schwesterpartei der SPÖ, Sozialistische Partei (also Partido Socialista). Während die konservative Partei, die sich die EU-Fraktion mit der ÖVP teilt, Sozialdemokratische Partei heißt (also Partido Social-Democrata). Des weiteren verfügt Portugal über eine relativ starke Linke (PCP) und eine sehr geschwächte extreme Rechte.
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INTERNATIONAL INTERNATIONAL Französisch-Guyana
Generalstreik! Es gehört zu Frankreich, zur EU und NATO, es gibt den Euro und einen Weltraumbahnhof – und jetzt eben auch einen Generalstreik. Den BewohnerInnen des Lateinamerikanischen Landes Französisch-Guyana reicht es. Armut, katastrophale Infrastruktur und eine hohe Mordrate haben die Menschen dazu bewogen, die Arbeit nieder zu legen und Barrikaden zu bauen. Die Regierung in Paris reagierte rasch.
Eine Straßenblockade auf dem Weg zum Weltraumbahnhof. Quelle: France Guyane
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ie Beweggründe für den Protest sind offensichtlich: Mit 22 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Frankreich, jede vierte Familie und 40 Prozent der Kinder leben in Armut, 30% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Bei gerade mal 252.000 EinwohnerInnen gab es vergangenes Jahr 42 Morde – das ist trauriger Rekord in Frankreich und dessen Überseegebieten. So dauerte es auch nicht lange, bis aus einer
„Man hat das Gefühl, die Regierung merkt nicht, wie satt es die Bevölkerung hat”
ESA: European Space Agency
kleinen Aktion ein Generalstreik mit dutzenden beteiligten Organisationen, darunter 37 Gewerkschaften, wurde. Es startete mit einer Störaktion am 17. März, der Forderung nach einem entschlossenen Vorgehen gegen die steigende Kriminalität und einer französischen Umweltministerin, die ihren Besuch vorzeitig abbrechen musste. Drei Tage später traten ArbeiterInnen eines Subunternehmens des Weltraumbahnhofes in Kourou in den Streik, schlossen sich mit lokalen Initiativen zusammen und blockierten Zufahrten zum Gelände der ESA. Das hatte direkte Folgen, konnte doch ein südkorea-
nischer und ein brasilianischer Satellit nicht ins All transportiert werden. Jeder Tag Verzögerung kostet eine halbe Million Euro. Studierende und Beschäftigte anderer Bereiche schlossen sich an und schlussendlich standen 90 Prozent der Wirtschaft still. Generalstreik eben! Die Forderungen an die Regierung in Frankreich zielen klar darauf ab, Französisch-Guyana nicht länger als Anhängsel des Weltraumbahnhofes zu sehen. Investitionen, höhere Löhne, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und bessere Bildung stehen im Vordergrund. Damit ist Französisch-Guyana nicht das erste Überseegebiet. Bereits 2009 standen die Inseln Guadeloupe und Martinique monatelang still. „Man hat das Gefühl, die Regierung merkt nicht, wie satt es die Bevölkerung hat“, meint dazu Antoine Karam – der Sozialist vertritt das Überseegebiet im französischen Senat. Nun reagierte die Regierung aber doch und zeigt damit einmal mehr, wie egal ihr die Menschen in den Überseegebieten für gewöhnlich sind, solange diese sich nicht lautstark Gehör verschaffen. Ein Milliardenschweres Investitionsprogramm soll kommen. Auch im aktuell laufenden französischen Präsidentschaftswahlkampf fand der Generalstreik seinen Widerhall:
Während von konservativer Seite die Regierung angeschwärzt wurde, machte die rechtsextreme Le Pen MigrantInnen verantwortlich und setzt damit mal wieder ein perfektes Exempel für die Ablenkung von den tatsächlichen Problemen für die eigene rassistische Agenda. Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon hingegen solidarisierte sich mit den Anliegen der Bevölkerung. Der neoliberale Kandidat Emmanuel Macron, aktueller Favorit, blamierte sich mit der Bezeichnung Französisch-Guyanas als Insel. Französisch-Guyana kann durchaus als eine der letzten Kolonien Frankreichs bezeichnet werden – und darin liegt auch schon ein Teil der Erklärung für die desaströse Lage des Landes. Kolonien wurden von den Europäischen Mächten als neuer Absatzmarkt und Quelle billiger Ressourcen, Arbeitskraft und Ländereien gesehen, die es auszubeuten galt. Die politischen und gesellschaftlichen Fortschritte in den Staaten Europas erreichten die Kolonien nicht – „Liberté, Égalité, Fraternité“ blieb den EinwohnerInnen verwehrt und Kolonien, die im Laufe der französischen Revolution doch auf den Zug aufspringen wollten, mussten teuer dafür bezahlen, wie das Beispiel Haiti zeigt. So ist es auch nicht überraschend, dass vielen Protestierenden die finanziellen Zusagen aus Paris nicht weit genug gehen. Sie wollen einen neuen Regionalstatus und damit mehr Unabhängigkeit von Paris. Eins hat der Protest in Französisch-Guyana gezeigt: Streiks und Solidarität über verschiedene Schichten hinweg, zwischen ArbeiterInnen und StudentInnen, lokalen Initiativen und Gewerkschaften schaffen es, auch den Ungehörten Gehör zu verschaffen!
Roland Plachy
Links: www.nytimes. com/2017/03/27/world/ europe/french-guianageneral-strike-france.html www.jungewelt.de/ artikel/308011. generalstreik-inkolonie.html www.neues-deutschland.de/artikel/1046103. generalstreik-inguayana.html? sstr=französisch www.tt.com/ home/12815434-91/ demonstranten-infranzösisch-guyanafordern-neuenregionalstatus.csp
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INTERNATIONAL INTERNATIONAL
Quelle: Rock Cohen
Trump und die EU-Armee
Ein bis auf die Zähne bewaffnetes Friedensprojekt Das Projekt der „Europaarmee“ ist kein neues, schon in den 50er Jahren tauchte diese Idee auf. Heute stehen wir aber an einem Punkt, an dem die europäische Sicherheitspolitik immer stärker in diese Richtung drängt. Die EU militarisiert sich in den letzten Jahren schneller und effektiver und was dabei wichtig ist: zentrale politische Themenfelder werden von diesen Militarisierungsphantasien verschluckt. as vor einigen Jahren politisch nicht durchsetzungsfähig war, ist heute in der Mitte der Debatte angelangt. Dazu kommen gravierende Veränderungen im internationalen politischen System, die diese Prozesse beschleunigen und intensivieren. Wird die EU also zu einem Militärbündnis oder ist sie das schon längst? Zuerst aber nach Österreich: Im Frühjahr 2016 beschloss die österreichische Bundesregierung eine Trendwende in ihrer Verteidigungspolitik. Erstmals seit 13 Jahren wird Österreich wieder mehr in seine Armee investieren. Bis 2020 veranschlagte die Bundesregierung Mehrausgaben in der Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Mit diesen Geldern werden nicht nur neue Panzerfahrzeuge und anderes militärisches Gerät angeschafft, darüber hinaus ist der Großteil der Mehrausgaben für das Jahr 2017 (insg. 223 Millionen Euro) für „Herausforderungen in sicherheits- und migrations-
W
politischer Hinsicht“ eingeplant. Was damit geschaffen wird, ist eine interessante Verbindung: Soziale Fragen, wie der Umgang mit Flucht und Migration, werden in die Verteidigungspolitik integriert. Flucht wird damit zu einem Aspekt in der Sicherheitspolitik und in weiterer Folge als militärisch lösbar erklärt. Dieser Zugang ist aber kein österreichisches Phänomen, er bettet sich in einen europäischen Militarisierungsprozess ein. Augenscheinlichstes Zeichen dafür, ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die bereits seit 2004 die militärische Flüchtlingsabwehr der EU darstellt. Aber auch in anderen Bereichen militarisiert sich die Union zunehmend. Bereits heute verfügt die EU über Battlegroups, als schnelle Einsatztruppe für Außeneinsätze in bis zu 6000 km entfernten Gebieten. Dies war der erste Schritt in Richtung EUArmee. Spätestens mit der Verfassung der Europäischen Union, dem Vertrag von Lissabon, wurde in der Gemeinsa-
Soziale Fragen, wie der Umgang mit Flucht und Migration, werden in die Verteidigungspolitik integriert. men Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eine Verpflichtung zur beständigen Aufrüstung der Mitgliedsländer festgeschrieben. In der kürzeren Vergangenheit haben zwei bedeutende Faktoren dieser Entwicklung eine weitere Tragweite verliehen. Einerseits die Wahl Trumps und damit einhergehend eine verstärkte Unsicherheit in Bezug auf die US-Außenpolitik, andererseits Brexit und die jetzt beginnenden Verhandlungen zum EU-Austritt. Zusätzlich rumort es aber auch innereuropäisch enorm. Die Folgen der Krise und der neoliberalen Lösungskonzepte der europäischen Volksparteien und Sozi-
aldemokratien haben ihren Machtverlust an das rechtsnationale Lager nur verstärkt. Jetzt finden sich fast überall die Rufe nach einer stärkeren Militarisierung und einem Ausbau der inneren Sicherheit. Die Folge ist ein immer rasanter vorangetriebener autoritärer Umbau der Union zur rassistischen Festung Europa.
Was aber hat Trump damit zu tun? Dass die europäischen Mitgliedsländer der NATO zu wenig für ihre militärische Infrastruktur ausgeben, ist bereits unter Obama bemängelt worden. Durch die Wahl Trumps ist aber das im Waliser Newport 2014 vereinbarte 2%-Ziel wieder stärker in die Debatte gerückt. Darin verpflichten sich alle Mitgliedsländer der NATO mindestens 2% ihres BIP in die Verteidigung zu investieren, damit also auch viele europäische Staaten. Im Moment erfüllt dies aber
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INTERNATIONAL INTERNATIONAL
Theresa May war Europas erste Staatschefin beim neugewählten US-Präsidenten. Dies wird als noch stärkere Orientierung Großbritanniens an den USA gedeutet. Die BrexitVerhandlungen wurden mit dem Einbringen des Antrages am 29. März offiziell begonnen. Quelle: Jay Allen
kaum ein EU-Land. Dazu kommen die Drohungen Trumps, die Beistandsverpflichtung nicht allzu ernst zu nehmen. US-Vize Mike Pence hat zwar bei der Münchner-Sicherheitskonferenz 2017 eine Kehrtwende in der USAußenpolitik ausgeschlossen, dennoch bleiben Trumps Ankündigungen eines (Teil-)Rückzugs aus dem NATO-Bündnis Teil der europäischen Diskussion. Dies beweisen auch die kürzlich getätigten Äußerungen von Manfred Weber (CSU), seines Zeichens Fraktionschef der konservativen EVP im europäischen Parlament, wonach Europa nun „endlich erwachsen werden“ müsse. Gemeint damit ist die Europäische Union als „Verteidigungsgemeinschaft“ aufzubauen. Noch im März hat Angela Merkel bei ihrem Antrittsbesuch in Washington das deutsche
Darin verpflichten sich alle Mitgliedsländer der NATO mindestens 2% ihres BIP in die Verteidigung zu investieren, damit also auch viele europäische Staaten. Commitment zur Einhaltung der NATO-Vereinbarung bestärkt, dass das konkret fast eine Verdopplung des deutschen Militäretats bedeuten würde, kann man hierbei nicht außen vor lassen. Ebenso wenig, wie die erneute europäische Aufrüstung sich nicht nur auf konventionelle Waffensysteme bezieht, sondern wieder über eine nukleare Bedrohung diskutiert wird. Russland baut seit einigen Jahren wieder auf nukleare Waffen als integralen Bestandteil seiner Militärdoktrin. Innerhalb der europäischen Union wird dies vermehrt als Vorwand ver-
wendet, ebenso nuklear aktiv zu werden. Ganz offen spricht dies Jaróslaw Kaczyiński, Vorsitzender der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS an, wonach „eine eigene Atommacht […] mit Russland mithalten können“ müsste. Damit wird nicht nur das altbekannte Kalte-Kriegs-Szenario wiederbelebt, darüber hinaus kommt hier auch der Brexit ins Spiel. Denn gemeinsam mit Frankreich stellt Großbritannien die einzige europäische Atommacht dar. Die britische Premierministerin Theresa May kündigte bereits an, europäische Sicherheitsfragen zu einem zentralen Druckmittel des britischen Verhandlungsteams zu erheben. Im Gegenzug dazu bildet sich auf dem Festland wieder verstärkt die Achse Frankreich-Deutschland. Frankreich wird nicht alleine für die atomare Absicherung der EU aufkommen wollen. Bereits in der Vergangenheit gab es Angebote an Deutschland, sich in die französischen nuklearen Systeme einzukaufen. Sollte Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr also verlieren, so wird dies, unabhängig der deutschen Wahlen im Herbst, ein zentrales politisches Thema werden. Apropos Deutschland: was wäre eine EU-Armee ohne deutsche Großmachtsphantasien. Die Bundesrepublik ist aufgrund ihrer stark ausgebauten Rüstungsindustrie also einerseits eine der größten Nutznießer innen einer verstärkten Aufrüstung – alleine 2015 gingen ein Drittel aller deutschen Rüstungsexporte nach Griechenland (563 Millionen Euro) – andererseits ist gerade Deutschland gemeinsam mit Frankreich der größte Treiber, wenn es um den Aufbau der EU-Armee geht. Denn Deutschland will seine wirtschaftlichen Interessen wieder militärisch Absichern dürfen, Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen drückte dies 2015 folgendermaßen aus: „Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geographisch noch qualitativ“. Sie ist es auch, die im Sommer 2016 gemeinsam mit ihrem französischen Pendant Jean-Yves Le Drian die Errichtung eines militärischen EU-Hauptquartiers einforderte. Eine Idee, die bereits EUKommissionspräsident JeanClaude Juncker formulierte und die auf Vorschlag von Federica
Frankreich wird nicht alleine für die atomare Absicherung der EU aufkommen wollen. Mogherini als EU-Außen- und Sicherheitsbeauftragte mittlerweile umgesetzt wird. Es wird deutlich, die EU rüstet zum Krieg. Es scheint fast so, als ob die europäischen Eliten, allen voran die Sozialdemokratien und Volksparteien in Deutschland und Frankreich, die Frage der europäischen Einigung nun mit Gewalt lösen wollen. Denn auch die deutsche Sozialdemokratie drängt in eben jene Richtung. Eine bis auf die Zähne bewaffnete Festung Europa, die die Fähigkeit besitzt, die Interessen ihrer kapitalistischen Eliten im Ausland auch mit der Waffe zu verteidigen. Dafür müssen eben auch die demokratischen Vorbehalte in der Union fallen. Alan Posener, Chefredakteur der „Welt“, drückt dies folgendermaßen aus: „Europas Elite rüstet sich, um Krieg auch dann kollektiv führen zu können, wenn es in keinem einzelnen EU-Mitgliedsland dafür eine Mehrheit gibt“. Und eben genau jene Stimmen werden jetzt lauter, flankiert von Trump und Brexit steuert Europa in Richtung einer hochmilitarisierten Großmacht.
