2009 SEIP 2 cover

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Southeast European Integration Perspectives

Vedran Džihić

Post-Dayton-Bosnien ist ein Land in Krise, das zu den Nachzüglern im europäischen Integrationsprozess zählt. Die Schwächen der Staatskonstruktion von Dayton und die Herrschaft der Ethnopolitik kultivieren die durch den Krieg entstandenen Konfliktlinien und produzieren neue. Dieses Buch liefert erstmalig im deutschsprachigen Raum eine systematische und aktuelle Grundsatz­ analyse aller relevanten Entwicklungen in Bosnien seit Dayton bis 2009. Es liefert als Einstieg eine fundierte Darstellung der widersprüchlichen historischen Entwicklung der nationalen Frage und des Aufstiegs des Ethnonationalismus. Auf die Analyse der „Fallen“ von Dayton folgt eine systematische Untersuchung politischer, gesellschaftlicher und sozioökonomischer Entwicklungen und Gründe für die ungebrochene Virulenz der Ethnopolitik. Das Buch liefert zudem eine überzeugende Erklärung für die Schwächen der internationalen Gemeinschaft bei der Demokratisierung Bosniens und seziert jene Faktoren, die den Europäisierungsprozess behindern.

Zum Autor: Vedran Džihić, geboren 1976 in Prijedor, studierte Politikwissenschaften und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien; Promotion in Politikwissenschaften; Politologe an der Universität Wien; Direktor des Wiener Büros von Center for European Integration Strategies (CEIS); zahlreiche Publikationen zum Westbalkan und zur europäischen Integration.

Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina: Staat und Gesellschaft in der Krise

Vedran Džihić

Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina: Staat und Gesellschaft in der Krise

ISBN 978-3-8329-4874-0

Nomos

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Southeast European Integration Perspectives Edited by Wolfgang Petritsch,

former High Representative for Bosnia and Herzegovina and Special Envoy of the EU for Kosovo

Christophe Solioz,

Secretary-General of the Center for European Integration Strategies


Vedran DŞihić

Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina: Staat und Gesellschaft in der Krise

Nomos


sponsored by Immorent d.o.o. Belgrade

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-4874-0

1. Auflage 2009 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2009. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.


Vorwort

Die Arbeit an der vorliegenden Studie war für mich neben all den wissenschaftlichen Aspekten stets auch eine Arbeit an mir selbst – an meinen Wurzeln, an der Emotionalität und tiefen Gefühlen im Umgang mit meiner Heimat Bosnien und Herzegowina. Sie war auch ein Kampfakt zwischen dem Bedürfnis nach Anklage und emotionaler Kritik und einer nüchternen und um Objektivierung bemühten Analyse des heutigen ethnisierten Bosnien. Der Prozess der „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“, den ich in der Arbeit schildere, war kein einfacher. „Verstehen heißt, unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie aussehen mag, ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen,“ schrieb Hannah Arendt. Die Arbeit ist letztlich ein Versuch, das kaum zu Verstehende am heutigen Bosnien zu verstehen und ihm zu widerstehen. Das vorliegende Buch stellt eine umfassend überarbeitete, ergänzte und korrigierte Version meiner an der Universität Wien im Jahr 2008 abgeschlossenen Doktorarbeit dar. Wie jedes andere Produkt ist auch das vorliegende Buch nicht nur das Ergebnis der eigenen Bemühungen, des eigenen Fleisses und der Audauer. Sie ist auch und vor allem ein Resultat meines persönlichen und akademischen „Menschgewordenseins“, zu dem viele mir wichtige Menschen beigetragen haben. Ich bedanke mich in erster Linie bei meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder für Kraft und Liebe, die sie mir zu jedem Zeitpunkt vorbehaltlos gegeben haben und ohne die diese Arbeit nie zustandegekommen wäre. Diese Arbeit widme ich ihnen – sie gehört ihnen genauso wie mir. Mein Dank gilt auch meiner Verwandtschaft, die voller Stolz und Interesse meine Arbeit verfolgt hat. Meinen tiefen Dank möchte ich vor allem meiner Tante Kelima aussprechen, die auch im fernen Florida stets mit mir war. Mein besonderer Dank gilt meinem Dissertationsbetreuer, Helmut Kramer, der mir in all den „akademischen“ Jahren mit Rat und konstruktiven Ideen und Vorschlägen zur Seite gestanden ist. In entscheidenden Momenten der Diss-Werdung hatte er motivierende und freundschaftliche Worte parat, um die Arbeit voranzubringen. Bei kleinen Krisen und Zweifeln gab er mir mit dezenten aber bestimmten Hinweisen (wie durch das obige Zitat von Hannah Arendt) jene kleinen „Schubser“, von denen die Arbeit sehr profitiert hat. Seine intensiven Kommentierungen und Korrekturvorschläge in der letzten Phase der Dissertation gingen weit über eine „gewöhnliche“ Betreuung hinaus. Ich bedanke mich auch bei Rainer Bauböck für seine umsichtige Betreuung in den ersten Dissertationsjahren, bei Dieter Segert für die produktive und angenehme Zusammenarbeit in den letzten zwei Jahren und seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu verfassen sowie bei Eva Kreisky für ihre freundschaftlichen Ratschläge und ihre Unterstützung. Mein Dank gilt auch meinen bosnischen Wegbegleitern Nerzuk 5


