enorm 01 Mär./Apr. 2015

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Mär./Apr. 2015

Wirtschaft. Gemeinsam. Denken.

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Seite 3

Editorial

Ärmel hoch!

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sehen, dass uns die alten Probleme erneut einholen werden. Der öffentliche Protest darüber – von Occupy Wall Street etwa – ist verstummt. Faszinierend aber leseru magazin.de/ ist, dass es zunehmend Bürger sind, mfrage die jetzt die Ärmel hochkrempeln und im Hintergrund Alternativen ausarbeiten. Welche Ideen sie verfolgen, beschreibt unser Autor Caspar Dohmen in der Titelgeschichte (S. 16). Zur Jubiläumsausgabe haben wir die Heftstruktur leicht verändert und neue Rubriken eingeführt, eine kompakte Doppelseite mit Buch- und Filmempfehlungen beispielsweise, die Sie auf Seite 96 finden. Zugleich mussten wir den Heftpreis anheben, nachdem wir ihn fünf Jahre lang konstant halten konnten. Die gute Nachricht: Abonnenten sparen ab sofort mehr als zuvor. Und: Wer enorm empfiehlt und Abonnenten wirbt, profitiert jetzt selbst. Alles dazu auf Seite 61. Zudem möchte ich Sie auf unsere Leserumfrage hinweisen. Sie finden sie unter www.enorm-magazin.de/leserumfrage, das Beantworten der Fragen dauert fünf Minuten und hilft uns, enorm künftig noch besser auf Ihre Interessen hin auszurichten. Im Gegenzug verlosen wir unter allen Teilnehmern 50 Gutscheine. Sollten Sie darüber hinaus Lob oder Kritik haben, dann schreiben Sie mir direkt: mw@enorm-magazin.de

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MARC WINKELMANN, CHEFREDAKTEUR

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Herzlichst, Ihr

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COVER Andreas Labes FOTO Paolo Castagnola

ls wir vor fünf Jahren die erste Ausgabe von enorm veröffentlichten, lag der Crash von Lehman & Co. keine 18 Monate zurück. Die Frage, welche Alternativen es zum herrschenden System gibt, trieb auch uns um – in einer Geschichte, die wir „Die Krötenwanderung“ genannt haben, stellten wir daraufhin vor, welche grünen Banken es gibt und was sie anders machen. Aber schon da war klar, dass uns das Thema weiter begleiten würde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Weil die Politik den Finanzmarkt mit ihren halbherzigen Reformen keineswegs krisenfest gemacht hat, ist es abzu-

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Titelgeschichte

Wir machen das Geld Der Crash des Finanzsystems hat gezeigt, wie marode es ist. Zu echten Reformen war die Politik nicht fähig – deswegen arbeiten jetzt engagierte Bürger an der Geldwende TEXT Caspar Dohmen

W

ILLUSTRATIONEN Irmela Schautz

enn es ums Geld geht, sind die Menschen hellhöriger geworden. Der Crash 2008 und die Staatsschuldenkrise waren zu gewaltig, als dass sie als Betriebsunfälle durchgehen könnten. Die Politik handelte. Banken müssen mittlerweile mehr eigenes Kapital für ihre Geschäfte nachweisen. Und statt nationaler Behörden überwacht nun die Europäische Zentralbank die größten Banken der Eurozone.

Grundlegende Änderungen erreichten die Politiker aber nicht. Und so verdient ein Großteil der Akteure längst wieder mit riskanten Methoden Geld und arbeitet an einer noch mächtigeren Finanzwelt von morgen. Das stört viele. Der offene Protest mag abgeflaut, die Occupy-Bewegung Geschichte sein. Aber das Interesse der Bürger ist wach. Zum ersten sogenannten Geldgipfel Anfang Mai 2014 in der Universität Witten/Herdecke, initiiert von Lukas Beckmann, einem Mitgründer der Grünen und heutigen Vorstand der Stiftung GLS Treuhand, kamen 400 Besucher, meist Laien. Es war eine bemerkenswerte Runde. Noch vor wenigen Jahren hat sich kaum jemand außerhalb der kleinen Zirkel von Notenbankern, Finanzpolitikern und Geldtheoretikern mit den komplexen Fragen des Geldsystems beschäftigt. Nun eignen sich Bürger sperriges Wissen an. Und arbeiten beharrlich an Reformen.


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Titelgeschichte

Der Lehrer

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hilipp Bernet steht regelmäßig in seiner Freizeit in St. Gallen in der Fußgängerzone und sammelt Unterschriften, um eine kleine Revolution mit anzuzetteln. „Wer stellt unser Geld her?“, fragt er vorbei eilende Passanten. Der Staat oder die Notenbank, antworten die meisten. Wenn der 56-jährige Schweizer sie aufklärt, das sei nicht der Fall, horchen viele auf. Das ist der Moment, in dem ihnen der Lehrer für Naturwissenschaften, Mathematik und Wirtschaftskunde an einer weiterführenden Schule erzählt, dass vielmehr die Banken vier Fünftel des Geldes per Kreditvergabe erzeugen und wie sie damit zur Krise der letzten Jahre beitrugen. Die Einführung des sogenannten Vollgelds, so Bernet, könnte das zukünftig verhindern. Das Konzept sieht vor, dass Banken Kredite nur in der Höhe vergeben dürfen, wie sie Bargeldreserven vorweisen. Die Vorteile lägen auf der Hand, sagt Bernet: Die Banken würden gebändigt und zu normalen Unternehmen werden. Geld sollten sie nur

noch von Sparern nehmen und an Kreditnehmer geben und für diese Vermittlung Gebühren verlangen dürfen. Mehr nicht. Sie würden bei der Kreditvergabe kein Geld mehr produzieren. Und das Vermögen auf dem Girokonto gehörte, anders als heute, dem Kontoinhaber. Es wäre vor einer Bankpleite also sicher. Wie Scheine und Münzen im Portemonnaie. „Änderungen des Geldsystems gab es immer wieder“, gibt Philipp Bernet den Leuten zum Abschied noch mit auf den Weg. Er will sie ermutigen, sich nicht wehrlos zu ergeben. Sondern aktiv zu werden. So wie er selbst. Bernet, kurze graue Haare, roter Filzpullover, neugieriger Blick, lebt rund 20 Autominuten von St. Gallen entfernt, im 4000-Einwohner-Ort Heiden. Er findet, es sei höchste Zeit, „dass der Staat der Schöpfung elektronischen Buchgelds durch die Geschäftsbanken einen Riegel vorschiebt und sie selbst in die Hand nimmt“. Staaten hätten, führt er weiter aus, den Banken schon im 19. Jahrhundert das Recht entzogen, Noten zu drucken. Denn Geschäftsbanken hatten immer wieder viel zu viel Geld hergestellt und damit Krisen ausgelöst.