Luca Tschiderer
Eine EU-Battlegroup Einheit im Training. Diese Einheiten bestehen nicht ständig, sondern werden im Konfliktfall zusammengesetzt. Im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie sollen die EU-Battlegroups eine schnelle militärische Reaktion ermöglichen.
INLAND INLAND
14 Heer und Polizei
Hegemonarchie – Konsens mit dem Panzer Tränengas in Ankara, Panzerfahrzeuge in Ferguson, Sturmgewehre in Paris – zunehmend kämpft die innerstaatliche Polizei auf der ganzen Welt mit Mitteln, die man bis vor kurzem dem Militär zugeordnet hätte. Eine Tendenz, die alles andere als zufällig ist.
A
Wir protestierten vor dem Innenministerium gegen die geplanten Einschränkungen des Versammlungsrechts und den Ausbau der Massenüberwachung und stellten Sobotka seine zwei Berater – Dollfuß und Metternich – zur Seite.
ntonio Gramsci beschreibt die Hegemonie – also eine breite Zustimmung der Bevölkerung, die ihren Ausdruck in allen Lebensbereichen findet – als besonders stabile Herrschaftsform. Nur dort, wo diese nicht besteht, würden die Herrschenden zum Zwang greifen. Eben jenem Zwang scheinen sich PolitikerInnen zunehmend zu bedienen. So forderte Beispielsweise Innenminister Sobotka im Februar eine Einschränkung der Demonstrationsfreiheit. Dabei sollten DemonstrationsleiterInnen zivilrechtlich für anfallende Schäden haften, sogenannte „Spaßdemonstrationen“ untersagt und Anmeldefristen ausgeweitet werden. Gemeinsam mit der geplanten Zunahme von Überwachungsmaßnahmen tritt Sobotka politisch in die Fußstapfen Metternichs und steht damit international auf keinen Fall alleine da. In vielen Ländern kann man eine Zunahme des Überwachungsstaates, eine strengere Sicherheitspolitik und einen Abbau der Versammlungsfreiheit bei gleichzeitiger Militarisierung der Polizei beobachten.
Freiheit stirbt mit Sicherheit Die Verschärfung der Sicherheitspolitik geht in vielen Ländern mit einer starken Militarisierung der Exekutive einher: Während noch vor wenigen Jahren das Bundesheer öffentlich als weitgehend sinnlos und unorganisiert belächelt wurde, werden heute die Rufe nach einer Kompetenzausweitung in Richtung „Sicherheit im Inneren“ für eben jenes Heer immer lauter. Auf den Vorstoß des „sozialdemokratischen“ Ministers Doskozil übernimmt das Bundesheer heute auch vereinzelt Aufgaben der Polizei um diese „personell zu entlasten“.
Die Kooperation zwischen Bundesheer und Polizei ist keinesfalls als die unpolitische Verwaltungsmaßnahme zu sehen, als die sie so oft dargestellt wird. Die Aufgabenbereiche beider Institutionen sind in der Verfassung klar geregelt und beschränkt die Aktivitäten des Bundesheeres innerhalb der österreichischen Grenzen stark. Nichtsdestotrotz sieht der Plan des ÖBH 2018, der im Auftrag Doskozils vom Generalstab entwickelt wurde, eine breite Aufstockung im Bereich der Crowd und Riot Control vor. Gemeint sind damit Einsätze gegen Menschenansammlungen und Demonstrationen. Offiziell gibt Doskozil an, keinen derlei aufgebauten Einsatz im Inland zu planen. Das Gesamtbild hinterlässt allerdings – besonders mit den Plänen Sobotkas im Hinterkopf – einen bitteren Nachgeschmack. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen leidet unter der zunehmenden Aufrüstung der PolizistInnen. Wer regelmäßig schwer bewaffneten BeamtInnen begegnet, fragt sich nicht zu Unrecht, wie es um die Sicherheit seiner Umgebung bestellt ist. Aufrüstung kann so schnell zum Selbstzweck werden, die das Sicherheitsgefühl der Leute gleichermaßen untergräbt wie verbessert.
ACAB – All cops are Bundesheerler? Auch in den USA wurde unter dem Defense Department Programme, zur Bekämpfung von Terror, militärisches Equipment im Wert von mehreren Milliarden Dollar an lokale Polizeieinheiten transferiert. Bilder der Ferguson-Proteste zeigen nicht selten protestierende Menschen gegenüber von schwerbewaffneten PolizistInnen in Tarnkleidung und Panzerfahrzeugen. Gerade in Ferguson, wo
das Vertrauen der Zivilbevölkerung in die örtliche Polizei nach dem Mord an einem schwarzen, unbewaffneten Jugendlichen stark angeschlagen war, ein fatales Zeichen, das weiter zur Eskalation der Situation beitrug.
Plan A-usnahmezustand Auch die mögliche Notstandsverordnung der österreichischen Regierung spricht eine eindeutige Sprache: Der Staat präsentiert hierbei die geflüchteten Menschen aus Syrien und Co. als existenziell bedrohend und legitimiert dadurch hartes Durchgreifen, auch durch das Bundesheer. Dies soll beispielsweise Abschiebungen in Herculesmaschinen, aber auch zunehmenden Grenzschutz unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe erlauben.
Die Geister, die ich rief … Dass unter einem sozialdemokratischen Verteidigungsminister bzw. Bundeskanzler der Autoritarismus des Staatsapparates weiter vorangetrieben wird, zeigt einmal mehr das inhaltliche Versagen der SPÖ auf. Anstatt Verteilungsfragen zu stellen und Sozialpolitik im Sinne der arbeitenden Menschen zu betreiben, baut man die demokratischen Grundrechte der Bevölkerung weiter ab. Wer die Polizei militarisiert, den Einsatz des Bundesheeres gegen die eigene Bevölkerung ermöglicht und den Überwachungsund Unterdrückungsapparat systematisch verstärkt, öffnet rechten Kräften aller Parteien Tür und Tor für einen autoritär geführten Überwachungsstaat. Spätestens nach den nächsten Nationalratswahlen darf es die SPÖ somit kaum wundern, was dank dieser politischen Vorarbeit alles möglich sein wird.
Ella Hofreiter
Anmeldefristen ausgeweitet: Die Anmeldefrist wurde in einem ersten Schritt von 24 auf 48 Stunden ausgeweitet. Ebenfalls im Regierungskompromiss: Schutz zonen von 50–150m. ÖBH 2018: www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXV/ III/III_00284/ imfname_539566.pdf (Crowd und Riot Control auf Seite 18)
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INNENPOLITIK INNENPOLITIK Neues Regierungsprogramm
Rechts überholen verboten! Warum das nicht nur im Straßenverkehr gefährlich ist und Kerns Plan A und vor allem das neue Regierungsprogramm ArbeiterInnenrechte, Demokratie und hart erkämpfte Frauenrechte beschneiden will:
Durch Plan A zieht sich eine neoliberale, unternehmerInnenfreundliche Politik – gesprenkelt mit guter und sinnvoller Kritik und sozialen Maßnahmen. In das Regierungsprogramm schaffte es vor allem ersteres. Quelle: SPÖ (CC BY-SA 2.0)
V
or einigen Wochen präsentierte Bundeskanzler und SPÖ Parteivorsitzender Christian Kern seinen „Plan A für Österreich“.Auch wenn einige Ansätze, die er kritisiert, wichtig sind, wie die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, die 2-Klassen-Medizin, die Energiewende oder der Ausbau von Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, zieht sich eine inhaltliche Linie durch, die sich – auf eine verschärfte Art und Weise auch im Regierungsprogramm wiederfindet. Beim Plan A kann man von einem neoliberalen Programm sprechen, in dem es viel um Leistung und Unternehmer Innentum geht. Solidarität mit Flüchtenden findet keinen Platz, erst Recht nicht am Arbeitsmarkt. Von Vermögenssteuern oder Arbeitszeitverkürzung keine Spur – im Gegenteil. Der „Plan Arbeitszeitflexibilisierung“ wird in den Mittelpunkt gerückt. „Rot-weißrot ist eine Erfolgsgeschichte“ und so soll es auch bleiben, meint der Kanzler bei seiner Rede in Wels, in der er allein im Mittelpunkt auf einem roten Podium in einem komplett rot-weiß-rot geschmückten Saal steht – ganz im Stile US-amerikanischer Wahlkämpfe. 19 Tage und einige Neuwahldebatten später wurde das 35-seitige Regierungsprogramm beschlossen, in dem sich viele Punkte des Plan A wiederfinden. Nimmt man die 35 Seiten unter die Lupe, wird eines schnell deutlich – es ist ein neoliberales, frauenfeindliches, autoritäres und rassistisches Programm.
SPÖ und ÖVP haben sich auf ein Papier geeinigt, das in wirtschaftlichen- und sozialpolitischen Fragen neoliberal, in seiner Migrations- und Sicherheitspolitik autoritär und rassistisch ist und das rassistische Politik auf Kosten von Frauen betreibt. Der massive Ausbau der Videoüberwachung und das Ausspionieren via WhatsApp und Co. werden durch das Beschneiden der Grundrechte für Personen bei denen „die Gefährdung nur abstrakt ist“ getoppt. Dass die Vorstöße von Innenminister Sobotka, die demokratischen Grundrechte massiv einzuschränken, immer wieder thematisiert und zurückgestoßen werden, ist wichtig, um Demokratie zu verteidigen. Es wird jedoch kaum öffentlich diskutiert, welche antidemokratischen Grauslichkeiten sich im Regierungsprogramm verstecken.
als Ziel, nicht als konkreter Vorschlag niedergeschrieben. Über TTIP, CETA und TISA und generell zum Thema „Freihandelspolitik“ fehlt jede Spur.
Das Geschäft der FPÖ besorgen Es zeichnet sich bei diesem Thema genau das ab, was sich durch das ganze Regierungsprogramm und die Politik der letzten Jahre zieht – ÖVP und SPÖ besorgen das Geschäft der FPÖ. Dass die ÖVP, eine neoliberale Partei, nie auf Seiten der ArbeiterInnen steht und immer versuchen wird die Privilegierten zu fördern, ist völlig klar und bestätigt nur die Sinnlosigkeit der jahrelangen Koalition mit der SPÖ – einer sozialdemokratischen Partei, die eigentlich immer auf Seiten der Arbeiter Innen stehen sollte. Doch offensichtlich gibt es jetzt ein gemein-
→ Dazu zählt das Bewegungsverbot für verschleierte Muslim innen und ein ‚Neutralitätsgebot‘ in Teilen des öffentlichen Dienstes, welches in der aktuellen Lage und Dank institutionellem Rassismus vor allem kopftuchtragende Frauen treffen wird.
Es findet sich nichts zu sozialer Sicherheit, Verteilungsfragen oder zur Wirtschaftskrise. Doch damit noch nicht genug. Verschärfungen im Asylbereich und Privatisierung im sozialen Wohnbau durch „private Investitionen“ sind nur einige gravierende Beispiele. Doch auch der freie Hochschulzugang wird durch flächendeckende Zugangsbeschränkungen de facto abgeschafft, Arbeitslosigkeit wird als individuelles Problem behandelt und das UnternehmerInnentum wird gefördert. Fragt sich, wie die SPÖ so einem Regierungsprogramm zustimmen kann, in dem noch dazu die einzige frauenpolitische Forderung die Einführung von Frauenquoten in Aufsichtsräten ist. Es findet sich nichts zu sozialer Sicherheit, Verteilungsfragen oder zur Wirtschaftskrise. Der Mindestlohn von 1.500 Euro, den Kern in seiner Rede in Wels forderte, ist im Programm
sames Ziel, die Forderungen der rechten FPÖ umzusetzen, mit der völlig sinnfreien Analyse, dadurch WählerInnenstimmen zurückzugewinnen. Dass dieser Versuch scheitert, wurde bereits durch diverse Wahlergebnisse mehr als bestätigt. Die sozialdemokratische Partei Österreich weicht Tag für Tag immer mehr von ihren Grundsätzen ab und weder die Worte „sozial“ oder „demokratisch“ spiegeln ihre Politik der letzten Jahre wieder. Mit jedem Tag an dem die SPÖ derartige Politik mitgestaltet, trägt sie dazu bei, dass ArbeiterInnenrechte, Demokratie und hart erkämpfte Frauenrechte beschnitten werden und ebnet weiter den rechten rassistischen Kurs hin zu einer autoritären Wende.