Ćurak und Dino Abazović in Sarajevo für den freundschaftlichen und intellektuellen Austausch sowie bei all jenen, die mir mit Gesprächen und Auskünften beim Verfassen der Arbeit geholfen haben. Ich möchte mich auch bei Herausgebern der Reihe „Southeast European Integration Perspectives“, Wolfgang Petritsch und Christophe Solioz, für ihr Interesse an der vorliegenden Studie und die Möglichkeit zur Veröffentlichung bedanken. Last nut not least gilt mein tiefer Dank all jenen, die mir menschlich und emotional sowie freundschaflich in den letzten Jahren zur Seite gestanden sind.

Wien, den 10.10.2009

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

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I

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Prolegonema

1. Virulenz des Ethnonationalen seit Dayton und seine Auswirkungen auf die bosnische Staatlichkeit 2. Zielsetzungen 3. Zum Aufbau des Buchs 4. Objektivierung des objektivierenden Subjekts – Anmerkungen zur persönlichen Zugang zum Thema 5. Zum Material der Untersuchung II Theoretische Überlegungen 1. Theoretische Erkundungen zu Post-Dayton-Bosnien – Transformationen der bosnischen Staatlichkeit unter dem Einfluss des Ethnonationalismus 1.1. Staat und Staatlichkeit im Wandel – theoretische Annäherungen vor dem Hintergrund der bosnischen Staatlichkeit 1.1.1. Das klassische Staatsverständnis in seiner Bedeutung für Bosnien-Analyse 1.1.2. Staatlichkeit als dynamisches Machtfeld 1.2. Das Ethnonationale und seine (Re)Konfigurationen 1.2.1. Allgemeine Nationalismusforschung – klassische Debatten 1.2.2. Nationalismustheorien und ihr Erklärungspotential vor dem Hintergrund der ex-jugoslawischen und bosnischen Nationalismen 1.2.3. Das Nationale ist relational 1.2.4. Primat des Ethnischen als Grundparadigma des Post-Dayton-Bosnien – theoretische Skizzen 1.2.5. Von ethnischen Identitäten und Nationalismus über Ethnozentrismus zum Ethnonationalismus 1.2.5.1. Dynamik und Reproduktionsmechanismen des Ethnonationalen 1.2.6. Ethnonationalismus und Staatlichkeit

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1.3.

Zum Zusammenhang zwischen Demokratisierung und externer Demokratieförderung und der Dynamik des Ethnonationalen 1.3.1. Grundannahmen und Dilemmata der Demokratisierungsforschung 1.3.2. Zum Zusammenhang zwischen externer Intervention und dem Prozess der ethnisch geprägten Nationalstaatsbildung und Demokratisierung 1.3.3. Externe Interventionen und Staatlichkeits- und Demokratieförderung von Außen 1.3.4. Europäisierung als spezifische Form der externen Intervention – Zur Wandlung des Ethnonationalismus im Kontext der Europäisierung 1.4. Staatlichkeitsmodelle in den ethnisch gespaltenen Gebieten – Theoretische Möglichkeiten bezüglich einer staatlichen Ordnung von Bosnien und Herzegowina 2. Konsequenzen der theoretischen Diskussion für die empirische Analyse – Analyseraster zur Untersuchung der Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina

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III Die Staatlichkeit und das Ethnonationale in der modernen bosnischen Geschichte