Von Muscheln bis zu Bitcoins

===================================== Geld ist für uns ein selbstverständliches Tauschmittel für Waren und Dienstleistungen. Ohne Geld wäre der Alltag kompliziert. Wir wären ständig auf der Suche nach jemandem, der genau das besitzt, was wir gerade benötigen, während wir das haben, was er braucht. Was Menschen als Geld nutzen, hat sich im Laufe der Jahrtausende aber radikal gewandelt. Zuerst waren es Naturalien wie Tee, Felle oder Muscheln, seit der Antike dann Gold und Silber. Solches Geld hatte stets auch einen Materialwert. Das änderte sich schlagartig mit der Erfindung des Papiergelds durch die Chinesen im 11. Jahrhundert. Der Wert von Papiergeld beruht nämlich einzig und alleine auf dem Vertrauen der Menschen. Mittlerweile existiert der Großteil unseres Geldes sogar nur noch in Form elektronischer Ziffern auf Konten. Neben gesetzlichen Zahlungsmitteln (Euro, Dollar, Yen) gibt es auch privat geschaffenes Geld. Etwa Bitcoins, eine Währung, die Computer von Privatleuten nach bestimmten Algorithmen herstellen. Zudem benutzen wir im Alltag regelmäßig sogenanntes Quasigeld. Wir zahlen mit Bonusmeilen einer Fluggesellschaft oder Treuepunkten im Supermarkt. Letztlich kann man alles als Geld nutzen, was jemand anderes als Geld anerkennt.

Aus alt mach neu: Wie sollte das bestehende Finanzsystem verändert werden? Darüber machen sich die Bürgerreformer Gedanken


Seite 19

Titelgeschichte

Die Idee des Vollgelds hatte Dass sich Philipp Bernet engagiert, liegt bei ihm „in den Geschon einmal Konjunktur, nach nen“. Schon sein Großvater, ein der Weltwirtschaftskrise Ende Zeitungsdrucker, setzte sich Ander 1920er-Jahre. Prominente fang des 20. Jahrhunderts für Ökonomen um den US-Professor eine Idee ein, die das sogenannte Frank Knight legten damals den Freigeld propagierte – ein Geld, „Chicago-Plan“ vor. Er sah eine das automatisch an Wert verliert Trennung von Bankgeschäft und und die Wirtschaft antreibt, weil Geldschöpfung durch eine sogenannte Mindestreservepflicht es flotter ausgegeben und nicht Philipp Bernet, 56, will das Vollgeld der Banken von hundert Progehortet wird. Bernet nutzt den in der Schweiz einführen zent vor. Eine Bank hätte nur Besuch bei dem Verein Monetative, um in Kreuzberg auch mit noch Kredite vergeben können, wenn sie über entsprechende Guthaben bei der No- Schweizer Künstlern über das Geldsystem zu spretenbank verfügt hätte. chen. Bei Rösti und Spätzle im Restaurant Helvetia Irving Fisher, damals der bekannteste US-Ökonom, erläutert er die Grundzüge und beantwortet die Fraunterstützte den Plan. Präsident Franklin D. Roose- gen, die auf ihn einprasseln. Ob das jetzige System velt sympathisierte mit ihm. Die Lobby der Geschäfts- nicht hervorragend funktioniere, will einer wissen. banken aber rannte Sturm. Mit Erfolg: Die Idee ver- Ein anderer fürchtet um die Sicherheit des Geldes. schwand in den Archiven. Und überhaupt, was sei mit den Zinsen? Bernet antEin halbes Jahrhundert später holte der Wirtschafts- wortet ruhig. Zum Schluss verteilt er Unterschriftenund Umweltsoziologe Joseph Huber sie hervor und listen, wie in der Fußgängerzone. Ende Januar hatten knapp 38 000 Schweizer unentwickelte eine Variante, die er 1998 veröffentlichte. Nach Hubers Konzept bekäme die Zentralbank den terzeichnet. Bis zum 3. Dezember 2015 müssen nun verfassungsrechtlichen Rang einer „Monetative“, ver- hunderttausend gültige Unterschriften zusammengleichbar der richterlichen Gewalt, der „Judikative“. kommen. Dann käme es in der Schweiz zu einer AbKein Konzept wird in der Szene der Geldreformer stimmung über das Vollgeld. Anders als in der Eurozone, in der alle Mitgliedsstaaten zustimmen müssten, heute so heiß diskutiert wie dieses. Philipp Bernet gehört zu einem Kreis von Bürgern, könnten die Schweizer die Reform alleine beschliedie Hubers Konzept in der Schweiz umsetzen wollen. ßen. Bernet leitet eine der landesweit 21 Regionalgruppen, die in St. Gallen. Ende November reiste er nach Berlin, um an dem Jahrestreffen des Vereins Monetative, den Joseph Huber gegründet hat, mit 70 Teilnehmern zu diskutieren. Unter ihnen war auch Thomas Mayer, bis vor zwei Jahren Chefvolkswirt der Deutschen Bank. „Spätestens in der Finanzkrise ======================== hat sich bei mir der Verdacht verdichtet, dass nicht die Akteure das Problem sind, sondern das System selbst“, sagt Mayer, der aus dem Lager der Gralshüter des bisherigen Systems in das der Radikalreformer gewechselt ist. Seine Stimme ist nicht die einzige überraschende. Zwei Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben eine wohlwollende Studie über die Idee geschrieben. Auch Martin Wolf, Chefkommentator der einflussreichen Wirtschaftszeitung „Financial Times“, bekannte sich als Vollgeld-Freund. Man müsse sich mit solchen Lösungen befassen, um für die nächste Krise gewappnet zu sein, forderte er.