Nina Andree
Quellen: mosaik-blog.at/ regierungsprogrammrassismus-asyl-kopftuchkern-mitterlehnerneoliberalismus/ download.headroom.at/ meinplana/planA.pdf archiv.bundeskanzleramt.at/DocView. axd?CobId=65201
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FRAUEN FRAUEN
Das Frauenvolksbegehren 1997
„Alles was recht ist“ So lautete das Motto des Frauenvolksbegehrens, das im April 1997 von 644.977 Menschen unterzeichnet wurde. Es war als eine Reaktion auf das Sparpaket der Bundesregierung (1996), welches sozialstaatliche Einschnitte zur Folge hatte, initiiert worden. Unterstützt wurde das Volksbegehren, welches elf Forderungen zur Herstellung von tatsächlicher Gleichberechtigung beinhaltete, von mehr als 11% der Wahlberechtigten. Das TROTZDEM hat mit Eva Rossmann, einer der Initiatorinnen des Frauenvolksbegehrens 1997, gesprochen. Trotzdem: Es ist jetzt genau 20 Jahre her seit das Frauenvolksbegehren initiiert wurde. Wie war die Stimmung in Bezug auf Frauenpolitik in den 90er Jahren? Rossmann: Sie war seltsamerweise gar nicht so anders als heute. Damals war es so, dass massiv gespart wurde. Man hat gerade den Frauen ein Sparpaket verpasst die es am meisten trifft, nämlich arbeitenden Frauen die kein hohes Einkommen hatten. Das wollten wir uns nicht länger gefallen lassen. Am internationalen Frauentag organisierten viele Gruppen Kundgebungen vor dem Parlament, unter anderem auch wir. Dort wurde dann zum ersten Mal von einem Frauenvolksbegehren gesprochen. Am Anfang hielt ich die Idee für komplett verrückt. Aber die Frauen waren wild entschlossen und so machte ich auch mit. Es wurden relativ rasch Bündnispartnerinnen in den Bundesländern gefunden, sowie Frauen aus den Institutionen oder Beratungsstellen, Vereinen, Clubs usw. Die ganze Sache kam somit sehr schnell ins Rollen. Es waren damals
schon sehr viele Menschen, vor allem Frauen, einfach wütend. Was uns damals als Politik verkauft wurde, war nicht was wir wollten. Dieses Gefühl habe ich jetzt wieder. Natürlich hat sich einiges verbessert, andererseits gibt es aber auch viele Rückschläge. Trotzdem: Wie ist das Begehren damals zustande gekommen, wer hat die Initiative ergriffen und wer war noch dabei? Rossmann: Wir haben sehr schnell das Unabhängige Frauenforum (UFF) gegründet. Bevor wir aber an die Öffentlichkeit gingen, arbeiteten wir ein Programm, bestehend aus elf Forderungen, aus und suchten uns geeignete Bündnispartnerinnen. Das waren einerseits die Parteifrauen. Also die Parteifrauen minus FPÖ, denn die wollten wir nicht einmal Höflichkeitshalber fragen. Deren Politik passte einfach nicht zu unseren Inhalten. Bei den Grünen waren sehr viele dabei, bei der SPÖ die Fortschrittlicheren und bei der ÖVP gab es Einzelne. Auch die katholische und evangelischen
Frauenbewegungen haben unsere Forderungen unterstützt. Danach hat niemand so einfach mehr von uns als „linkslinke grüne Frauenbewegung“ sprechen können. Bald darauf haben wir mit den großen Medienaktionen begonnen. Das hat sehr gut funktioniert. Es organisierten sich viele Frauen selbst, ohne von uns irgendwie kontrolliert zu werden. Wir hatten damals bestimmt über hundert Aktionen.
„Mehr (Unterschriften) als die Viecherl sollt‘ ma schon kriegen.“ Trotzdem: Obwohl viele Forderungen nicht umgesetzt wurden war das Frauenvolksbegehren ein Erfolg. Haben Sie mit so viel Zuspruch gerechnet? Rossmann: Nein, am Anfang auf keinen Fall. Es war doch ein sehr feministisches Programm mit ganz kon-
kreten Ansagen, darum war ich sehr gespannt. Wir wollten uns auch nie auf irgendeine Anzahl festlegen. Als Johanna Dohnal gefragt wurde wie viele Unterschriften sie sich erhofft, sagte sie nur, dass sie sich schon mehr als bei den Viecherl’n erhoffte. Das Tierschutzvolksbegehren, welches kurz zuvor initiiert wurde, hatte zirka 300.000 Unterschriften. Damals hielt ich sie für übergeschnappt. Obwohl wir, trotz Förderungen, mit wenig Geld arbeiteten, entwickelte sich das Ganze sehr schnell. Für damalige Zeiten war dieser breite Bewusstseinsschub ein riesiger Erfolg. Wenn es Misserfolg gab, dann nur von Seiten der Regierung. Die hätten mit dieser Unterstützung auch wirklich was tun können. Aber das haben sie sich nicht getraut. Minimale Verbesserungen gab es schon, aber zum Beispiel die Bestimmungen der Bundesverfassung, die erst ein paar Jahre später gekommen ist, wo wir wollten, dass drinnen steht, dass Frauen solange bevorzugt werden bis Gleichstellung hergestellt ist. Da steht drinnen dass
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Frauen „gleichgestellt werden dürfen“. Dürfen ist sehr lieb. Herzlichen Dank auch. Trotzdem: Einige Politiker und Politikerinnen nannten die Forderungen im Volksbegehren „frauenfeindlich“. Wie reagierten Sie auf solche Gegenstimmen?
Im Frühjahr 2017 soll es erneut ein derartiges Volksbegehren geben. Mitinitiatoren sind die Gründerinnen des Frauennetzwerkes The Sorority.
Johanna Dohnal (SPÖ) war von 1990 bis 1995 Österreichs erste Frauenministerin.
Rossmann: Ab und zu hat man sich schon geärgert, aber wir haben auch viel gelacht. Es hat damals schon viele Männer gegeben, die dachten sie können uns erzählen, was gut für uns ist. Das hat es danach nicht mehr gespielt. Ein Teil der Gegenstimmen war einfach aufgelegt. Dass die Rechten aus allen möglichen Parteien, die nicht wollen, dass Frauen selbstbestimmt sind, mit dem Frauenvolksbegehren nicht einverstanden sein würden war logisch. Und dass die Angst hatten war auch klar. Diese „Machtmännchen“ – das sind ja nur Männchen – hatten irrsinnig Angst, dass sie unter die Räder kommen würden, wenn Frauen die gleichen Rechte haben. Aber eigentlich sind sie
Diese „Machtmännchen“ hatten irrsinnig Angst unter die Räder zu kommen, wenn Frauen die gleichen Rechte bekommen. Aber eigentlich sind sie ja Armutschkerln.
Auf den nächsten 3 Seiten listen wir die 11 Forderungen des Frauenvolks begehrens auf. 1 Unternehmen erhalten Förderung und öffentliche Aufträge nur, wenn sie dafür sorgen, dass Frauen auf allen hierarchischen Ebenen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sind. 2 Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit ist anzustreben. Deshalb ist ein Mindesteinkommen von S 15.000 brutto, das jährlich dem Lebenskostenindex angepasst wird, zu sichern.
Armutschkerln. Aber genau deswegen wollten wir etwas dagegen tun. Hätte es diese Gegenstimmen nicht gegeben, hätten wir das Frauenvolksbegehren gar nicht notwendig gehabt. Trotzdem: Können Sie sich erklären warum manche Menschen „Feminismus“ für ein schlechtes Wort halten? Rossmann: Das ist ganz gezielt kaputt gemacht worden. Die Worte „Feminismus“, „Emanzipation“, „Emanze“ usw. sind richtige Schimpfwörter geworden seit Johanna Dohnal und Alice Schwarzer in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind. Die waren für viele eine Bedrohung. Das Weltbild, dass Frauen bestenfalls „Dazuverdienerinnen“ sind, wurde erschüttert. Es herrschte ein regelrechter Aufbruch. Das hat damals mit der Familienrechtsreform in den 70ern, wo der Mann als Oberhaupt der Familie abgeschafft worden ist, begonnen. Bis in die 70er konnte nämlich in Österreich der Mann entscheiden ob
die Frau berufstätig sein darf oder nicht. Nach dieser Reform fühlten sich die „Männchen“ wieder bedroht und deshalb wurden diese Begriffe lächerlich gemacht. Ich kenne auch Frauen die nach wie vor von sich behaupten keine Feministinnen zu sein. Ich würde mich auch selber als Emanze bezeichnen. Denn Emanzipation kommt aus dem Lateinischen und heißt „aus der Hand befreit“. Allein zu gehen ist doch ziemlich intelligent, denn dann kann ich mir selber aussuchen mit wem ich gehe. Nichts anderes ist es. Trotzdem: Was müssen wir jetzt 2017 machen, wo die Rechte versucht Frauenpolitik zu vereinnahmen, um Rassismus zu betreiben? Wie konnte es soweit kommen? Und wie würden die Forderungen heute aussehen? Rossmann: Darüber kann man eigentlich nur lachen. Wenn sich die Rechten für die Gleichstellung von Mann und Frau aussprechen, um im selben Satz über die „bösen Ausländer“ zu schimpfen, ist das echt ein Witz. Das sind die gleichen Typen die die Erwähnung von „Töchtern“ in der Bundeshymne missfällt, die gegen Lohntransparenz und Frauenquote sind – also diejenigen die faktisch Gleichberechtigung verhindern. Das ist blanke Heuchelei. Genauso wie die Annahme, man müsse die „armen“ Musliminnen vom Kopftuch „befreien“. So ein Blödsinn. Die kann man befreien indem man ihnen Jobbzw. Qualifikationschancen gibt. Das ist eine Befreiung. Es ist entscheidend, dass Frauen
mit Migrationshintergrund von Anfang an als Person die Chance bekommen sich bei uns nach ihren Fähigkeiten zu entwickeln. Dabei ist es wichtig, dass man sie nach ihren Fähigkeiten und Qualifikationen fragt. Weiter noch, dass man sie fragt was sie machen wollen und wohin sie sich entwickeln möchten. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Ein Verkleidungsverbot würde nichts bringen. Freie Entscheidung – die könnte was ändern. Lohntransparenz ist auch ein ganz entscheidender Punkt. Dann hätten Frauen nämlich den Nachweis, dass ihre männlichen Kollegen, bei gleicher Arbeit, mehr verdienen. Außerdem sollte es in allen gewählten Vertretungskörpern, egal was es ist, eine Mindestquote von 40 Prozent Frauen und Männern geben. Trotzdem: Haben Sie Tipps für junge Aktivistinnen? Rossmann: Es ist immer wichtig, wenn man so eine Initiative startet, dass diese gut durchgemischt ist. Es sollte von den Jüngeren ausgehen, aber es sollten Leute von allen Altersgruppen dabei sein. Auch bei den sozialen Schichten sollte es durchgemischt sein. Es gibt Menschen die sind mehr von dieser Benachteiligung betroffen, da ist es wichtig nicht für diese zu sprechen, sondern sie sprechen zu lassen. Außerdem macht es unglaublich Spaß, sich für eine gemeinsame Sache einzusetzen!
Das Interview führte Melanie Zvonik
Eva Rossmann, eine der Mitinitiatorinnen des Frauenvolksbegehrens von 1997. Quelle: Dergreg
3 Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung sind arbeits- und sozialrechtlich der vollen Erwerbstätigkeit gleichzustellen. 4 Keine Anrechnung des PartnerIneinkommens bei Notstandshilfe und Ausgleichszulage. 5 Die Gleichstellung der Frauen muss auch durch staatliche Bildungsmaßnahmen gefördert werden. Die Bundesregierung hat geschlechtsspezifische Statistiken zu den Themen Beruf und Bildung zu erstellen und jährlich zu veröffentlichen.
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Noch viel zu tun!
5 Punkte warum Frauen ökonomisch noch nicht gleichgestellt sind Wenn wir uns ansehen wie die Ökonomie die Geschlechterverhältnisse und umgekehrt die Geschlechterverhältnisse die Ökonomie beeinflussen, dann sehen wir folgendes: 1. Frauen sind übermäßig von der globalen Wirtschaftskrise betroffen Zunächst führte die Wirtschaftskrise in exportorientierten europäischen Ländern zu einem starken Anstieg der Männerarbeitslosigkeit. Nach einiger Zeit stieg auch die weibliche Arbeitslosigkeit in der EU an. Die derzeitige Situation wird als „Zweitrundeneffekte“ der Wirtschaftskrise beschrieben: Staatliche Ausgaben gehen wegen der Verschuldung und private Ausgaben wegen sinkender Beschäftigung zurück. Frauen und ihre unbezahlte Betreuungs- und Pflegetätigkeiten sind als „soziale Air Bags“ gefragt, die das Schrumpfen öffentlicher Leistungen abfedern sollen. Es sind daher Frauen, die die überproportionale Last von Krisen
tragen, denn sie verlieren nicht nur ihre Jobs, sondern müssen auch die Güter und Dienstleistungen ersetzen, die nicht mehr auf dem Markt gekauft werden können oder vom Staat nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Die Rücknahme öffentlicher Leistungen in Zeiten knapper Kassen bedeutet dabei einen doppelten Verlust: Verhinderung weiblicher Erwerbsintegration und Reduzierung von Frauen-Arbeitsplätzen. 2. Frauen verdienen im Schnitt um 22% weniger als Männer Kinderbedingter Erwerbsunterbrechungen, mangelnden Kinderbetreuungseinrichtungen, unterschiedliche Berufe und Branchen, Teilzeitbeschäftigung und Diskriminierung, all dies resultiert in Einkommenseinbu-
ßen für Frauen. So betrug der Gap zwischen den durchschnittlichen BruttoStundenverdiensten der männlichen und der weiblichen Beschäftigten 2015 in Österreich knapp 22%. Ein großer Teil der Gehaltsdifferenz zwischen Frauen und Männern ist maßgeblich dadurch getragen, dass mehr Frauen Teilzeit arbeiten als Männer. In Österreich waren 85% der Teilzeitbeschäftigten Frauen, gleichzeitig stellen sie 75% der EinkommensbezieherInnen im untersten Dezil der Einkommensverteilung dar. Ein Grund hierfür ist die Organisation des Arbeitsmarktes. Es spielen aber auch familiäre und gesellschaftliche Normen eine zentrale Rolle: so leisten immer noch vorwiegend Frauen unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit, vor allem wenn sich ein Paar entschließt Kinder zu bekommen.