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1. Umgang mit der bosnischen Geschichte – Selektive Geschichtsschreibung als politisches Kampfmittel 2. Elemente der staatlichen (Dis)Kontinuität Bosniens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts 2.1. Bosnien in der osmanischen Zeit zwischen ethno-religiöser Vergemeinschaftung und dem Alltagssystem des Zusammenlebens in Form von „komšiluk“ 2.2. Bosnien und Herzegowina unter der Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie 3. Entwicklung der nationalen Frage in Bosnien und Herzegowina im 19. und 20. Jahrhundert 3.1. Identitäre Konflikte in der Zwischenkriegszeit zwischen Hegemonie und Emanzipationsversuchen 3.2. Bosnien als Zentralschauplatz des Zweiten Weltkrieges und die Neukonfiguration der bosnischen Staatlichkeit im sozialistischen Kontext 3.3. Nationalitätenfrage im sozialistischen Jugoslawien 4. Von der gesamtjugoslawischen Krise der 1980er Jahre zur Ethnisierung der bosnischen Gesellschaft und dem Krieg der 1990er Jahre 4.1. Veränderung der bosnischen Politik und Gesellschaft in den 1980er Jahren 4.2. Von der ethnischen „Mehrparteien-Demokratie“ der 1990er Jahre zur Zerstörung der bosnischen Staatlichkeit im Krieg 8

76 76 83 87 93 99

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4.2.1.

Anmerkungen zum Krieg in Bosnien zwischen 1992-1995

150

IV Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina nach Dayton 159 1. Vom Krieg zur Institutionalisierung der Ethnostaatlichkeit in Post-Dayton-Bosnien 1.1. Washingtoner-Abkommen 1.2. Dayton-Abkommen und die Verankerung des ethnischen Prinzips 1.2.1. Wege zu Dayton 1.2.2. Ausgangslage für den Daytoner Verhandlungsmarathon 1.2.3. Verhandlungen in Dayton – Wege zum schwierigen Kompromiss 1.2.4. Das Abkommen von Dayton als Schlüsseldokument der bosnischen Nachkriegsstaatlichkeit – Inhalte und Absichten 1.2.5. Verfassung von Bosnien und Herzegowina 2. Dayton ist da und was nun? Widersprüche und Dilemmata der beginnenden Dayton-Ära 2.1. Ausgangsvoraussetzungen für die Befriedung Bosniens 2.2. Internationale Akteure und Institutionen für die Dayton-Implementierung 2.3. Zentrale Probleme und Dilemmata des Dayton-Kompromisses 2.3.1. Dayton als „fauler Kompromiss“ 2.3.2. Internalisierung der Kriegslogik 2.3.3. Ethnische Falle 2.3.4. Komplexe Verwaltung als Dayton-Erbe 2.3.5. Internationale Gemeinschaft in der „Dayton-Falle“ 3. Dayton-Bosnien zwischen 1995 und 2008 – Eine Analyse der bosnischen Ethnostaatlichkeit 3.1. Der fragile Frieden - Implementierung des Dayton-Abkommens zwischen 1995 und Ende 1997 als Prozess der realpolitischen Verfestigung der Ethnostaatlichkeit 3.1.1. Die ersten Wahlen 1996 3.1.2. Der politische Prozess zwischen den Wahlen 1996 und der Erweiterung der Vollmachten des Hohen Repräsentanten Ende 1997 3.2. Bosnien als „Halb-Protektorat“ – Entwicklungen zwischen 1998 und 2000 3.2.1. Wahlen 1998 – neuerliche Bestätigung der ethnonationalen Strukturen 3.2.2. Regierungsbildung und Entwicklungen in beiden Entitäten – Blockaden der bosnischen Staatlichkeit 3.2.3. Situation im Bereich der Flüchtlingsrückkehr und der Menschenrechte

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3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.4.4. 3.5. 3.5.1. 3.5.2. 3.5.3. 3.5.4. 3.5.5. 3.5.5.1. 3.5.5.2.