Mehr dazu im neuen Heft 1 _2015 Seite 20

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Titelgeschichte

Titelgeschichte

Gemeinsam an einem Strang: Der Crash vereinte Menschen, die im Alltag bisher nichts miteinander zu tun hatten

tionale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank meist radikale Reformen wie die Streichung von Subventionen für Grundnahrungsmittel, die Privatisierung öffentlicher Betriebe oder die Erhöhung von Steuern. Für den Einzelnen hat das gravierende Folgen. Viele Griechen mussten auf Lohn und Gehalt verzichten, es gab Massenentlassungen, die Preise für Lebensmittel und Benzin explodierten. Manche sehen keinen Ausweg mehr. Seit Beginn des Spardiktats hat sich die Selbstmordrate verdreifacht. „Schulden machen gehört zum Kapitalismus, und deswegen wird es auch immer wieder Schuldenkrisen geben“, sagt Liebal. Für diese Fälle müsse ein geordnetes Insolvenzverfahren her, wie es für Unternehmen und Privatpersonen längst Alltag sei. Die Aktivisten wissen auch, wie das ablaufen soll: Bei der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens müsse ein Land sofort alle Zahlungen einstellen, damit kein Gläubiger benachteiligt werde. Dann sollten sich Schuldner und Gläubiger gleichberechtigt auf einen unparteiischen Schiedsrichter einigen. Dieser müsse stets auch auf die Sicherung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung achten. Das sei für beide Seiten von Vorteil, sagt Liebal: Schuldner erhielten eine echte Chance für einen „Neuanfang“. Gläubiger motiviere dies zu einer „verantwortlichen Kreditvergabe“. Weitere Vorgaben machten Sinn, wie eine Prüfung der Legitimität von Schulden. Oft bereichern sich Machthaber auf Staatskosten. Solche Verbindlichkeiten könnten bei einem Insolvenzverfahren außen vor bleiben. Das wäre ein starker Anreiz für Banken, bei der Kreditvergabe zu berücksichtigen, welcher Regierung sie eigentlich wofür Geld leihen. Im September 2014 verabschiedete die UN-Vollversammlung die Resolution „Für die Schaffung eines multilateralen Rechtsrahmens für Staateninsolvenz“ – gegen die Stimmen der traditionellen Gläubigerstaaten wie Deutschland. Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch zu Beginn der Krise mit der Einführung eines geordneten staatlichen Insolvenzverfahrens geliebäugelt, zumindest in der Währungsunion. Bereits 2001 hatte die damalige IWF-Vizepräsidenten Anne Krueger die Gründung eines internationalen Konkursgerichts angeregt. Auch etablierte Politikratgeber wie Daniel Stelter, der Gründer der Berliner

Kein Konzept wird in der Szene der Geldreformer heute so heiß diskutiert wie das Vollgeld

Entwicklungsprozessen beschäftigt und praktische Er- führung eines Insolvenzverfahrens für Staaten. Die fahrungen über die Not der Welt gesammelt. Sie war Kampagne „Erlassjahr 2000“ war geboren, der sich bei der Kindernothilfe, dem Fairen Handel und der zivilgesellschaftliche Bündnisse aus mehr als 40 LänNGO Christliche Initiative Romero. Geld, Zinsen und dern anschlossen. Auch viele Prominente waren daSchulden spielten oft eine wichtige Rolle. bei, U2-Sänger Bono und Papst Johannes Paul II. beiWenn Liebal den Schuldenerlass fordert, knüpft sie spielsweise. Die 41 ärmsten Länder ächzten damals an eine alte Tradition an. Schon unter Schulden von 2,5 Billionen in der Antike haben Herrscher US-Dollar. ihren Untertanen immer wieder 1999, beim Gipfel der G8-StaaSchulden erlassen. In der Thora ten in Köln, tafelten auf dem röheißt es, in jedem 50. Jahr, den mischen Mosaikfußboden des Rö„Jubeljahren“, sollten die Israelimisch-Germanischen Museums ten allen Volksangehörigen die die Regierungschefs der größSchulden erlassen. Auch die Biten Industrieländer. Draußen debel kennt das Prinzip. monstrierten 35 000 Menschen In den 1990er-Jahren griffen Hand in Hand für einen SchulAktivisten diese Idee auf. Sie denerlass und übergaben dem forderten eine Streichung der damaligen Bundeskanzler GerStaatsschulden ärmster Länder hard Schröder 27 Millionen UnMara Liebal, 28, fordert ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten auf einen Schlag sowie die Einterschriften für ihr Anliegen.