3. Frauen haben durchschnittlich um 40% weniger Vermögen als Männer Die Verteilung von Vermögen war über sehr lange Zeit ein unerforschtes Feld der Ökonomie – schlicht und ergreifend aufgrund mangelnder Daten. Mit dem Household Finance and Consumption Survey (HFCS) stehen nun umfassende und vergleichbare Daten zur Vermögensverteilung in ganz Europa zur Verfügung. Diese bestätigen analog zur internationalen Literatur, dass – wie beim Einkommen – auch beim Vermögen eine substantielle Lücke zwischen den nach Geschlecht aufgeteilten Haushalten besteht: Weibliche Single-Haushalte besitzen deutlich weniger Vermögen als männliche Single-Haushalte. Die Unterschiede zwischen weiblichen
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6 Jeder Mensch hat das Recht, Beruf und Kinder zu vereinbaren. Daher hat der Gesetzgeber für die Bereitstellung ganztägiger qualifizierter Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen zu sorgen. Tagesmütter sind auszubilden und arbeits- und sozialrechtlich abzusichern. 7 Zwei Jahre Karenzgeld für alle AlleinerzieherInnen. 8 Gesetzlich garantierter Anspruch auf Teilzeitarbeit für Eltern bis zum Schuleintritt ihres Kindes mit Rückkehrrecht zur Vollzeitarbeit. 9 Ausdehnung der Behaltefrist am Arbeitsplatz nach der Karenzzeit auf 26 Wochen. 10 Jeder Mensch hat das Recht auf eine Grundpension, die nicht unter dem Existenzminimum liegen darf. Wenn ein/e Lebenspartner/in nicht erwerbstätig ist, hat der/die andere dafür Pensionsbeiträge zu zahlen. Kindererziehung und Pflegearbeit wirken pensionserhöhend. 11 Keine weitere Anhebung des Pensionsantrittsalters für Frauen, bevor nicht die tatsächliche Gleichberechtigung in allen Bereichen gegeben ist.
Dezil: Maß, das geordnete Werte in zehn gleiche Teile einteilt. Überwiegend Frauen arbeiten in Teilzeit. Der Anteil an Menschen in Teilzeit wächst stetig, gerade während der Krise stieg er an! Quelle: Statistik Austria
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und männlichen Single-Haushalten bestehen vor allem am oberen und unteren Rand der Verteilung. Über weite Bereiche ist die Verteilung zwischen weiblichen und männlichen SingleHaushalten ähnlich, etwa zwischen dem 7. und 70. Perzentil. Männliche Single-Haushalte in den oberen Perzentilen besitzen ein deutlich höheres Vermögen als weibliche. Demgegenüber steht am unteren Rand eine stärkere Verschuldung männlicher als weiblicher Single-Haushalte. Der Unterschied hier ist jedoch deutlich geringer als am oberen Rand. 4. Frauen übernehmen 2/3 der unbezahlten Arbeit Jede Woche werden in Österreich ca. 186,5 Mio. Stunden an unbezahlter Arbeit geleistet. Das übersteigt mit 51% den Anteil an Erwerbsarbeit. Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit für Hausarbeit, Kinderbetreuung, die Pflege von Kranken oder Gebrechlichen oder ehrenamtliche Mitarbeit werden von Frauen geleistet, ein Drittel von Männern. Annähernd umgekehrt ist das Verhältnis bei bezahlter Erwerbsarbeit. Sowohl der Anteil der Frauen, die im Haushalt unbezahlte Tätigkeiten verrichten, als auch der der Männer ist angestiegen, jedoch von deutlich unterschiedlichen Niveaus. 1981 arbeiteten 88% der Frauen unbezahlt im Haushalt, 2008 95%. Im Unterschied dazu waren 1981 knapp 40% aller Männer im Haushalt tätig, 2008 hingegen fast 78%. Hinsichtlich der aufgewendeten
Zeit lässt sich sowohl bei Frauen als auch Männern ein sinkender Zeitaufwand feststellen. Jedoch arbeiten Frauen auch heute noch um ca. 1½ Stunden pro Tag mehr im Haushalt als Männer (zum Vergleich: 1981 waren das knapp 2 Stunden). 5. Frauen sind prototypisch für Entscheidungen als Hausfrau und Mutter zuständig Entscheidungsfindungsprozesse in Haushalten bzw. Familien finden bislang in der Ökonomie wenig Beachtung, der Haushalt ist oftmals eine „Black Box“. Geschlecht strukturiert ganz eindeutig die Entscheidungsprofile von Paaren: Frauen sind viel häufiger für Entscheidungen ihrer „traditionellen“ Rolle als Mutter und Hausfrau entsprechend zuständig, ihre Entscheidungsmacht bleibt oftmals auch
auf die Bereiche alltäglicher Ausgaben und Ausgaben für Kinder beschränkt. Männer sind vor allem für finanzielle Angelegenheiten im Haushalt zuständig. In den meisten europäischen Ländern werden Entscheidungen im Haushalt bei ähnlicher Bildung, ähnlicher Einbindung in den Erwerbsarbeitsmarkt und bei weniger großen Einkommensunterschieden eher gemeinsam als getrennt getroffen. Ein geringerer „Gender Pay Gap“ oder Bildungsinitiativen können daher die Entscheidungsfindungsprozesse in Haushalten gleichberechtigter gestalten. Um Gleichstellung zwischen den Geschlechtern zu erreichen, bräuchte es daher ein Bündel an Politikmaßnahmen, von Arbeitszeitverkürzung, über die Bereitstellung qualitätvoller staatlicher Care-Leistungen (Kinderbetreuung, Altenpflege etc.), Kampagnen zur partnerschaftlichen Aufteilung von unbezahlter Arbeit bis hin zu Erbschaft- und Vermögenssteuern.
Das Vermögen von Frauen ist deutlich geringer als von Männern. Dieser Aspekt wurde auf Grund mangelnder Daten und Fokus auf das Einkommen bisher kaum beachtet, drückt sich aber gerade in den reicheren Haushalten (obere 30%) besonders stark aus. Quelle: Arbeiterkammer Perzentil: Ein Perzentil bezeichnet in der Statistik, die Position eines Wertes innerhalb eines Kollektivs an Werten. Ein 7-Perzentil-Wert besagt, dass maximal 93% der Werte darüber liegen, ein 70er maximal 30%. In Bezug auf SingleHaushalte besitzen bei einem 7-Perzentil-Wert 93% der Haushalte mehr Vermögen.
Katharina Mader
Links: zu Punkt 2: ec.europa.eu/eurostat/tgm/table. do?tab=table&init=1&plugin=1&la nguage=de&pcode=tsdsc340 zu Punkt 3: media.arbeiterkammer.at/wien/ MWUG_Ausgabe_129.pdf zu Punkt 4: www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/ soziales/zeitverwendung/zeitverwendungserhebung/index.html zu Punkt 5: epub.wu.ac.at/3995/1/wp157.pdf
Dr.in Katharina Mader arbeitet an der Wirtschaftsuniversität Wien im Department Volkswirtschaft, Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie. Ihr Doktoratsstudium für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften schloss sie 2008 mit ihrer Arbeit zum Thema „Gender Budgeting als emanzipatorisches, finanz- und demokratiepolitisches Instrument“ ab. Quelle: WU Directory
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Auswirkungen Neoliberalismus
Feminismus in der Falle?! Wenn wir heute in den Medien von „Feminismus“ lesen, ist zumeist ein bürgerlicher Elite-Feminismus gemeint. Dieser greift die ökonomischen Verhältnisse nicht an, sondern versucht Feminismus und Kapitalismus zu verbinden. Besonders seit den 80er und 90er Jahren, der Anfangszeit des Neoliberalismus, gelingt dies immer besser. Der neoliberale Kapitalismus und Feminismus stellen, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, scheinbar keine Widersprüche mehr da. Wie konnte das passieren?
„Hoch hinaus: Was im kühlen Business-Sprech Selbstoptimierung heißt, nennen Therapeuten und Coaches schlicht Weiterentwicklung. Es ist diesmal das zentrale Thema von SPIEGEL WISSEN – wie kann man nicht nur erfolgreicher leben, sondern vor allem zufriedener?“ – aus: Der Spiegel ‚Wissen‘ Nr 3 / 2013
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ls Neoliberalismus wird eine Ideologie bezeichnet, die den wirtschaftlichen Markt als oberstes Ordnungssystem der Gesellschaft betrachtet. Dadurch kommt es zu einer massiven Kräfteverschiebung von der Politik hin zur Wirtschaft. Sozialsysteme, wirtschaftliche Handelsbarrieren und politische Strukturen, die die Wirtschaft in irgendeiner Form lenken und steuern, müssen zu Gunsten von Freihandel abgebaut werden. Das spezielle am Neoliberalismus ist aber, dass sich diese Entwicklungen nicht nur auf die Wirtschaft selbst, sondern auf sämtliche Lebensbereiche beziehen. Alle Bereiche des menschlichen Lebens werden dem Markt untergeordnet und ökonomisiert. Wir merken das in Diskussionen über die Finanzierbarkeit von Krankenhäusern
genauso, wie am riesigen Selbstoptimierungsboom. Ständig muss das Beste aus sich herausgeholt werden, um am „Markt“ bestehen zu können. Diese Selbstoptimierung und die damit einhergehende Individualisierung lässt sich unter dem Schlagwort „Selbstbestimmung“ scheinbar perfekt mit feministischen Forderungen verbinden. Besonders in der 2. Welle der Frauenbewegungen wurde mit dem Wort „Selbstbestimmung“ vor allem das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und das Recht ohne Erlaubnis des Ehemannes Lohnarbeit nachgehen zu dürfen assoziiert. „Selbstbestimmung“ stellte also einen Kampfbegriff dar, der sich gegen aktuelle gesellschaftliche Werte richtete. Heute ist „Selbstbestimmung“ alles und nichts. „Selbstbestimmung“ wurde so uminterpretiert, dass damit keine konkreten Punkte mehr gemeint sind und alles sein kann, was eine Frau macht. Die kämpferische Bedeutung wurde gegen eine Selbstoptimierungsdefinition getauscht. Auch der Gleichheitsgedanke, der für feministische Bewegungen immer essentiell ist und war, kann gut an das neoliberale System angepasst werden. Perfektes Beispiel hierfür sind Diskussionen über Frauenquoten in Vorständen. Neoliberale Stimmen begründen Frauenquoten nicht über den Gleichheitsgedanken, sondern durch einen Effizienzgewinn für Unternehmen. Aus ihrer Sicht braucht es Quoten, weil es einen Verlust von Wissen, Erfahrung und schlussendlich auch von Gewinnen darstellt, wenn Frauen nicht in Unternehmensentscheidungen eingebunden werden. Im Feminismus wurde auch immer das „male-breadwinnermodel“ stark kritisiert, weil es die Frau in Abhängigkeit zum Mann bringt. Heute ist es so, dass
mehr Frauen denn je Lohnarbeit verrichten. Einerseits gewinnen Frauen dadurch an Unabhängigkeit. Andererseits nimmt der ökonomische Druck aber so stark zu, dass es nicht mehr reicht, wenn in einem Haushalt nur eine Person Lohnarbeit verrichtet. Darüber hinaus sind es Frauen selbst, die, wenn sie in den Arbeitsprozess eingegliedert werden, vermehrt von prekären Anstellungen und schlechten Arbeitsbedingungen betroffen sind. Eine weitere zentrale feministische Forderung ist die Anerkennung von unbezahlter Arbeit, die noch immer überwiegend von Frauen verrichtet wird. Durch die Ökonomisierung der Lebensbereiche verwirklicht sich diese scheinbar zu einem Teil. Hausarbeit wird dann zwar als bezahlte Arbeit gesehen und nicht mehr von weißen, westlichen Frauen verrichtet, aber unter schlechter Bezahlung an Migrantinnen weitergegeben. Viele Kernelemente feministischer Strömungen wurden also in das neoliberale Konzept aufgenommen und uminterpretiert. Einen Zugewinn an Freiheiten oder ein mehr an Emanzipation gibt es dadurch nur für wenige, bessergestellte Frauen. Der Neoliberalismus benutzt den Feminismus also zu einem gewissen Teil, um sich selbst und sein Gesellschaftsbild zu legitimieren. Wesentliche Unterdrückungsmechanismen bleiben aber bestehen oder werden auf sozial noch schwächere Schichten abgewälzt. Deshalb braucht es einen sozialistisch-marxistischen Feminismus, der die kapitalistischen Verhältnisse angreift, das Wohl der Proletarierinnen in den Mittelpunkt stellt und sich nicht vom Neoliberalismus vereinnahmen und umdeuten lässt.
Thomas Pilgerstorfer
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Diskurs zwischen Leistung und Gleichberechtigung
„Integration“: unterschiedliche Verständnisse, unterschiedliche Politik?! Der Begriff „Integration“ ist „in“. Er taucht in der österreichischen Politik- und Medienlandschaft ständig auf und ist auch im alltäglichen Sprachgebrauch angekommen. Doch welches Konzept steckt hinter „Integration“? Gibt es unterschiedliche Zugänge? Und was hat das für Auswirkungen?