Wirtschaftliche und soziale Lage bis 2000 als Nährboden für die Vertiefung ethnonationaler Unterschiede Von der nicht-nationalistischen Allianz hin zu alten ethnischen Gegensätzen – Schein des Paradigmenwechsels zwischen Anfang 2001 und Ende 2002 Wahlen 2000 Ethnonationalismus revisited – Eskalationen in der Föderation und in der Republika Srpska im Jahr 2001 Von Diskussionen über Verfassungsreform zum neuerlichen Sieg der ethnonationalen Kräfte bei den Wahlen 2002 Von Dayton nach Brüssel und wieder zurück – Reformversuche und ihr Scheitern zwischen 2003 und 2005 Von Dayton nach Brüssel – Wandlung der Ethnostaatlichkeit unter dem Einfluss der Europäisierung? Interne Reformdebatten und Entwicklungen zwischen 2003 und 2005 Internationale Staatengemeinschaft in der „Dayton-Falle“ Bilanzierungen der ersten zehn Jahre von Dayton-Bosnien Revival des Ethnonationalismus – Koordinaten der Zersetzung der bosnischen Staatlichkeit zwischen 2006 und 2009 Das Scheitern der Verfassungsreformen und Veränderungen in der lokalen und internationalen politischen Konstellation Der ethnonationalistisch dominierte Wahlkampf und die Wahlen im Oktober 2006 Krise der bosnischen Staatlichkeit ab dem Jahr 2007 – aktuelle Entwicklungen und Trends Eskalation der Krise in der zweiten Hälfte des Jahres 2007 Erschöpfte Staatlichkeit bzw. Krise in Permanenz – Entwicklungen in den Jahren 2008 und 2009 Turbulenzen rund um die Unabhängigkeit des Kosovo im Februar 2008 „Krieg mit anderen Mitteln“ – Zentrale Entwicklungen und Trends in den Jahren 2008 und 2009

V Ethnonationalismus revisited – Zusammenfassende und vertiefende Analyse der Ethnopolitik und der bosnischen Ethnostaatlichkeit 1. Einige zentrale Baussteine in der Entwicklung Bosniens zu einem Staat mit der Dominanz des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik 1.1. Vom Tito-Sozialismus zum Nationalismus in der Zeit des Postsozialismus 1.2. Religiöser Nationalismus 1.3. Vom Krieg als zentralem Bezugspunkt der Ethnopolitik in 10

240 246 253 259 263 269 270 274 281 284 288 288 292 297 301 304 307 310

321 321 321 325


Bosnien zur Angst als wirksamen Mechanismus zur Absicherung der ethnonationalen Herrschaft 2. Ökonomische Verhältnisse in Bosnien zwischen sozialistischen Hinterlassenschaften, Informalität und Neoliberalismus 3. Politik als Inszenierung der ethnonationalen Eliten (ohne Bürger) mit realen Folgen – Anomalien des Politischen 4. Zum Verhältnis zwischen Innen und Außen – Zusammenfassende Analyse der Rolle des externen Faktors 5. Von Europäisierung zum Europäismus als integralem Bestandteil des ethnonationalen Paradigmas in Post-Dayton-Bosnien 5.1. Europäisierung als zentrale Entwicklungsstrategie am Westbalkan und in Bosnien – Rahmenbedingungen und relevante Entwicklungen ab 2005 5.2. Aspekte der internen Anpassungen an den Europäisierungsprozeß 5.3. Koordinaten der diskursiven Anpassung des Ethnonationalismus an das Europäisierungsparadigma 5.3.1. Einsatz „Europas“ im politischen Kampf am Beispiel der Verfassungsdebatten im Jahr 2005 5.3.2. „Europa“ als macht- und ethnopolitisches Distinktionsmittel 5.4. Von Europäisierung zum „Europäismus“ 6. Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit als bosnisches Schicksal? Tücken der Konkordanzdemokratie – Über Alternativen zur derzeitigen Form der bosnischen Ethnostaatlichkeit 6.1. Bosnien und „Naša Stranka“ – Alternativen aus dem Inneren heraus VI Schlußwort 1. Post-Dayton-Bosnien – Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit als unverrückbares bosnisches Paradigma? 2. Von Antagonismen zu Agonismen und zurück - Bosnien jenseits von Dayton als Utopie von „höchster Dringlichkeit“ VII Literaturverzeichnis

332 336 344 352 359 359 366 370 374 376 386 390 397 401 401 415 421

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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungen Abbildung 1: Abbildung 2:

Beschreibung des Zustandes der bosnischen Staatlichkeit entlang dreier Elemente

40

Das Modell des Nationalismus von Alina Mungiu-Pippidi

76

Tabellen: Tabelle 1:

Bevölkerungsverteilung nach Religionszugehörigkeit im Jahr 1910

117

Tabelle 2:

Bevölkerung Bosniens nach nationaler Zugehörigkeit in den Jahren 1910, 1921 und 1948

122

Tabelle 3:

Anzahl der Opfer laut IDC Sarajevo (Erfassungsdatum März 2006)

189

Tabelle 4:

Internationale Hilfsleistungen in Nachkriegsgesellschaften

192

Tabelle 5:

Ethnische Struktur der Bevölkerung in der Republika Srpska (Vergleich zwischen 1991 und 1997)

200

Tabelle 6:

Verfassungsmäßige Aufteilung der Macht in Bosnien und Herzegowina

202

Tabelle 7:

Wichtigste makroökonomische Angaben, Bosnien und Herzegowina, 2005 bis 2008, Überblick

313

Mechanismen der Machtverteilung in Bosnien und Herzegowina

395

Tabelle 8:

13


14


I Prolegonema

1.

Virulenz des Ethnonationalen seit Dayton und seine Auswirkungen auf die bosnische Staatlichkeit „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann keine Frage mehr; Eben dies ist die Antwort.“ Ludwig Wittgenstein1

Die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme und einem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) in eine Dimension getreten, die nicht nur Politiker und Laien, sondern auch die Sozialwissenschafter überrascht und verwirrt hat. Das Ende der bipolaren Weltordnung hat einige Forscher dazu bewogen, vom Ende der Geschichte zu sprechen oder neue Schlachtfelder jenseits der zweigeteilten Welt zu vermuten, wie dies beispielsweise Huntingtons „Kampf der Kulturen“ zeigt. Doch die Konflikte, die seither - nicht nur, aber vor allem - in Europa ausgebrochen sind, haben immer noch (ethno)nationale und (ethno)nationalistische Beweggründe. Die sich allenthalben ausbreitende Euphorie über den Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft im Osten Europas wich angesichts der gewaltigen nationalistischen Energien, die dem Niedergang der alten Regime folgten. Nicht nur im Kaukasus, der Tschechoslowakei oder eben am Balkan traten Konflikte auf, in denen die nationale Identität und Abgrenzung vom Anderen eine wichtige Rolle spielten. Auch in einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind mit dem voranschreitenden und sich vertiefenden Europäisierungsprozess nicht alle nationalistisch motivierten Probleme verschwunden. So stellt auch Benedict Anderson fest: „Das so lange verkündete ‘Ende des Zeitalters des Nationalismus’ ist nicht im Entferntesten in Sicht. Das Nation-Sein ist vielmehr der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit.“2 Ethnonationalismus als Thema scheint auch heute wieder en vogue zu sein. Vor allem im Kontext der Debatten über Auswirkungen von regionalen und globalen Migrationsströmen und im Rahmen des Nachdenkens über seine Rolle in multinationalen bzw. multiethnischen Gesellschaften wird er immer wieder als eine relevante wenn nicht dominante Kraft genannt, von deren Stärke bzw. Einhegung das Schicksal der betroffenen Gesellschaften abhängt. Paradigmatisch für die diskursive 1 2

Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt am Main 1969 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 12

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„Wiederauferstehung“ des Ethnonationalismus ist der Artikel von Jerry Z. Muller in der März/April-Ausgabe des Jahres 2008 des einflussreichen US-amerikanischen Journal „Foreign Affairs“.3 Bereits auf der Titelseite wird unter dem an die Thesen von Samuel Huntington anspielenden Aufmacher „The Clash of Peoples“ postuliert, begleitet von der Frage „Why ethnic nationalism will drive global politics for generations?“. In weiterer Folge kommt Jerry Z. Muller zur These von der immanenten Aktualität des ethnischen Nationalismus und von seinem Potential, die Zukunft der internationalen Beziehungen und der Welt noch auf lange Sicht hinaus zu beherrschen. „(E)thnonationalism has played a more profound and lasting role in modern history than is commonly understood, and the process that led to the dominance of the ethnonational state and the separation of ethnic groups in Europe are likely to reoccur elsewhere. Increased urbanization, literacy, and political mobilization; differences in the fertility rates and economic performance of various ethnic groups; and immigration will challenge the internal structure of states as well as their borders. Whether politically correct or not, ethnonationalism will continue to shape the world in the twenty-first century.“4