Tatsächlich beschlossen die Politiker einen radikalen Schuldenerlass für die ärmsten Länder von bis zu 90 Prozent. 35 Staaten ermöglichte das einen Neuanfang. Von der Einführung des geforderten Insolvenzrechts ließen die Politiker jedoch die Finger. Seitdem kämpfen die Aktivisten unter Erlassjahr.de für ein staatliches Insolvenzverfahren. Mittlerweile sind Netzwerke in 50 Ländern dabei, allein das deutsche umfasst 600 Organisationen, von Landeskirchen bis zu den Weltläden. Sie betreiben Öffentlichkeitsarbeit, führen Gespräche mit Politikern, arbeiten mit Wissenschaftlern, sammeln Unterschriften. Schuldenkrisen von Staaten, das schien lange nur ein Problem von Entwicklungsländern zu sein. In der Finanzkrise waren jedoch auch Griechenland, Zypern oder Ungarn betroffen. Jetzt erlebten die Europäer selbst, was es bedeutet, wenn Staaten auf die gängige Art und Weise saniert werden. „Darunter leiden regelmäßig gerade die Ärmsten“, sagt Mara Liebal. Denn im Gegenzug für frisches Geld verlangen der Interna-


In Co-Working-Spaces wie dem Betahaus in Berlin haben Gründer die Chance, ihre Ideen und Konzepte auszuarbeiten

„Wir müssen in den Ring“ Die Wirtschaft ist zu wertvoll, um sie den Gewinnmaximierern zu überlassen, sagt Günter Faltin, Erfinder der Teekampagne. Um das Gemeinwohl zu stärken, ruft er dazu auf, mehr Unternehmen zu gründen INTERVIEW Marc Winkelmann

Herr Faltin, Sie haben ein Buch geschrieben, mit dem Sie Menschen motivieren wollen, ein Unternehmen zu gründen. Warum? Ich glaube, dass wir uns viel stärker in die Ökonomie einmischen müssen. Und zwar am besten, indem wir selbst gründen. Leider denken viele Menschen, dass Wirtschaft ein schmutziges, skrupelloses Geschäft sei und sie sich deshalb heraushalten sollten. Das hat fatale Folgen.

Wieso? Weil dann das Feld der Wirtschaft von Menschen bevölkert wird, die deutlich weniger ethisch handeln, als wir es uns wünschen. So wie es die Krise gezeigt hat? Da wurde die Macht der Banken sehr deutlich. Obwohl sie die Krise verursachten, ist es ihnen vorübergehend sogar gelungen, die Politik zur Geisel zu nehmen. Das Übergewicht der Ökonomie hat gefährliche Ausmaße angenommen. Wir brauchen mehr

Menschen, die mit Bewusstsein für die anstehenden Probleme und mit Verantwortungsgefühl dagegen halten. Wir dürfen das Feld nicht den bloßen Gewinnmaximierern überlassen. Gründen ist aber nur für wenige Deutsche eine Option. Die Zahlen sind im internationalen Vergleich niedrig. Das derzeitige Lebensgefühl in Sachen Ökonomie heißt Ohnmacht. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Die meis-


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FOTOS Axel Schmidt/CommonLens/ddp images, Georg Knoll/laif (Faltin)

Unternehmen & Gesellschaft

ten Menschen spüren, dass etwas passie- war. Mit mehr Professionalität, mit mehr ren muss. Sie sehen nur nicht die Art und Erfolgsaussichten. Weise, wie sie entgegenwirken könnten. Wie sieht es mit Startkapital aus? Dazu brauchen wir eine neue Bewegung: Auch das ist nicht mehr zentral. Allein Entrepreneure, die dem Glauben an quan- schon der Einsatz von Komponenten spart titatives Wachstum als Problemlöser und viel Kapital. Crowdfunding brachte sogar der Verdummung in modernen Konsum- den Beleg, dass man ohne oder zuminwelten eine intelligentere Ökonomie ent- dest fast ohne eigenes Kapital gründen gegenstellen. kann. Auf der anderen Seiten können UnAber der Anteil der Gründer, die ternehmensgründungen ein wichtiger Asscheitern, liegt bei etwa 80 Prozent. Das pekt in der Diskussion um Vermögensverteilung werden. schreckt doch ab. Wie das? Ein guter Einfall allein genügt nicht. Es braucht viele Schritte und ein gehöriges Es gibt viele Gründe für ungleiche VerMaß an Systematik, um ein überzeugendes mögensverteilung, aber ein wesentlicher Konzept, ein Entrepreneurial Design aus- Grund liegt in der wachsenden Ungleichzuarbeiten. Es ist erst ausgereift, wenn es verteilung der unternehmerischen Vermösowohl zur Person des Gründers als auch gen. Wenn nur wenige Menschen ein Unzum Markt stimmig ist. Daran fehlt es häu- ternehmen gründen und die meisten dabei fig, dafür müssen wir mehr tun und ausgie- scheitern, entsteht als Ergebnis eine extbiger an den Konzepten feilen. In meinem reme Ungleichverteilung. Die wenigen erBuch habe ich diesem Prozess das um- folgreichen Unternehmen wachsen schnelfangreichste Kapitel mit vielen Beispielen, ler als die Löhne von Angestellten und sie Systematiken und Techniken eingeräumt. werfen auch höhere Gewinne ab als SparAlso nicht alles einsetzen und bücher. Will man die Vermögensverteilung ändern, muss man auch diesem Aspekt schauen, was passiert? Das nenne ich Gründen à la Roulette. Al- Rechnung tragen und den Zugang zum les auf eine Karte setzen und hoffen, dass Aufbau von unternehmerischem Vermögen es klappt. Leider ist viel stärker öffnen. diese VorgehensSie sprechen weise weit verbreivon Unternehmen, „Man kann völlig anders den Begriff „Untet. Stattdessen sollte man die Annahmen gründen als bisher üblich. ternehmer“ halSie aber für des GründungskonSelbst eigenes Kapital ist ten zepts so frühzeitig überholt. Warum? wie möglich testen. nicht mehr nötig, wie Früher war Und sie gegebenenCrowdfunding belegt hat“ d er Unfalls ändern, bevor ternehman gründet. Also mer der den sogenannten „Proof of Concept“ schon in der Vorberei- Alleskönner – jemand, der das tung der Gründung angehen. Kapital einbrachte, alle Teile Was ist noch wichtig? aufbaute und dann das UnUnsere hoch arbeitsteilige Gesellschaft er- ternehmen meist auch leitete. öffnet uns die Möglichkeit, vieles mit Kom- Das ist nicht mehr zeitgemäß. ponenten zu erledigen. Man braucht kein Wir müssen heute viel arbeitseigenes Büro mehr, keine eigene Logistik, teiliger und vernetzter denken. keine eigene Buchhaltung. Dafür kann Der moderne Entrepreneur – dieman Komponenten einsetzen, professio- sen Begriff bevorzuge ich – ist ein nelle Partner beauftragen. Man kann so Komponist. Er ist für die Innovation völlig anders gründen als es bisher üblich zuständig, er schreibt sozusagen ein