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Das neoliberale Konzept „Integration durch Leistung“ macht eben diese zur alleinigen Anforderung an Zuwandernde. Also zur Einbahnstraße!
Perchinig Bernhard (2010): Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch? In: Langthaler Herbert (Hg.): Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde. Innsbruck: Studienverlag. 13–32. Lingua franca: die Sprache, die allen Menschen eines Gebiets den Verkehr hinsichtlich Handel, Diplomatie, Verwaltung etc. ermöglicht.
us der Soziologie stammend ist mit „Integration“ die Herstellung eines Ganzen (hier die Gesellschaft) aus unterschiedlichen Teilen gemeint. Beispielsweise spricht der Soziologe Talcott Parsons über „Integration“ als ein Indikator für Zusammenhalt und Stabilität einer Gesellschaft. Hans-Joachim Hoffman-Nowotony meint damit die Teilhabe an der Statusstruktur einer Gesellschaft. Im politischen Diskurs variiert der Begriff von „Integration“ als Prozess der Herstellung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit bis hin zu „Integration“ als normative Anforderung an MigrantInnen. Damit unterscheiden sich vor allem zwei Verständnisse von „Integration“: Integration als wechselseitiger Prozess oder als einseitige Leistung, die von den Zuwandernden erbracht werden muss. Wird „Integration“ als „Bringschuld“ von MigrantInnen verstanden, so hängt deren (Miss-)Erfolg letztlich von ihnen selbst ab. Damit wird eine Assimilation, also eine gänzliche kulturelle Angleichung an die Aufnahmegesellschaft gefordert, die mit dem ursprünglichen soziologischen Verständnis von „Integration“ nur mehr wenig zu tun hat. Laut Perchinig beruht diese einseitige Auslegung von „Integration“ auf dem Bild eines Nationalstaates, dessen Bevölkerung kulturell möglichst homogen sein soll, da soziokulturelle Vielfalt als Problem gesehen wird. In diesem Sinne sollen MigrantInnen „gemeinsame Werte“ sowie die lingua franca erlernen. Ein anderes einseitiges Verständnis, welches „Integration“ als alleinige Verantwortung
und zu erbringende Leistung des Staates betrachtet, ist laut Perchinig aber genauso problematisch. Dadurch werden MigrantInnen als Opfer und damit genauso wie im ersten Modell als Defizitwesen dargestellt, wodurch ihnen Autonomie sowie Handlungsfähigkeit abgesprochen werden. Alle hier angeführten Autor Innen sind sich darin einig, dass „Integration“ ein wechselseitiger Prozess sein muss, der sowohl die Handlungsbereitschaft von Zugewanderten als auch die „Integrationsbereitschaft“ der gesamten Gesellschaft und damit Zugang zu Strukturen voraussetzt. Schmidinger plädiert dafür, dass alle Gesellschaftsmitglieder darüber ausverhandeln müssen, in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Doch nur durch gleiche Chancen und gleiche Partizipationsmöglichkeiten für alle können auch MigrantInnen an diesem Diskurs teilnehmen. Nach Schmidinger muss dafür eine Basis herrschen, die Menschen- und BürgerInnenrechte für alle garantiert und die von der Gleichheit aller Mitglieder einer Gesellschaft ausgeht. Auch Perchinig geht es um individuelle Autonomie und Menschenrechte. Relevant sieht er in diesem Sinne nicht so sehr die „Integration“ an sich, sondern die Möglichkeit, durch Gleichberechtigung und Chancengleichheit das eigene Leben autonom gestalten zu können. Dazu braucht es aber nicht nur den Zugang zu Ressourcen und Strukturen, sondern auch die Anerkennung der Person und eine institutionelle Öffnung. In Österreich ist der Begriff der „Integration“ vor allem durch
den ÖVP-Minister Sebastian Kurz geprägt worden. Im politischen Diskurs wird der ÖVPSlogan „Integration durch Leistung“ viel Raum geboten. Hierbei zeigt sich auch die neoliberale ÖVP-Logik: „Integration“ kann in diesem Verständnis nicht als wechselseitiger Prozess verstanden werden, da vor allem von MigrantInnen verlangt wird, zu „leisten“. Somit würde „Integration“ erfolgreich klappen, wenn es die Person auch selber will und dafür auch genügend tut. Zusätzlich kam es in den letzten Jahren zu verschärften Migrationsgesetzen. Damit wird reguläre Migration für Personen immer schwierig und ist meist mit hohen Kosten verbunden. Es geht nicht mehr darum, Migrant Innen als Teil der Gesellschaft zu sehen und einen gemeinsamen Aushandlungsprozess zu ermöglichen. Vielmehr sollen Menschen ausgeschlossen, Teile der Bevölkerung gegeneinander ausgespielt und ein negatives Zukunftsszenario propagiert werden. Daher muss wieder ein solidarischer Diskurs über Migrationspolitik als Querschnittsmaterie angestoßen werden. Die neoliberale und rassistische Politik der ÖVP muss zurückgedrängt und entkräftet werden. Wenn MigrantInnen immer mehr Hürden in den Weg gelegt werden, seien es gesellschaftliche oder rechtliche, muss vehement dagegen gehalten und ein gemeinsamer Kampf für gleiche Rechte für alle Teile der Gesellschaft vorangetrieben werden. Denn: Nur gemeinsam können wir zu einer besseren Gesellschaft beitragen!
Sybilla Kastner
Schmidinger Thomas (2010): Migration und Integration. In: Langthaler Herbert (Hg.): Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde. Innsbruck: StudienVerlag. 33-42. BürgerInnenrechte für alle: Politische Teilhabe ist dabei ein zentraler Aspekt! Diese wird MigrantInnen zu einem Großteil entzogen, da sie in Österreich kein Wahlrecht haben, solange sie keine StaatsbürgerInnenschaft besitzen.
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Die Lernunter lagen des BMEIA sollen Werte wie Gleichberechtigung, Demokratie und Gewaltentrennung in den Fokus rücken. Quelle: Dragan Tatic
Interview über Wertekurse
„Orientierung Ja, Wertekurse Nein!“ Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 rückte auch die Integration in den Fokus der Debatte. Auf die Problematik mit dem Begriff der Integration ist Sybilla Kastner bereits auf der vorherigen Seite eingegangen. Das TROTZDEM traf Ali Altun und Sarah Barta zum Gespräch über Wertekurse, die unzureichende Diskussion über ‚Werte‘, nationalistische Politik und Widersprüchlichkeiten. Trotzdem: Wertekurse stehen in der Politik hoch im Kurs. Wie läuft so ein Kurs ab? Altun: Wertekurse richten sich an AsylwerberInnen, Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte. Wie diese einem solchen Kurs zugewiesen werden, hängt vom Kontext ab, beispielsweise durch das AMS oder in verschiedenen Bundesländern durch die Mindestsicherung, weil es jetzt diese Integrationsvereinbarungen gibt. Der Kurs selbst findet am Beispiel Wien in den Räumen des ÖIF in einer Gruppe von sieben bis 30 Leuten statt. Laut dem ÖIF wird Wert darauf gelegt, dass die Kurse interaktiv und in sprachlich homogenen Gruppen statt finden. Der Kurs wird 1:1 gedolmetscht und besteht aus 8 Modulen, wie beispielsweise Nachbarschaft, wo man über Ruhezeiten lernt oder wie man sich dem Nachbarn vorstellt. Oder Themen wie Schule, Bildung und der Stellenwert von Sprache. Der Kurs dauert insgesamt acht Stunden, eine Stunde pro Modul, entweder an einem Tag oder an zwei. Trotzdem: Wer legt fest, welche ‚Werte‘ vermittelt werden? Barta: Die Lernunterlage wurde vom BMEIA gemeinsam mit NahostexpertInnen festgelegt. Das BMEIA sagt, dass
es um Werte wie Gleichberechtigung, Demokratie und Gewaltentrennung geht. Sie versuchen auch auf Gruppen einzugehen, beispielsweise wenn in einer Gruppe hauptsächlich Frauen sind, soll besonders auf frauenspezifische Sachen eingegangen werden. Trotzdem: Welche Ziele werden von Seiten des BMEIA und ÖIF genannt? Altan: Eines der Ziele ist es, eine kulturelle Erstorientierung zu geben. Sie sollen auch den sozialen Frieden sichern und den Menschen die Möglichkeit geben, in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen. Barta: Gleichzeitig betont das BMEIA auch, dass die Grundsteine der Österreichischen Gesellschaft erhalten bleiben sollen. Der Mitarbeiter brachte hier das Beispiel von einem Haus, wo verschiedene Gruppen herumbasteln können, aber die Mauern und Fundamente sollen ‚Österreichisch‘ bleiben. Das ist eine nationalistische Sichtweise, weil davon ausgegangen wird, dass es in Österreich eine homogene Kultur gibt und vorausgesetzt wird, dass die Menschen, die hier her kommen, eine andere Kultur haben. Diese Menschen müssen dann unsere Werte, die sie angeblich nicht haben, erlernen. Da wird dann angenommen, dass wir Demokratie haben und andere das gar
Es wird vermittelt, wie wichtig hierzulande Gleichberechtigung ist, aber dann gehen die KursteilnehmerInnen hinaus und erfahren Diskriminierung. Das ist Scheinheiligkeit. nicht kennen. Oder auch das Thema Gleichberechtigung. Es wird vermittelt, wie wichtig hierzulande Gleichberechtigung ist, aber dann gehen die KursteilnehmerInnen hinaus und erfahren Diskriminierung. Das ist Scheinheiligkeit. Altun: Maria Steindl hat eingebracht, dass es sich in der Diskussion um Werte und Wertekurse oft um den Zerfall der Österreichischen Kultur dreht, den es aber so nicht gibt. Dieser Rassismus zielt hier nicht mehr auf den biologischen ‚Rasse‘-Begriff ab, sondern auf die Kultur, die aber in diesem nationalistischen Verständnis ebenso unveränderbar ist. Trotzdem: Die Integrationsvereinbarung wird wohl Österreichweit kommen. Damit wird der Besuch von Wertekursen verpflichtend. Kommt es da
nicht zu Konflikten mit dem Paradigma „Integration nicht zu verordnen“, welches sogar das BMEIA vertritt? Barta: Das ist eine der vielen Widersprüchlichkeiten. Einer der Mitarbeiter des BMEIA meinte, Integration zu verordnen hat einen „totalitären Touch“ und jetzt soll es aber auf einmal verpflichtend werden. Ein anderer Widerspruch ist das Verständnis von Integration als ein wechselseitiger Prozess. Jeder soll etwas dafür tun. Laut Herrn Fassmann geht es also nicht mehr um Assimilation, gleichzeitig werden aber ständig Forderungen ausschließlich an zuziehende Menschen gestellt: sie sollen Deutsch lernen, sie sollen Wertekurse belegen. Eben dieses falsche Bild von Integration durch einseitige Leistung. Trotzdem: Welche weiteren Kritikpunkte an Wertekursen habt Ihr in eurer Arbeit angeführt? Barta: Prinzipiell spricht ja nichts dagegen über Werte zu diskutieren, dann müsste das aber gesamtgesellschaftlich stattfinden. Denn wer sagt denn, dass Leute, die schon in Österreich leben, sich an diese Werte halten? Oder dass sie überhaupt diese Werte haben. Altun: Beispielsweise die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Der
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Gleichberechtigung? Die aktuelle Oberösterreichische Landesregierung startete im Oktober 2015 mit einer rein männlichen Besatzung. Erst mit dem Wechsel der SP-OÖ Spitze Mitte 2016 änderte sich das. Quelle: Land OÖ/ Stinglmayr
BMEIA Mitarbeiter hat gemeint, dass eine Intention hinter diesen Kursen ist, dass diese Menschen aus Gebieten kommen, wo sich manche Werte, die bei uns Gang und Gebe sind, noch nicht durchgesetzt haben. Da meint er eben auch die Gleichbehandlung zwischen Mann und Frau, die wir in Österreich sicher noch nicht erreicht haben. Barta: Es ist wieder dieses sehr homogene Bild. Da haben anderen Länder automatisch andere Werte. Dass es Unterschiede zwischen diesen Ländern gibt, wird dann nicht beachtet.
ÖIF: Österreichischer Integrationsfond BMEIA: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres Herr Fassmann ist Vorsitzender des ExpertInnenrats für Integration im BMEIA.
hierher kommen, unsere Kultur annehmen und ihre daheim lassen sollen. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird.
Trotzdem: Der Begriff der „Werte“ ist ein politisches Kampffeld. Welche Rolle spielt die aktuelle Diskussion?
Trotzdem: Der Staat spielt eine große Rolle. Was hat sich hier getan?
Altun: Für mich stellt sich die Frage: Welches Bild trägt es nach außen, wenn man davon ausgeht, dass gewisse, nach Österreich geflüchtete, Personengruppen Wertekurse besuchen müssen, um „österreichische“ Werte zu erlernen?
Barta: Eine positive Entwicklung ist auf jeden Fall, dass mehr Augenmerk darauf gelegt wird. Es gibt mittlerweile ein größeres Angebot, gerade auch hinsichtlich Deutschkursen. Man nimmt aber auch eine entgegengesetzte Entwicklung wahr: Eine restriktivere, mehr Zwang wird ausgeübt. Ich empfinde es als Verschlechterung, dass das Sekretariat vom Innen- ins Außenministerium verlagert wurde. Meiner Meinung nach widerspricht sich das: Wenn wir Leute in unsere Gesellschaft integrieren, dann hat das ja mit dem Inneren Österreichs zu tun und nicht mit dem Äußeren. Der Kontrollcharakter ist dadurch gestiegen. Trotzdem: Was muss eurer Meinung nach geändert werden oder braucht es überhaupt einen komplett neuen Ansatz?