Bosnien und Herzegowina scheint ein Paradebeispiel für die schon seit fast 20 Jahren anhaltende und bis heute ungebrochene Aktualität und Virulenz des Ethnonationalismus zu sein: der Ethnonationalismus wurde als Mittel zur Generierung und Verfestigung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu Beginn der 1990er Jahre eingesetzt, im Namen der „eigenen“ Ethnie bzw. Nation wurden Kriege geführt, auch heute scheint die ethnonationale Identität alle zivilen Identitäten zu überlagern. Mit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens am 14. Dezember 1995 in Paris ging der Krieg in Bosnien und Herzegowina zu Ende. Die Verfassung von Dayton stellte den Versuch eines kaum möglichen Spagats zwischen der Akkomodierung der im Krieg verfestigten Ethnopolitiken und den Ansprüchen der einzelnen bosnischen Völker einerseits und dem Idealziel der Wiederherstellung einer multiethnischen bosnischen Staatlichkeit andererseits dar. Trotz immensen Engagements der internationalen Gemeinschaft ist es jedoch bis heute nicht gelungen, die Macht des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik in Bosnien zurückzudrängen. Ethnisch begriffene Nation und Ethnopolitik als Macht- und Herrschaftstechnik zur Stabilisierung und Absicherung der eigenen Machtposition sind weiterhin der Dreh- und Angelpunkt der bosnischen Staatlichkeit. Eine nähere Betrachtung einiger Ereignisse und Entwicklungen in den Jahren 2008 und 2009 unterstützt die These von der fortgesetzten Virulenz des Ethnonationalismus und der Dominanz der Ethnopolitik im bosnischen politischen Raum. Anhand weniger Skizzen aus den letzten beiden Jahren lässt sich ein atmosphärisches

3 4

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Vgl. Jerry Z. Muller: Us and Them. The Enduring Power of Ethnic Nationalism, in: Foreign Affairs, March/April 2008, S. 18-35 Ebd., S. 19-20


Bild über die Virulenz des Ethnonationalismus sowie vielfältige damit verbundene Probleme des bosnischen Staates und der Gesellschaft zeichnen. Skizze 1: Am 17. Februar 2008 erklärte sich Kosovo zu einem unabhängigen Staat. Während die Kosovo-Albaner feierten und die ganze Region gespannt nach Prishtina blickte, waren einige Balkan-Kenner viel weniger über den Kosovo und viel mehr über Bosnien besorgt. Der langjährige Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, Erhard Busek, verkündete in einem im Online-Standard veröffentlichten Gespräch, dass seiner Ansicht nach die Situation in Bosnien und Herzegowina „schwieriger“ sein als jene im Kosovo. „Meiner Meinung nach wird Bosnien und Herzegowina das letzte Land der Region sein, das zur Europäischen Union kommt,“5 so Busek. Ivan Krastev sprach davon, dass die Länder der Region und damit auch Bosnien vor fünf Jahren eine bessere EU-Perspektive hatten als heute. Große internationale Zeitungen berichten indessen fast schon beiläufig, dass angesichts der kosovarischen Unabhängigkeit eine stärkere Verselbständigung der Republika Srpska (RS) bis hin zum Ausscheren der serbisch dominierten Entität aus dem bosnischen Staat nicht ausgeschlossen sei.6 „Trotz Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, den bosnischen Zentralstaat zu stärken, führt der serbische Staat weitgehend ein Eigenleben“, schreibt die Neue Zürcher Zetung und wies darauf hin, dass eine Sezessionsbewegung in der RS „am wahrscheinlichsten“ ist.7 Unterdessen wurden die Stimmen in der RS, die das Selbstbestimmungsrecht für diese serbisch dominierte Entität fordern, immer lauter. So forderte z.B. die sogenannte „Serbische Bewegung der NGOs“ („Srpski pokret nevladinih asocijacija – SPONA“) offensiv das Recht der Republika Srpska auf Sezession.8 Der Premierminister der RS, Milorad Dodik, schloss eine solche Entwicklung explizit nicht aus und kündigte eine Sitzung des Parlaments der RS an, bei der ihr unveränderlicher Charakter und ihre staatliche Subjektivität bestätigt werden sollten. Am 21.2.2008 fand dann die angekündigte Sondersitzung des Parlaments der RS statt, bei der eine Resolution verabschiedet wurde, in der die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo verurteilt wird. Für den Fall der Anerkennung des Kosovo durch die Mehrzahl der Staaten der UN und der EU kündigte man die Abhaltung eines Referendums in der RS für den Austritt aus Bosnien und Herzegowina an. Man berief sich hier auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und sprach davon, dass die Anerkennung des Kosovo ein gefährlicher und willkürlich vom Westen gesetzter Schritt sei, dessen Folgen der Westen und die EU selbst zu verantworten haben werden. Milorad Dodik bezeichnete die Situation in der RS nach der Ausrufung der Unabhängigkeit als einen „demokratischen Aufstand“. Im Zuge dieses „demokratischen Aufstands“ verbrannten de5 6 7 8