====================== GÜNTER FALTIN, 70,

ist Professor für Entrepreneurship an der FU Berlin und der Universität Chiang Mai in Thailand. 1985 gründete er die Projektwerkstatt GmbH und entwickelte die „Teekampagne“ – heute der weltgrößte Importeur von Darjeeling- Tee. Günter Faltins neues Buch „Wir sind das Kapital“ (Murmann) ist gerade erschienen

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Mehr dazu im neuen Heft 1 _2015 ======================== Seite 38

Unternehmen & Gesellschaft

Zu wenig Unternehmensgründer Anteil von Gründern (18-64 Jahre) an der Bevölkerung (in Prozent) Alle Gründer

Nebenerwerb

Vollerwerb

3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2013 stieg die Zahl der deutschen Gründer wieder an, im Vollerwerb wollen sie dieser Arbeit aber kaum nachgehen. Diese Zahl sank auf ein historisches Tief. Ein Grund laut der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW): die gute Arbeitsmarktlage. (Quelle: KfW-Gründungsmonitor 2014; Quoten der Jahre 2000 und 2001 sind aufgrund abweichender Fragen bei der Erhebung nur eingeschränkt mit den Folgejahren vergleichbar)

ners dm-Drogeriekette ist Schlecker pleite einmal Teetrinker. Wenn ich einen Vorgegangen. Warum? Anders als der anthro- trag halte, bitte ich die Zuhörer, mir zu saposophisch geprägte Werner ist Schlecker gen, ob sie einen Grund angeben könnten, zu sehr Kapitalist der alten Schule gewe- warum sie die Teekampagne nicht hätten sen. Er hat seine Angestellten und die Ge- gründen können. Bisher konnte mir noch werkschaften zu seinen Gegnern gemacht. keiner einen Grund nennen. Das Beispiel Heute ist jemand gut Teekampagne zeigt, beraten, die Werte dass heute fast jeder seines gesellschaftaktiv an Ökonomie „Eine alleinerziehende lichen Umfelds mit teilnehmen kann. Mutter mit zwei Kindern zu berücksichtigen Häufig wird und nicht nur sein das Gegenteil versteht in der Praxis eher aber pures Eigeninteresse suggeriert. mehr von Organisation als Ja, aber man muss zu verfolgen. Experte muss keinen MBA-Abviele MBA-Absolventen“ schluss vorweisen man hingegen offenbar nicht sein. können, um ein UnSie haben vor 30 Jahren ohne Vorkennt- ternehmen zu gründen und sich erfolgnisse die Teekampagne gegründet und reich im Markt zu bewegen. Eine alleinerauf Direktvertrieb und große Verpackun- ziehende Mutter mit zwei Kindern versteht gen gesetzt. Heute ist die Teekampagne in der Praxis eher mehr von Organisation der weltgrößte Händler von Darjeeling. als viele MBA-Absolventen. Henry Ford Ich hatte kein Fachwissen, ich war nicht hat einmal sinngemäß gesagt: „If people

really understood economics, there would be a revolution by tomorrow morning.“ Ein guter Satz. Warum verstehen wir so wenig von Ökonomie? Im Bildungssystem kommt Ökonomie praktisch nicht vor. Viele Lehrer haben eine anti-ökonomische, anti-marktwirtschaftliche Einstellung. Sie wollen mit dem Thema eigentlich nichts zu tun haben. Aber diese Haltung hat eine faktische Wirkung: Schülern und Studenten zu sagen, da könne man als anständiger Mensch nicht mitmachen oder es sei nicht wirklich wichtig, schafft Realitäten. Woher kommen diese Vorbehalte? Das hat eine lange Tradition. Schon im Mittelalter sah man bei uns den Händler – Stichwort Krämerseele – oder das Bankgeschäft als etwas Minderwertiges, fast Schmutziges an. Spätestens seit der Romantik gilt eine Trennung von „Geist und Geld“. Der Geist beschäftigt sich besser nicht mit Ökonomie. Diejenigen, die hinter dem Geld her sind, bleiben dann unter sich. Das prägt unsere Gesellschaft bis heute. Trägt man durch das Gründen eines Unternehmens also auch zur Demokratie bei? Ich ziehe da eine Parallele zur Entwicklung der Politik. Auch in der Geschichte der Demokratie galt es den Aristokraten als weltfremd, dass Sklaven, Bauern, Arbeiter oder Frauen Stimmrecht haben sollten. Man argumentierte, sie seien zu ungebildet, zu wichtigen Entscheidungen nicht in der Lage. Diese Vorurteile haben wir überwunden. Nur in der Wirtschaft hat sich der Gedanke, dass alle Menschen mitwirken können, noch nicht durchgesetzt. Sie prangern auch das Marketing an. Warum? Vieles am modernen Marketing ist ein Verrat am Grundgedanken der Ökonomie. Seit Aristoteles ist es Grundkonsens der Ökonomen gewesen, sparsam mit Mitteln umzugehen. Heute aber verschwenden Unternehmen Ressourcen für aggressives Marketing und bewerben Produkte, die keiner braucht. Sie handeln wie Pharmaverkäufer, die ihre Patienten erst krank

reden, um ihnen anschließend Medikamente verkaufen zu können. Oder wie Unternehmen, die Produkte entwickeln, die kurz nach Ablauf der Garantiezeit kaputt gehen. Wir müssen solches Verhalten als das bezeichnen, was es ist: Betrug an den Menschen. Wie schätzen Sie es ein, dass sich Manager großer Konzerne inzwischen in Achtsamkeit üben, die Zahl der Nachhaltigkeitsmanager wächst und in BWLund VWL-Seminaren über Moral diskutiert wird? Dass Hochschulen mehr Veranstaltungen zu Ethik anbieten, greift zu kurz. Zu glauben, dass man Karrieristen so zu einem Wertebewusstsein verhelfen kann, finde ich naiv. Und das, was Corporate Social Responsibility genannt wird, ist größten-