Altun: Ein anderer Punkt ist, wenn der BMEIA Mitarbeiter meint, dass Menschen in Syrien vor der Polizei Angst haben. Im Kurs soll dann vermittelt werden, dass man in Österreich vor der Polizei keine Angst zu haben braucht. Aber gerade für eine Person in einem laufenden Asylverfahren kann das komplett anders sein.
Altun: Unser Fazit ist: Orientierung Ja, Wertekurse Nein! Orientierung kann durchaus nützlich sein, besonders in Bezug auf Gesundheitsversorgung und Schulwesen. In Österreich ist es zum Beispiel üblich, dass man bei kleineren Beschwerden eher eine(n) AllgemeinmedizinerIn als ein Krankenhaus aufsucht. Aber Wertekurse sind zu kritisieren.
Barta: Auch dieses Verständnis von Integration als wechselseitiger Prozess zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ ist schon falsch. Es sollte viel mehr darum gehen, dass unsere Gesellschaft aus vielen unterschiedlichen Teilen besteht und nicht nur aus zwei gegenüberstehenden Seiten. Ein weiterer Punkt sind Machtungleichheiten. Wenn es darum geht, für ein gutes Zusammenleben zu sorgen, haben jene Menschen, die in einer größeren Machtposition stehen, mehr Möglichkeiten zu Handeln. Also jene, die hier schon länger leben und die Sprache besser können. Trotzdem wird dies nur von denen erwartet, die eh schon mit wenig Ressourcen her kommen und von einer schlechteren Position aus starten. Für mich sind das oft Ausreden einer nationalistischen Sichtweise, die darauf hinausläuft, dass Menschen, die
Barta: Ich denke auch, dass das Anbieten von Informationen sinnvoll ist. Viele Menschen wissen über wichtige Dinge nicht Bescheid und werden damit alleine gelassen. Das ist jedoch zu trennen von der Wertedimension, die meiner Meinung nach anders angegangen werden muss – gesamtgesellschaftlich, nicht einfach nur auf eine Gruppe bezogen. Ein gutes Beispiel ist das Wertepapier. Dafür haben sich ExpertInnen zusammengesetzt, die viel Erfahrung in der Arbeit mit flüchtenden Personen mitbringen, und ähnliche Punkte erstellt wie in der Kursunterlage des Bundesministeriums zu finden sind. Dabei haben sie Forderungen gestellt und sinnvollere Alternativen aufgezeigt. Dass dieser Versuch völlig unbeachtet geblieben ist, zeigt, dass gewisse Expertise einfach ausgeschlossen wird.
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Prinzipiell spricht ja nichts dagegen über Werte zu diskutieren, dann müsste das aber gesamtgesellschaftlich stattfinden. Als unpolitische Person würde ich mich bestätigt fühlen, dass deren Werte mit den unseren unvereinbar und einander entgegengesetzt sind. Barta: Was wiederum Rassismus in unserer Gesellschaft den Weg bereitet. Wenn man die Vorstellung verfestigt, dass unsere Werte gegensätzlich sind und die österreichischen erlernt werden müssen, werden diese automatisch höher gestellt. Das stärkt auch Stereotype.
Das Interview führten Ines Erker und Roland Plachy
Ali Altun, Sarah Barta und Sybilla Kastner widmeten sich in ihrer ersten Bachelorarbeit im Studium der Sozialen Arbeit am FH Campus Wien dem Thema „‚Werte, die uns verbinden‘? Eine kritische Analyse einer österreichischen „Integrationsmaßnahme“ für nach Österreich geflüchtete Personen“. In einem theoretischen Teil setzen sie sich mit den Begriffen von Integration und Kultur auseinander – Sybilla Kastner hat die Ergebnisse auf Seite 21 zusammengefasst. Anschließend interviewten sie vier Personen, darunter ein Mitarbeiter des BMEIA, des ÖIF, eine Sozialarbeiterin sowie Maria Steindl, Kultur- und Sozialanthropologin, um mehr über deren Verständnis von Integration und Position zu Wertekursen zu erfahren.
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Marine Le Pen, Kandidatin des rechtsextremen Front National, darf Faschistin genannt werden. Das gerichtliche Urteil dazu hielt auch der Berufung Le Pens stand. Quelle: Blandine Le Cain
Wahlen in Frankreich
„Ihre Welt geht unter …!“ „Als ich gegen die Wahlerfolge der Rechtsextremen demonstrieren ging (…), habe ich mich auch gegen meine eigene Familie gestellt.“ Der Kampf gegen Rechts bedeutete für den Soziologen Didier Eribon den radikalen Bruch mit seiner Herkunft. In ‚Rückkehr nach Reims’ beschreibt er seine Entwicklung vom Arbeiterkind aus dem Nordosten Frankreichs zum Pariser Intellektuellen. Sein Buch erlebt seit Monaten in ganz Europa einen regelrechten Hype – und das nicht von ungefähr. it seinem Werk gibt Eribon einen gelungenen Einblick in die Lebensrealität der französischen ArbeiterInnen – und liefert eine Begründung für ihre Hinwendung zum rechtsextremen Front National. Schließlich bildet gerade die ArbeiterInnenklasse nicht nur in Frankreich, sondern in immer mehr europäischen Ländern, die Basis für rechte und rechtsextreme Parteien. Für diese Entwicklung bietet ‚Rückkehr nach Reims’ nicht nur eine Erklärung, sondern vor allem Lösungen. Dass Eribon gerade am Beginn des Jahres 2017, in dem in Deutschland, Italien, den Niederlanden und eben auch in Frankreich gewählt wird, zu einem der gefragtesten Interviewpartner des politischen Europas avancierte, ist vor diesem Hintergrund wohl kein Zufall. Er, der als Jugendlicher seine Heimatstadt verließ, zeichnet den politischen Wandel der französischen ArbeiterInnenklasse anhand seiner eigenen Familiengeschichte nach. Als Kind einer „selbstverständlich kommunistischen Familie“ entfremdete er sich in seiner Jugend immer mehr vom ArbeiterInnen-Milieu in
M
Reims, bis der Kontakt zu Eltern und Geschwistern schließlich ganz abbrach. Erst der Tod seines Vaters war für Eribon Anlass zur Rückkehr in seine Geburtsstadt. Entlang der Gespräche mit seiner Mutter zeichnet er eine halb biographische, halb soziologische Studie zum Aufstieg des rechtsextremen Front National – und begründet damit auch die Erosion der französischen Linken. Eribons Eltern zählten, wie die meisten ArbeiterInnen aus dem Nordosten Frankreichs, lange Jahre zur Machtbasis der kommunistischen Bewegung. „Für meine Familie teilte sich die Welt in zwei Lager. Entweder man war ‚für die Arbeiter’ oder man war gegen sie.“ Die Zugehörigkeit zur „Partei“ war in den Fabriken der Region eine Selbstverständlichkeit – für Männer. Man demonstrierte am 1. Mai und wählte kommunistische KandidatInnen. Das Milieu, das Eribon beschreibt, ist typisch für das Frankreich der Sechziger- und Siebzigerjahre – eine Zeit, in der die ‚Parti communiste’ die tonangebende Kraft der französischen Linken war. Erst Francois Mitterrand gelang es, mit der neuen ‚Parti socialiste’ im Jahr 1981
die konservative Vorherrschaft zu brechen und als erster Linker in den Pariser Elysee-Palast einzuziehen. In genau diesem Moment verortet Eribon den Anfang des Abstiegs der französischen Linken: Durch den Niedergang der ‚Parti communiste’, der er mangelnden Willen zum Bruch mit der Sowjetunion vorwirft. Vor allem aber durch die „Verdros-
Mit dem Zynismus der Herrschenden wurde die soziale Frage für die Linke vom Alleinstellungsmerkmal zum Nebenthema. senheit“, die von der ersten sozialistischen Regierung Frankreichs ausgelöst wurde. „Die Linke unterzog sich einer radikalen Wandlung und ließ sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle ein (…) Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von ‚notwendigen Reformen’ (…),
nicht von sozialem Schicksal, sondern von ‚Zusammenleben’ und ‚Eigenverantwortung’.“ Mit dem Zynismus der Herrschenden wurde die soziale Frage für die Linke vom Alleinstellungsmerkmal zum Nebenthema. Die ‚Parti socialiste’ liefert damit ein Musterbeispiel für die Krise der europäischen Sozialdemokratie. Indem SozialistInnen die kollektiven Interessen der ArbeiterInnenklasse ignorierten, gar verrieten – ja bald sogar den Begriff der „Klasse“ ablehnten – und sich der Idee des ‚freien Individuums’ zuwandten, schufen sie den Nährboden für den Aufstieg der Rechtsextremen. Durch „Notwendigkeiten“ wurden Austeritätspolitik und Sozialabbau verteidigt, Gesellschaftspolitik wurde statt Umverteilung zum sozialistischen Markenkern. Wie der ‚Dritte Weg’ in Deutschland und ‚New Labour’ in Großbritannien rückte die Sozialdemokratie in die pragmatische Mitte. Wozu diese Politik führte, zeigten schon bald die Wahlergebnisse: Mitterrand gelang zwar knapp die Wiederwahl, doch bis 2012 waren die SozialistInnen in einer steten Abwärtsspirale gefangen. Gleichzeitig
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Die Arbeitsmarktreform brachte nicht nur massive Verschlechterungen für ArbeitnehmerInnen, zum Beispiel im Kündigungsschutz, sondern löste auch große Proteste aus. Quelle: doubichlou14
In den letzten Umfragen von Anfang April konnte Jean-Luc Mélenchon zu Fillion aufschließen und liegt damit nicht mehr all zu weit hinter Macron und Le Pen. Der sozialistische Hamon hingegen sackte in den Umfragen ab. Mehr über Emmanuel Macron und seine Bewegung auf Seite 27.
In den Niederlanden wurde bereits gewählt. Die rechtsextreme und islamfeindliche Partei unter Geert Wilders errang dabei den 2. Platz hinter den regierenden Konservativen. Die Sozialdemokratie stürzte ab. Reims ist 130 Kilometer von Paris entfernt und für die ChampagnerProduktion berühmt. In den letzten Jahren siedelten sich Firmen an, denen Paris zu teuer ist. Dazu zählen beispielsweise Call-Center. Verhältnismäßig steht Reims in Frankreich wirtschaftlich akzeptabel da, auch wenn es von Krise und Austerität ebenso hart getroffen ist. In den lokalen Wahlen 2014 musste die sozialistische Bürgermeisterin ihren Platz für den rechts-liberalen Kandidaten räumen.
zur Erosion der Linken tauchte in dieser Zeit eine neue Bewegung auf, die bald zum politischen Sprachrohr der ArbeiterInnenklasse wurde – der rechtsextreme Front National (FN). Dessen Vorsitzender, Jean-Marie Le Pen, schaffte es trotz antisemitischer und rassistischer Aussagen im Jahr 2002 sogar in die Stichwahl gegen den konservativen Präsidenten Jacques Chirac. Heute – 15 Jahre später – hat der Front National erneut gute Chancen, die französische Präsidentschaft zu erringen. Fast alle Umfragen sehen Marine Le Pen, die Tochter des Parteigründers, als Favoritin für den ersten Wahldurchgang am 23. April. Ihr härtester Konkurrenten ist Emmanuel Macron, mit seiner „weder links, noch rechts“Bewegung ‚En Marche’. Die Parti socialiste steckt nach der von Wirtschaftsliberalisierungen und hoher Arbeitslosigkeit geprägten Präsidentschaft von François Hollande in einer tiefen Krise. Ihr Kandidat, Benoît Hamon, duelliert sich mit dem linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon abgeschlagen um den vierten Platz. Le Pens Aufstieg zeigt das ganze Ausmaß der Krise der Linken: Traditionell linke Hochbur-
sitz übernahm, korrigierte das Auftreten ihrer Partei in Windeseile. Nach außen hin war Schluss mit antisemitischen Statements. Das Parteiimage wurde geglättet um auch für Bürgerliche wählbar zu werden – sogar ihren Vater schloss Le Pen aus dem FN aus. Und diese Strategie scheint aufzugehen. „Ihre Welt geht unter, unsere Welt entsteht“, jubelte Florian Philippot am Tag des TrumpSiegs in den USA. Philippot, der erst vor wenigen Jahren in den Front National eintrat, gilt als der Architekt hinter dem Wandel der Partei. Als engster Vertrauter von Parteichefin Le Pen koordiniert er nicht nur deren Wahlkämpfe, sondern formulierte auch ihr Wirtschaftsprogramm. Aus neoliberalen Ansätzen wurde eine protektionistische Agenda, die eine starke Rolle des Sozialstaats propagiert – natürlich mit stark fremden- und EU-feindlichem Unterton. Sein Kurs der ‚dédiabolisation’, der Entteufelung, des Front National, gilt als einer der wichtigsten Faktoren für die starke Stellung der Partei. So tritt Le Pen im April nicht einmal mehr unter ihrem Parteisymbol (einer blau-roten Flamme) an, sondern benutzt als Logo eine blaue Rose
Aus neoliberalen Ansätzen wurde eine protektionistische Agenda, die eine starke Rolle des Sozialstaats propagiert – natürlich mit stark fremden- und EU-feindlichem Unterton. gen wie der Nordosten Frankreichs, den Eribon in seinem Buch beschreibt, sind heute die stärksten Regionen des Front National. 51% der französischen ArbeiterInnen stimmten bei den Regionalwahlen 2015 für den FN. Damals wurde die Partei in der ersten Runde landesweit sogar zur stärksten Kraft. Marine Le Pen, die 2011 den FN-Vor-
– das umgefärbte Logo der französischen SozialistInnen. Doch egal, ob es Le Pen im Mai tatsächlich in den ElyseePalast schafft oder nicht – die französische Linke steht vor einem fundamentalen Problem. Ihr Bruch mit der ArbeiterInnenklasse geschah im selben Ausmaß, in dem deren Frustration mit den etablierten
Parteien zunahm. WählerInnen wie Eribons Eltern, wüssten genau, dass sie dem Programm des Front National „nicht in seiner Gesamtheit zustimmen“ könnten. Doch das wird in Kauf genommen, um die eigene Identität und die der eigenen Klasse zu schützen. Dadurch wird stückweise Rassismus – „das ‚Wir’ gegen ‚Sie’“ – statt sozialer Gerechtigkeit zum treibenden Motiv hinter politischen
Ihr Bruch mit der ArbeiterInnenklasse geschah im selben Ausmaß, in dem deren Frustration mit den etablierten Parteien zunahm. Entscheidungen. „Die Wähler nehmen hin, dass ihre Stimme instrumentalisiert wird. Sie selbst haben das Mittel der politischen Wahl instrumentalisiert, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.“ Es sei dabei nicht ausgemacht, dass die ArbeiterInnen den Front National jemals wieder verlassen und zur Linken zurückkommen könnten, meint Eribon. „Wenn die Linke ihren eigenen Niedergang aufhalten will, muss sie sich (…) von ihren neoliberalen Auswüchsen befreien.“ Die Wahl des Front National sei „politische Notwehr“ der unterdrückten Schichten – und das müsse die Linke verstehen. Dass seine Thesen in der desorientierten Sozialdemokratie Europas derart hohe Wellen schlagen, ist sicherlich kein Zufall. Was es zur Überwindung rechtsextremer Demagogen braucht, ist schließlich die Rückkehr zur sozialen Frage – und kein Anbiedern an deren Propaganda.
Sebastian Pay
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Der scheidende Präsident François Hollande entschied sich, nicht erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren. Seine Beliebtheitswerte sind im Keller. Mehr über die Wahl des Kandidaten der Parti socialiste auf Seite 26. Quelle: La Moncloa – Gobierno de España
Hollande trat 2012 das Amt des Präsidenten an. In den Wahlkampf zog er mit linken Forderungen wie höherer Besteuerung Vermögender und einer Rhetorik gegen den Austeritätskurs der EU. Umgesetzt hat er davon nicht viel, im Gegenteil: zuletzt boxte er ein Gesetz zur massiven Liberalisierung des Arbeitsmarktes durch - an der Nationalversammlung vorbei. Umfragen bescheinigen ihm der unbeliebteste Präsident der Fünften Republik zu sein.
„Rückkehr nach Reims“ – das Buch von Didier Eribon erschien in Frankreich bereits 2009, wurde aber erst letztes Jahr ins Deutsche übersetzt. (edition suhrkamp 7252, 237 Seiten, ISBN 978-3-518-07252-3)
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Benoît Hamon
PS = Parti splite Im Jänner fanden die Vorwahlen innerhalb der Parti socialiste in Frankreich statt. Der amtierende Präsident Frankreichs, François Hollande, räumt nach einer Amtszeit das Élysée und dadurch gab es ein offenes Rennen um die Spitzenkandidatur. Das Ergebnis war spannend, und spannend waren auch die weiteren Ereignisse innerhalb der französischen Sozialdemokratie. Teile des Parteiestablishments, öffentlich kundgetan, Benoît Hamon nicht zu wählen, sondern Macron die Stimme zu geben.
PS in Umfragen lediglich auf Platz 5
Benoît Hamon (unten Mitte) bei einer Wahlkampfveranstaltung in Saint-Denis. Der Einzug in den Élysée liegt in weiter Ferne. Quelle: Marion Germa
B
enoît Hamon wirkt auf den ersten Blick wie ein braver Parteisoldat, unaufgeregt, gut frisiert und ruhig. Als der ehemalige Bildungsminister ins Rennen um die Spitzenkandidatur zur Präsidentschaftswahl der Parti socialiste (PS) einstieg, rechneten die Wenigsten, dass Hamon tatsächlich eine Chance haben könnte. Sein Antreten brachte Aufregung, seine Positionierungen Unruhe in die von 6 Jahren Präsidentschaft gebeutelte Sozialistische Partei. Hamon ist ein Parteilinker und ging in die Opposition zu Präsident Hollande sowie Manuel Valls, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und dem sicher scheinenden Spitzenkandidaten der PS. Die frustrierte Basis, die den schleichenden Absturz der Sozialdemokratie seit Jahren beobachten musste, verspürte auf einmal Hoffnung. Die Parallelen zu Jeremy Corbyn und der Labour Party liegen auf der Hand.
Direktwahl mit Wahlrecht auch für Nicht-Mitglieder In Frankreich, der Wiege der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit, wird der Spitzenkandidat nicht in Vorständen, Präsidien oder stillen Hinterzimmern bestimmt, sondern durch ein breites Mitgliedervotum, zu dem auch Nicht-Mitglieder
zugelassen sind, die sich zu „linken Grundwerten“ bekennen. Gestützt durch die Unterstützung der linken Parteibasis und auch der Jugendorganisation Movement Jeunes Socialistes France (MJS), machte Benoît Hamon das Unmögliche möglich, erreichte 36 Prozent und lies Valls um 5 Prozentpunkte hinter sich zurück. Im zweiten Wahlgang – eine Stichwahl bzw. mehr als 50 Prozent im ersten Wahlgang sind notwendig – gewann er mit 58,9 Prozent und wird bei der kommenden Wahl am 23. April als Spitzenkandidat für die PS ins Rennen gehen. Insgesamt beteiligten sich fast 2 Millionen Französinnen und Franzosen an den Vorwahlen.
Widerstand vom rechten Flügel Schnell wurde klar, dass der rechte Parteiflügel Hamon nicht die Unterstützung entgegenbringen würde, die notwendig gewesen wäre, um sich aus dem Umfragetief der Partei zu hanteln. Auch dieses Bild kennen wir schon aus Großbritannien. Vor allem Valls als schlechter Verlierer kokettierte von Anfang an mit der Unterstützung und seiner Stimme für Emmanuel Macron, den „unabhängigen“ Neoliberalen und „Kandidaten der Mitte“. Mittlerweile hat er, sowie auch andere
In Umfragen ist die PS abgeschlagen auf Platz 5 angelangt. Die ehemals stolze französische Sozialdemokratie wird es nicht in die Stichwahl schaffen, damit rechnet niemand mehr. Ein Wunder schafft Benoît Hamon kein zweites Mal. Ein Thema, das die Linke in Frankreich weiters beschäftigt, ist die Option einer gemeinsamen Kandidatur mit dem linken Urgestein Frankreichs Jean-Luc Mélenchon. Gemeinsam käme man auf 25 Prozent, die für die Teilnahme an der Stichwahl reichen könnten. Doch wie so oft in der Linken scheint eine Einigung unrealistisch. Trotz sehr ähnlicher Positionierungen scheint es nicht möglich, beide Kandidaten in ein Boot zu holen. Das macht eine Stichwahl mit linkem Kandidaten de facto unmöglich.
Parti splite? Die zukünftige Aufgabe für Benoît Hamon wird also nicht sein, das Land zu lenken, sondern die Partei gemeinsam mit den Frondeurs, der linken Opposition gegen Hollande und Valls, wieder aufzubauen. Wenn man mit AktivistInnen aus dem Kampagnenteam spricht, wird klar, dass der Blick der Rechten in der Partei nicht in Richtung gemeinsame Zukunft gerichtet ist, sondern eine Parteispaltung im Raum steht. Ob das zu verhindern ist, ist schwer zu sagen. Was es in Frankreich jedoch definitiv braucht, ist eine geeinte Linke, die Politik für arbeitende Menschen macht und ein Gegenkonzept zur Hegemonie des Neoliberalismus darstellt.
Mirza Buljubasic
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Bewegung „En Marche!“
Macron: Perfekte Synthese oder Post-Politiker? Emmanuel Macron ist kein klassischer Politiker. Es geht ihm nicht um seine Karriere, sondern um das Wohl des Landes. Er vertritt die Interessen von ArbeiterInnen und Unternehmen zugleich. Er steht über den Streitereien des rechten und linken Lagers. Das und mehr glauben die AnhängerInnen von Frankreichs ehemaligem Wirtschaftsminister, der letztes Jahr seine unabhängige Kandidatur mit der Plattform „En Marche!“ erklärt hat. Aber stimmt das?
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Österreichs Bundeskanzler Christian Kern hat sich ebenfalls für Macron ausgesprochen und damit klar gegen den Kandidaten der Schwesternpartei Parti socialiste (PS) Benoît Hamon.
nterstützung findet er im ganzen politischen Spektrum: von Unternehmer Innen, vom übergelaufenen rechten Flügel der sozialdemokratischen Partei, aber auch von ehemaligen FunktionärInnen der kommunistischen Partei. Nach einem Skandal des konservativen Gegenkandidaten hat Macron gute Chancen, mit der rechtsextremen Le Pen in die Stichwahl zu kommen und siegreich in den Elysée-Palast einzuziehen. Sein Programm wirkt auf den ersten Blick ziemlich progressiv: Macron spricht sich gegen Sparpolitik aus und will 50 Milliarden investieren. Nur ein Teil soll an Steuererleichterungen für Unternehmen, an Heer und Polizei und den Bau neuer Gefängnisse
Es ist eine Wundertüte, in der für alle etwas dabei ist. gehen. Am Plan stehen sozialer Wohnbau und eine Senkung der Wohnsteuer, außer für Luxusbauten. Eine Ausweitung der Arbeitslosenversicherung und der Infrastruktur in ländlichen Gebieten. Kulturgutscheine für junge Menschen, gratis Zahnprothesen für die Alten. Prämien für Öko-Autos und längere Büchereiöffnungs-
zeiten. Es ist eine Wundertüte, in der für alle etwas dabei ist. Zur Finanzierung müssen alle ihren Beitrag leisten: Macron will gegen Steuervermeidung transnationaler Konzerne vorgehen. Gewinne sollen dort versteuert werden, wo sie aufkommen. Betriebe, die ArbeiterInnen mit prekären Verträgen anstellen, sollen mehr zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Dafür bekommt kein Geld mehr, wer zweimal einen Job ablehnt. Auch Sozialbetrug soll härter bekämpft werden. Und es werden Beamt Innenposten gestrichen. Viele BeamtInnenposten. Macron will 120.000 Dienststellen auflösen und verspricht Einsparungen von 60 Milliarden durch „Strukturreformen“. GegnerInnen werfen ihm Widersprüchlichkeit vor. Manche AnalystInnen vermuten das Gegenteil: Macron sei der Kandidat der Synthese. In einer Zeit in der sich die Politik von SozialdemokratInnen und Konservativen kaum unterscheidet, verkörpert er die Aufhebung aller Widersprüche zwischen links und rechts. Er ist der ultimative Technokrat, der erste post-politische Präsident. Sieht man sich hingegen Macrons bisherige Laufbahn an, lässt er sich politisch klar zuordnen. Macrons Karriere begann an der Elitehochschule ENA. Dort lernte er Jean-Pierre Jouyet kennen, der seit den 90ern für alle Regierungen gearbeitet hatte. Jouyet brachte Macron in die Kommission „zur Befreiung des französischen Wachstums“. Dort sitzen VertreterInnen großer Unternehmen, die der Regierung immer dasselbe empfehlen: Staatsausgaben kürzen, Pensionsantrittsalter rauf, Arbeits-
recht lockern, Beamte entlassen. Hier knüpfte Macron wichtige Kontakte. Einer davon brachte ihm einen Job als Investmentbanker bei Rothschild. Macron stieg schnell auf und wurde in kurzer Zeit zum Millionär. 2012 machten ihn seine Kontakte zu Präsident Hollandes Berater für Finanzangelegenheiten. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit und neuer Arbeitsplätze, verhan-
Emmanuel Macron ist ein klassischer Neoliberaler, mit einem sozialen Anstrich. delte er Steuererleichterungen für Unternehmen und bekämpfte die Regulierung von Finanzspekulation. 2014 flog Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg aus der Regierung, weil er Deutschlands Sparpolitik kritisiert hatte. Macron folgte ihm nach und trat mit 36 Jahren als junger Minister zum ersten Mal ins politische Rampenlicht. Im Amt setzte er sich für eine Öffnung der Sonntagsarbeit und gegen Verstaatlichungen von Fabriken ein. Er war auch beteiligt an einer groß angelegten Schleifung des Arbeitsrechts, die gegen den Widerstand von Gewerkschaften durchgeboxt wurde. Emmanuel Macron ist ein klassischer Neoliberaler, mit einem sozialen Anstrich. Seine Kontakte haben ihn zum Favoriten fürs Elysée gemacht. Die politischen Zustände erlauben es ihm, sich als Anführer einer neuen Bewegung zu inszenieren. Macron ist, wie es der französische YouTuber Ludo Torbey zusammenfasst: „Der ideale Kandidat, um uns bei dieser Präsidentschaftswahl zu bescheißen.“
Radovan Baloun
GESCHICHTE GESCHICHTE
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Karl Marx (1818 bis 1883) hat mit ‚Das Kapital‘ auf wissenschaftlichanalytische Weise den Widerspruch zwischen den Klassen aufgezeigt. Gemeinsam mit Friedrich Engels veröffentlichte er bereits 1848 das Kommunistische Manifest. Quelle: John Mayall jun.