teils Schönfärberei. Es gibt Ausnahmen. Aber was wir sehen, ist kein Paradigmenwechsel der Ökonomie, sondern ein Paradigmenwechsel in den PR-Abteilungen der Konzerne. Die Manager haben gelernt, dass man um Sympathie werben und auch mal ökologische oder soziale Projekte finanzieren muss. Das reicht jedoch nicht für einen grundsätzlichen Wandel. Die, die unsere Probleme verursacht haben, sind nicht die, die sie beheben könnten. Konsequent zu Ende gedacht hieße das: Die etablierten Unternehmen sollten zum Wohle aller pleite gehen. Damit man die Wirtschaft neu aufbauen kann. Das werden die Unternehmen nicht, vor allem solange nicht, wie wir uns von ihnen manipulieren und nach Konsum süchtig machen lassen. Deswegen brauchen

wir Entrepreneure, die ihnen Alternativen entgegensetzen. Die Anstöße zu Alternativen kamen in der Geschichte immer von außen: Carsharing wurde nicht von den Automobilkonzernen erfunden. Die Verschlechterung der Handelsbedingungen für die Entwicklungsländer wurde in der Wissenschaft zwanzig Jahre lang ohne Folgen diskutiert – erst als Menschen außerhalb des konventionellen Handels die Idee aufgriffen und als Fair Trade praktisch umsetzten, änderte sich etwas. Aber wir brauchen viel mehr solcher Initiativen. Wir brauchen eine intelligentere Ökonomie. Die alte fliegt uns um die Ohren. Und wir haben die Chance, eine bessere Welt zu gestalten: liebevoller, feinfühliger, ökologischer und künstlerischer. Aber wir müssen selbst in den Ring steigen. e

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Unternehmen & Gesellschaft

Bis zur letzten

Flocke

Ohne Schnee kein Wohlstand in den Alpen. Aber was ist erlaubt im Kampf gegen die Folgen des Klimawandels? Ein Besuch bei Almbauern, Liftbetreibern und Umweltsch端tzern TEXT Katrin Zeug

FOTOS Maria Irl


A

Skifahren lernen hier schon die Dreijährigen. Bayrischzell, am nördlichen Rand der Alpen, hängt am Wintersport wie an einem Tropf

ls die Umweltschützer nach Bayrischzell kommen, bleibt der Bürgermeister zu Hause, und die meisten anderen Bürger tun es ihm gleich. Nur ein paar ganz resolute Einwohner haben sich an die Kirchenmauer gestellt, um die Gemeinde zu verteidigen. Aus Frankfurt, München oder Rosenheim sind die Leute angereist, in den kleinen Ort am nördlichen Rand der Alpen. Viele jung, viele mit Uniabschluss und bunten Pudelmützen. Auf der Wiese zwischen Kirche und Rathaus haben sie eine Bühne aufgebaut und halten Reden zu Klimawandel und Verantwortung, in astreinem Hochdeutsch, auf Bayrisch und im Eisbärkostüm. „Gekauft seid ihr!“, rufen sie Richtung Kirchenmauer. Das Grüppchen dort steht da und flucht. Derbe Worte, gesprochen von Männern im Lodenmantel, Almbäuerinnen und Wirten. Von den Ureinwohnern, wie sie sich stolz nennen. Sie grollen Worte wie „Depperte“ in Fernsehkameras, ballen Fäuste und fordern, dass die Leute gehen sollen, weil sie nichts verstünden vom Alltag hier und nichts besäßen vom Grund, um den es geht. Das Stück Land, wegen dem alle da sind und wegen dem der Ort seit Wochen Thema in den Medien ist, liegt oben auf dem Berg. Weite Wiesenflächen schwingen sich dort hoch. Im Sommer kommen Motoradfahrer die gewundenen Bergstraßen über den Ursprungpass herauf zur Waller- und zur Speckalm, im Winter rauschen Skifahrer die Rosengassen-Abfahrt, den Vogelsang oder Waldkopf hinab. An einem der Hänge wuchs der Raue Enzian, die Mehlprimel und das Mannsknabenkraut, auf den Karten war die Wiese als Landschaftsschutzgebiet vermerkt. Doch seit vergangenem Jahr klafft dort ein Loch, Fels und Wiese sind weggesprengt. 19 Meter tief ist das Loch, ausgekleidet mit Plastikplane und Kieselschicht, Füllmenge 150 Millionen Liter, genug für Wasser aus 60 Schwimmbadbecken. Es ist nun Deutschlands größtes Speicherbecken für Beschneiungsanlagen und versorgt über kilometerlange unterirdische Leitungen die gut 70 Schneekanonen am restlichen Berg.


Einen neuen Sechser-Sessellift mit Sitzheizung und eine schicke Talstation gibt es jetzt auch und ein Kinderland mit Figurenwald. Weitere Lifte und Schneekanonen sind geplant. Investitionssumme bisher: 12,5 Millionen Euro. Als „größte Umweltsünde in den Bayerischen Alpen“ bezeichnen Umweltorganisationen den Ausbau des Berges am Sudelfeld. Überlebensnotwendig, sagen die Menschen vor Ort. Die Alpen, einst karg und unzugänglich, sind heute eine der bedeutendsten Ferienregionen der Welt – mit 464 Millionen Übernachtungen und 60 Millionen Tagestouristen im Jahr. Lange war das raue Gebirge als Wirtschaftsraum völlig uninteressant. Das änderte sich mit der industriellen Revolution: Als Städte, Fabriken und Bürogebäude wuchsen, nahm auch die Sehnsucht der Menschen nach wilder Natur zu, nach einem Gegenpol zur Zivilisation. Liftbetreiber, Hoteliers und Skischulen haben sich inzwischen an das lukrative Geschäft mit den Erholungssuchenden gewöhnt. Doch die Gästezahlen stagnieren seit Jahren. Um die, die kommen, ist ein Kampf entbrannt. Vor allem in der Schweiz und in Österreich werden Pisten erweitert, Luxus-Resorts in kleine Dörfer gesetzt und Golfplätze in die Täler. Restaurantkomplexe, Erlebnisparks und Aussichtsplattformen entstehen auf den Gipfeln. Mit dem Ausbau des Skigebietes am Sudelfeld sehen viele den Moment gekommen, in dem das Wettrüsten auch Deutschland erreicht hat. Und den Punkt, an dem es endgültig übers Ziel hinausschießt. Denn die Berge in Bayern sind im Vergleich zu denen der Nachbarländer relativ niedrig. Hier zeigt sich der Klimawandel längst. Seit Jahren fällt nicht mehr so viel Schnee, wie es sich die Liftbetreiber wünschen. In rund 25 Jahren, so die Prognosen, wird es gar nicht mehr reichen, um einen durchgehenden Skibetrieb in den Wintermonaten aufrecht zu erhalten – auch nicht, wenn Schneekanonen nachhelfen. Warum dann jetzt noch einen Berg umgraben, fragen Organisationen wie der Bund Naturschutz. „Das ist, als würde man Feuer mit Öl löschen“, sagt Werner

Egid Stadler lebt vom Berg, seit er geboren ist. Der Almbauer und Liftbetreiber ist resoluter Befürworter des Sudelfeld-Ausbaus. Seine Gegner seien „gewisse fundamentalistische Journalisten“, sagt er

Fees, jahrelang Leiter der lokalen Kreisgruppe der Organisation. „Wir heilen den Mangel an Schnee mit Kunstschnee. Das bedeutet, wir heilen die Folgen des Klimawandels mit zusätzlichem Energieverbrauch. Das ist doch absurd!“ Der 80-Jährige empfängt in einem Kellerraum seines Reihenhauses in Hemd, Cordhose und Pantoffeln. Bis unter die Decke stapeln sich Bücher, aufgerollte Gebietskarten und Pflanzenpressen. An der Wand hängen Bilder von seltenen Krokussen auf griechischen Gipfeln, selbst fotografiert. Sein Geld verdiente Fees als Verwaltungsbeamter bei der Post, wichtig war ihm dabei vor allem eines: eine Stelle nahe der Berge.

Wenn Fees über den Schutz der Natur spricht, geht es ihm nicht um die Romantik der Unberührtheit. Die Alpen, das weiß er, sind eine Kulturlandschaft. Seit Jahrhunderten vom Menschen geprägt. Waldrodung, Weidetierhaltung, an vieles hätten sich Pflanzen und Wildtiere angepasst. Aber das Speicherbecken sei ein gravierender Eingriff ins Ökosystem. 189 Pflanzen hatte Fees oben am Hang gezählt, viele davon geschützt oder bedroht. Dann kamen die Bagger. Die neuen Wasserleitungen würden zudem das Fließsystem am ganzen Berg durcheinanderbringen. Der Bund Naturschutz und der Deutsche Alpenverein haben darum gegen den Bau geklagt. Es sei an der Zeit, sich neue,


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zukunftsfähigere Konzepte für die Wirtschaft vor Ort auszudenken und das Geld in deren Umsetzung zu stecken, finden sie. Trotzdem ließ das Gericht die Bagger gewähren, mit dem Verweis auf ein „überwiegendes öffentliches Interesse“. Denn so irrsinnig, wie das Projekt auf den ersten Blick scheint, ist es nur für die, deren Existenz nicht vom Berg abhängt. Egid Stadler ist verantwortlich für den Bau des Speicherbeckens sowie für die neuen Schneekanonen und Lifte. Er trägt eine alte Jeans, Hemd und Jacke spannen über dem Bauch. Stadler lebt vom Berg, seit er geboren ist. Der 57-jährige Almbauer, Liftbetreiber und zweite Bürgermeister in Bayrischzell überlegt nicht lange, bevor er spricht. Er ist eher einer, der macht. Als Stadler ein junger Bub war, wurden die Pfeiler des ersten Lifts auf das Almgrundstück seiner Familie gestellt, er half dabei und verdiente sich was dazu. Später jobbte er am Lift oder planierte Pisten. Der Berg verschaffte ihm Arbeit, auch wenn im Winter auf der Alm nichts zu tun war. Als der damalige Liftbetreiber Anfang der 90er-Jahre aufgab, nahm Stadler zusammen mit zwei anderen aus dem Ort einen Kredit auf, 1,2 Millionen D-Mark, und kaufte. „Man muss ein bisschen verrückt sein“, sagt er und lacht. Das Liftgeschäft sei riskant und der Gewinn verglichen mit dem Risiko nicht allzu groß. Der Tag im Dezember 2014 ist bitterkalt und düster. Oben auf den Gipfeln liegt der Schnee so dünn wie Puderzucker auf einem Guglhupf. Es sind Tage wie dieser, wegen denen Egid Stadler und die Bayrischzeller beschlossen haben, ihre wichtigste Ressource zu optimieren: die Natur. 45 Prozent Einbußen hatte das Skigebiet im vergangenen Winter, sagen die Betreiber. Und auch diese Skisaison begann später als gehofft. Es mangelte an Schnee. Diese kleinen sechseckigen Kristalle aber sind für die Menschen hier wie das erste Glied einer Nahrungskette. Mit dem Schnee kommen die Gäste, fahren Lift, essen auf der Alm, schlafen in den Pensionen. Sie lassen Geld da für eine Infrastruktur, von der andere Regionen nur träumen: Bayrischzell, 1600 Einwohner, hat Super-

markt, Metzger, Bäcker, Friseure, gute Ärzte und ein Kulturprogramm. Ein Euro am Lift generiere fünf Euro in der Region, sagt Harald Gmeiner. Der Tourismusmanager kommt gerne mit, wenn Stadler auftritt. Gmeiner trägt eine Nickelbrille und hat das Reden gelernt. Für den Job ist er vor ein paar Jahren aus der Stadt nach Bayrischzell gezogen, inzwischen ist er auch Geschäftsführer der Liftbetriebe. „Natürlich ist das Speicherbecken ein Eingriff in die Natur“, sagt er. „Aber nennen Sie mir eine einzige Alternative im Tourismus mit dieser Wertschöpfung und die Spaß für täglich 8000 Menschen bringt.“ Kurz vor Beginn der Saison hatte der Deutsche Alpenverein genau dazu eingeladen: Der weltweit größte Zusammenschluss von Bergsportlern präsentierte Alternativen. Die meisten seiner gut eine