Jubiläum
150 Jahre „Das Kapital“ – ein Grund zum Feiern? 1867, und somit vor 150 Jahren, erschien der erste Band des als Hauptwerk von Karl Marx aufgefassten „Kapital“ in erster Auflage. Die Veröffentlichung der Bände zwei und drei durch Friedrich Engels sollte Karl Marx, der 1883 starb, nicht mehr erleben. n seinem Werk versucht Marx ausführlich, die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darzustellen und zu analysieren. Sein Augenmerk liegt damit auf den im Kapitalismus herrschenden Produktionsverhältnissen, die ja (gemäß dem gerne und oft zitierten Stehsatz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“) auch weit über ökonomische Fragen hinaus Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaftsordnung und das unterschiedliche Selbstverständnis der Angehörigen entgegengesetzter Klassen haben. „Das Kapital“ stellt nicht so sehr eine „Anleitung zur Überwindung des Kapitalismus“ dar, wie es fundiert die Wirkmechanismen und Zusammenhänge des Kapitalismus auseinandernimmt und zu beschreiben versucht und bildet damit eine
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ökonomische Analyse und keine philosophische Abhandlung. Dabei wird der Bogen von einer Art Begriffsdefinition hinsichtlich „Ware“ und „Geld“ über den Arbeitsprozess zur Akkumulation von Kapital durch die KapitalistInnen gespannt. Im Zentrum des Marx’schen „Kapital“ steht die Beantwortung der Frage, wie aus Geld Kapital wird. Dieser Prozess wird in unzähligen Seminaren und Workshops immer wieder prägnant als eine Art „Formel“ wiedergegeben: G-W-G'. In diesem Zusammenhang spielen auch prominente Schlüsselbegriffe eine Rolle. Einer davon ist der Begriff vom „doppelt freien Arbeiter“ (die Arbeiterin war Marx noch fremd), mit dem Marx eine wesentliche Voraussetzung für die (wirtschaftliche) Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus beschreibt. So seien die ArbeiterInnen
Der Mehrwert ist der Profit, den sich die KapitalistInnen in ihre Tasche stecken, nachdem die Arbeiter Innen ihren Lohn erhalten haben. im Kapitalismus gleich zweifach frei: Einerseits persönlich frei, also nicht mehr versklavt oder in Leibeigenschaft arbeitend wie tausende Jahre lang zuvor, andererseits jedoch auch „frei“ von Produktionsmitteln wie Werkzeuge, Maschinen oder Grund und Boden, also ohne jede Möglichkeit, auf sich allein gestellt Güter zu produzieren, reduziert alleine auf die
Möglichkeit, ihre Arbeitskraft an die KapitalistInnen zu verkaufen und so zu überleben. Eine weitere essentielle Begrifflichkeit ist der „Mehrwert“, mit der im Groben die Differenz zwischen dem Wert einer Ware und dem Wert der zur Herstellung nötigen Produktionsmittel, also der Arbeitskraft und der Maschinen usw. Etwas spitzer: Der Mehrwert ist der Profit, den sich die KapitalistInnen in ihre Tasche stecken, nachdem die ArbeiterInnen ihren Lohn erhalten haben. Dass der Warenwert letztlich höher ist als der Lohn der Arbeiter Innen, führt (im Schulbuchbeispiel – die Realität ist angesichts von Arbeitsteilung, etc. natürlich komplexer!) dazu, dass diese das von ihnen selbst hergestellte Gut nicht kaufen können – jedenfalls mehr Geld dafür aufwenden müssen, als sie für die Herstellung erhalten
GESCHICHTE GESCHICHTE
Die Titelseite von ‚Das Kapital‘ Band 1 in der ersten Ausgabe. Die Veröffentlichung der Teile 2 und 3 sollte Karl Marx nicht mehr erleben.
haben – und verelenden, während die KapitalistInnen sich über Gewinne freuen und laufend mehr Kapital anhäufen. Im „Kapital“ beschreibt Marx also in wissenschaftlich-analytischer Weise den Widerspruch zwischen den Klassen, der sich im Kapitalismus (wie in jeder anderen Klassengesellschaft) auftut. Versucht man also eine Einordnung des „Kapital“, so bildet dieses als „Kritik der politischen Ökonomie“ – so auch der Untertitel des Werkes – neben dialektischem Materialismus und historischem Materialismus die dritte „Säule“ im Ideengebäude des Marxismus. Als ein so zentraler Bestandteil wurde und wird die Marx’sche Kapitalismusanalyse, genauso wie die anderen Teile des Werks von Karl Marx und Friedrich Engels, in weiterer Folge und in einem nach wie vor andauernden Prozess von unzähligen marxistischen Gelehrten adaptiert, modifiziert und weiterentwickelt. Zunächst machte sich die Strömung des Revisionismus um den deutschen Sozialdemokraten Eduard Bernstein daran, die Analyse von Karl Marx fundamental zu kritisieren. Nach Auffassung der RevisionistInnen sei die Erzählung von der Klassengesellschaft durch die Realität des Kapitalismus überholt, weshalb
eine strategische Orientierung auf „aktiven Klassenkampf“ und die sozialistische Revolution nicht zielführend sei. Wesentlich sei die stetige Arbeit in Richtung Sozialismus, was in dem berühmten und sicherlich überspitzten Satz Bernsteins „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.“ gipfelte. Vielmehr als über Revolution zu schwadronieren sollten sich die ArbeiterInnenparteien (im konkreten Fall meinte Bernstein die SPD) auf reformerische Arbeit konzentrieren, durch die ebenfalls der Sozialismus herbeigeführt werden könne. Zwar wurde der Revisionismus scharf von anderen (damaligen) SozialdemokratInnen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bekämpft, es lässt sich aber festhalten, dass er schließlich doch über einen sehr langen Zeitraum Einzug in die sozialdemokratischen Parteiprogramme – in Österreich zeitlich von Otto Bauer bis Bruno Kreisky – gefunden hat. Die Debatten um den Revisionismus haben nicht zuletzt zur Spaltung des Marxismus in einen reformistischen und einen revolutionären Teil geführt. Mittlerweile haben sich die sozialdemokratischen Parteien Europas nicht nur von der sozialistischen Revolution, sondern in aller Regel auch vom Fernziel Sozialismus distanziert. Im Anschluss an die erfolgreiche sozialistische Revolution in Russland im Jahr 1917 (die in diesem Jahr ebenfalls ihr hundertjähriges Jubiläum feiert und dezidiert auf das Werk und die Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels Bezug nahm) und schließlich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bildeten sich einige andere inhaltliche Strömungen zur Ergänzung der marx’schen Lehre heraus. Darunter befinden sich, vom Gebiet der Sowjetunion ausgehend, der Marxismus-Leninismus, der auf Lenin zurückgehend versucht,
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den Kapitalismus in seinem gegenwärtigen imperialistischen Stadium zu analysieren, sowie der Trotzkismus, der die sogenannte Theorie der permanenten Revolution ins Zentrum, die insbesondere in Ländern mit rückständiger Produktivkraftentwicklung als dienlich angesehen wird, stellt. In Anknüpfung an beide Strömungen findet nach wie vor Theoriefortbildung in unterschiedlicher Intensität statt. Darüber hinaus besteht eine Reihe weiterer marxistischer (oder sich zumindest so bezeichnender) Theoriekonzepte, die zwar mitunter Beachtung, nicht jedoch ähnlich breite Bedeutung erlangen konnten. Dass auf das „Kapital“ auch 150 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch Bezug genommen wird, ist bemerkenswert. Nicht nur, dass dieses Faktum Auskunft über die herausragende
Im „Kapital“ beschreibt Marx also in wissenschaftlich-analytischer Weise den Widerspruch zwischen den Klassen, der sich im Kapitalismus auftut. Bedeutung des Werks von Karl Marx gibt, es führt vor allem vor Augen, dass die marx’schen Instrumente zur Analyse der Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse in weiten Teilen nach wie vor anwendbar sind. Dass wir lange nach dem Tod von Karl Marx noch immer im Kapitalismus leben, dass sich weiterhin Wenige auf Kosten Vieler bereichern, ist wahrlich kein Grund zum Feiern. Dass uns Karl Marx mit dem „Kapital“ ein Werkzeug zum besseren Verständnis der Welt hinterlassen hat, jedoch durchaus.
Michael Gogola
Proteste in Russland, hier in Petrograd, führten 1917 zur Februarrevolution, einige Monate später folgte die Oktoberrevolution. Die Theorien von Marx und Engels hatten auf diese Entwicklungen maßgeblichen Einfluss.
KALENDER KALENDER
WAS WAR WAS WAR
Medienaktion
Nachtaktion vor der SPÖ-Zentrale 8. März 2017
2. Februar 2017
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Demonstration
Burschiball anfechten! Solidarität statt Hetze
Medienaktion
Gegen Massenüberwachung und Demokratieabbau
Innenminister Sobotka möchte scheibchenweise das Versammlungsrecht und damit eines der Grundrechte der Demokratie beschneiden. Wir haben ihm bei einer Aktion vor dem Innenministerium seine zwei neuen Berater, Dollfuß und Metternich, zur Seite gestellt. Am 28. März zogen wir mit 600 Demonstrierenden durch Wien, um Sobotkas Vorstellungen von Massenüberwachung und Demokratieabbau eine Absage zu erteilen.
Aktion
FGM Aktionstag 11. April 2017
6. Februar 2017
Der FPÖ-organisierte Akademikerball ist ein Netzwerk der extremen Rechten und hat in der Hofburg nichts verloren. Darum demonstrierten wir als Teil der Offensive gegen Rechts auch dieses Jahr lautstark gegen die tanzbeinschwingenden deutsch-nationalen Burschenschafter.
Female Genital Mutilation betrifft weltweit 150 Millionen Frauen und ist ein brutaler Eingriff, der all zu oft auch tödlich endet. Wir sind am 6. Februar auf die Straße gegangen, um auf FGM aufmerksam zu machen und für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper einzutreten!
8. März und Kampagne „Kampfansage! Wir bestimmen selbst!“
Die Lohnschere ist offen, die gläserne Decke vielerorts noch nicht durchbrochen und die Rollenbilder festgefahren. Es gibt also noch viel zu tun! Am 8. März ist Internationaler Frauenkampftag und wir machten genau darauf aufmerksam. Außerdem starteten wir dieses Frühjahr auch unsere Kampagne „Kampfansage! Wir bestimmen selbst!“ für Selbstbestimmung auf der Straße, im Netz und über den eigenen Körper.
17. März 2017
3. Februar 2017
„Menschen brennen nicht für Kompromisse, sie brennen für Grundsätze und Haltungen!“ – mit diesem Satz leitete Christian Kern seine Kanzlerschaft ein und wir erinnerten ihn daran. Weil mit dem neuen Arbeitsabkommen der Regierung sind viele dieser Grundsätze und Haltungen mal wieder nicht beherzigt worden. Mehr dazu auf Seite 15.
Kampagne
SJ-Movie Night
Film „Der junge Karl Marx“
Ein Film über den jungen Karl Marx, der auch ideologische und historische Bezüge herstellt? Das konnten wir uns nicht entgehen lassen und luden deshalb zur SJ-Movie Night im Votivkino in Wien.
KALENDER KALENDER
Kampagne
1. Mai 2017
April 2017
WAS KOMMT WAS KOMMT
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Demonstration
1. Mai
Antifa-Monat
Wie jedes Jahr touren wir auch heuer wieder durch Österreich, um auf die Gefahren rechtsextremer Gruppierungen aufmerksam zu machen und die FPÖ als jene Partei zu enttarnen, die sie ist: als unsoziale, arbeiterInnen- und fremdenfeindliche Partei. Leider ist das dringend notwendig, denn die Gesellschaft rückt nach rechts, der Ton wird rauer und all zu oft folgen Worten auch Taten – die Zahl rassistischer Übergriffe steigt rapide an!
5.–7. Mai 2017
Als SJ verstehen wir uns als Teil der ArbeiterInnenbewegung, daher ist auch für uns der Maiaufmarsch eine große und wichtige Tradition. In verschiedenen Städten gibt es am 1. Mai sozialistische und sozialdemokratische Aufmärsche. Zeigen wir, dass es die stolze ArbeiterInnenklasse gibt, die für ihre Rechte auf die Straße geht!
Seminar
Antifa-Seminar und Befreiungsfeier
Demonstration
Die antifaschistische Arbeit ist in der SJ zentral. Von 5. bis 7. Mai treffen wir uns daher auch heuer wieder im Europacamp am Attersee, um über Themen wie Austrofaschismus, Neue Rechte und gemeinsame Strategien zu diskutieren. Komm mit und vernetze dich mit 200 anderen Jugendlichen aus Österreich und der Welt! Am Sonntag den 7. Mai nehmen wir an den Befreiungsfeierlichkeiten im ehemaligen KZ Mauthausen teil und gedenken den Opfern des Nazi-Terrors.
Fackelzug „Wir sind ALLE mehr wert!“
Infos: sjoe.at/antifa17
15.–18. Juni 2017
30. April 2017
Infos: gegenrechts.at
Veranstaltung
20 Jahre Festival des Politischen Liedes
Am 30. April ist es wieder so weit! Wir ziehen mit unseren Fackeln durch die Wiener Innenstadt und fordern mehr Umverteilung - denn wir sind ALLE mehr wert! Am Schluss wird es mit Olympique einen grandiosen Live Act am Rathausplatz geben.
Ein Jubiläum feiert dieses Jahr das Festival des Politischen Liedes. Unteranderem werden Los Fastidios, die Microphone Mafia und Roy de Roy im Europacamp auftreten. Don’t miss it!
Infos: wien.neu.sjoe.at/wien/fackelzug-wirsindallemehrwert
Infos: kv-willy.at
ICH BIN Porto übernehmen wir!
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ICH WILL an einem Selbstverteidigungskurs teilnehmen Materialien zur Kampagne „Kampfansage! Wir bestimmen selbst!“ erhalten mit auf das Antifa-Seminar (5.-7. Mai) kommen Antifaschismus-Materialien und Infobroschüren erhalten ein TROTZDEM-Abo Infos über die SJ aktiv werden – kontaktiert mich!
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