Damit der Schneefall auch mit den Ferienzeiten zusammenpasst, gibt es eben Schneekanonen. „Die Kunden erwarten das heute.“ Million Mitglieder fahren selbst gerne Ski, aber sie wandern, klettern und rodeln auch, gehen Mountainbiken oder Langlaufen. In der vereinseigenen Villa in München wurde bei Häppchen für den derzeitigen Trend plädiert: das Schneetourengehen. Kein Lift sei dafür nötig, keine geschlagene Schneise zum Abfahren. Naturnah steige man die Berge hinauf und könne dann, wenn genug Schnee liegt, irgendwo hinunterfahren. Auf der Alm einkehren oder im Ort übernachten könnten Gäste ja trotzdem. Harald Gmeiner sagt, er bekomme bei solchen Vorschlägen eine Halsaderschwellung. Schnee-

tourengehen, das könne man zwar auch in der Gegend um Bayrischzell, es gebe sogar extra ausgewiesene Routen. Massentauglich aber sei das nicht. Und schon gar nicht für Familien geeignet, die besonders gerne kommen, weil am Sudelfeld die Abfahrten nicht so steil sind. Im freien Gelände brauche es Kenntnisse über Lawinen, Felsen und Spalten, sonst sei das Wandern im Schnee zu gefährlich, sagt Gmeiner. Für die meisten Alpentouristen sei das keine Alternative. Zum Glück für die Wildtiere, fügt er hinzu. Wenn 8000 Menschen am Wochenende kreuz und quer über den Berg stapfen würden, ginge viel mehr kaputt, als wenn man sie auf zwei Quadratkilometern im Skigebiet konzentriere. Der Tourismusmanager spricht gerne davon, die „Natur erlebbar zu machen“ für eine Gesellschaft, die immer älter und deren Alltag immer schneller wird. Seit Jahren beobachtet Fritz Übelhack, wie die Beschleunigung auch das Skifahren und seinen Heimatort verändert. Der 79-Jährige organisiert die Skischule-Bayrischzell, eine Kooperative von rund einem guten Dutzend Leuten aus der Umgebung. Im Hauptberuf sind es Handwerker, Forstarbeiter, Studenten und Schüler, im Winter bringen sie den Skihaserln das Fahren bei.

Mehr dazu im neuen Heft 1 _2015 ======================== SeiteSeite 50 50

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Das Sudelfeld-Skigebiet Das Sudelfeld-Skigebiet ist ist eines der eines größten der größten in ganz in ganz Deutschland. Deutschland. Höhere Höhere Berge Berge und mehr und Schnee mehr Schnee gibt esgibt es aber gleich aber gleich hinterhinter der der österreichischen österreichischen GrenzeGrenze


Unser B端ro soll gr端ner werden Mit den Unternehmen wandeln sich auch die Anforderungen an ihre Mitarbeiter. Nur sind viele den neuen Aufgaben noch nicht gewachsen. Das bietet auch Quereinsteigern Chancen. TEXT Xenia von Polier ILLUSTRATIONEN Pia Bublies


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Verbraucher

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anchmal tun sich Chancen gerade dort auf, wo man sie am wenigsten vermutet hätte. Was etwa macht eine Politikwissenschaftlerin im Einkauf? Noch vor zehn Jahren hatte Nanda Bergstein bestimmt nicht damit gerechnet, dass sie mal mit Sortimenten von Schlafanzügen, Kochtöpfen oder Wohnzimmergarnituren zu tun haben würde. Ihre Abschlüsse in Internationaler Politik und Frauenrechteentwicklung jedenfalls schienen sie nicht gerade dafür zu qualifizieren. Inzwischen sieht die 35-Jährige das anders. „Das Wissen, das ich

mir in meinem Studium angeeignet habe, brauche ich als Fundament für meine heutige Arbeit“, sagt sie. Bergstein ist mit ihrem Team für Lieferantenbeziehungen und Nachhaltigkeit im Non-Food-Bereich verantwortlich. „Wir definieren die Leitplanken für die Einkäufer in Bezug auf Sozial- und Umweltstandards“, erzählt sie. „Wir entwickeln dafür einen Pool von Lieferanten, die den Anforderungen von Tchibo ent-

Mehr dazu im neuen Heft 1 _2015 ========================


Weitere Highlights der Ausgabe 6 _2014/15 AUFTAKT Anschauungsmaterial » .......................................... Seite 10 Amerikas Öl-Boom lässt die Preise in den Keller rauschen und bringt die Weltwirtschaft gehörig durcheinander

UNTERNEHMEN & GESELLSCHAFT Die Macht der Angst ».............................................. Seite 58

Furcht einflößend: Wie Politik und Institutionen uns verschrecken, erklärt Soziologe Frank Furedi im Interview

Das Prinzip Geduld »................................................Seite 68

Susanne Jordan arbeitet an der ersten fairen Computermaus der Welt. Ein Lehrstück über Lieferketten und starken Willen

VERBRAUCHER Am lebenden Objekt » ............................................. Seite 86 Drei Millionen Tierversuche finden jährlich in Deutschland statt. Was Verbraucher darüber wissen sollten

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