Erhard Busek: Busek rechnet nach Kosovo-Unabhängigkeit nicht mit Flächenbrand, Standard Online, 17.2.2008, abrufbar unter derstandard.at Vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung, 16. und 18.2.2008, International Herald Tribune, 16.2. und 18.2.2008, siehe auch Kosovo-Berichtertstattung von Radio Slobodna Evropa am 16., 17. und 18.2.2008, abrufbar unter www.danas.org Neue Zürcher Zeitung, 16.2.2008 Maja Bjelajac: U RS spremaju odgovor na nezavisnost Kosova, Radio Slobodna Evropa, 13.2.2008, abrufbar unter www.danas.org/content/Article/977718.html

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monstrierende Studenten und Schüler in Banja Luka vor dem Beginn ihres Zugs durch die Stadt die Fahne der EU. Die scheinbar einzige Zukunftsverheißung Bosniens brannte symbolisch aus. Skizze 2: Politisch Verantwortliche der drei sogenannten „konstitutiven Völker“ von Bosnien und Herzegowina (lese: ethnischer Gruppen) stritten seit Jahren tagaus tagein über die Reform der Polizei und kamen dabei keinen entscheidenden Schritt weiter, wodurch die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens als einer wichtigen Voraussetzung auf dem Weg in die EU blockiert war. An sich sind Diskussionen über Reformen und die Suche nach einem Konsens ein integraler Bestandteil jeder demokratischen politischen Ordnung, allerdings dauerte das Tauziehen rund um die Polizeireform bereits einige Jahre lang und erschöpfte sich in Streit, Vorwürfen auf ethnischer Basis auf die Adresse der jeweils Anderen, die „Uns“ bedrohen würden, Absichtserklärungen, neu einberufenen Sitzungen und Ausschüssen, Drohungen der internationalen Gemeinschaft, und wiederum Sitzungen, Sitzungen und Sitzungen. Und als dann unter dem Druck der internationalen Staatengemeinschaft im April 2008 endlich ein Kompromiss über die Polizeireform zustande kam und das SAA im Mai 2008 unterzeichnet werden konnte, begann wieder eine Phase, in der es in der konkreten Implementierung der Bestimmungen der Polizeireform bis heute keine Fortschritte gab. Mehr noch, die notwendigen Schritte zur Umsetzung der Polizeireform sind heute (Herbst 2009) angesichts der rapiden Zuspitzung der Krise und des enormen Konfliktpotentials zwischen der RS und der Föderation kein Thema mehr. Skizze 3: Der Premierminister der Republika Srpska (RS), Milorad Dodik, liess im Verlauf des Jahres 2008 und 2009 kaum eine Gelegenheit aus, um der internationalen Gemeinschaft und den Bosniaken unmissverständlich klar zu machen, dass er gar kein Interesse an einem Staat Bosnien und Herzegowina hat und de facto eine weitere Verselbständigung der RS als einer Republik des serbischen Volkes anstrebt. Rund um die Anerkennung des Kosovo drohte er, wie schon beschrieben, mit einem Referendum über die Abspaltung der RS von Bosnien und Herzegowina, schlug gleichzeitig eine Vertiefung der Ethnoterritorialisierung Bosniens vor, sprach rund um den Jahrestag des Genozids in Srebrenica im Juli 2008 von einem „lokalen Genozid“, beklagte sich über einseitige Berichterstattung des Staatsfernsehens, kündigte einen Boykott des gesamtstaatlichen Rundfunks durch die RS an, sprach anlässlich der Verhaftung von Radovan Karadžić im Juli 2008 über die RS als einer Republik, die nicht zuletzt auch Karadžić im Kampf gegen Bosniaken und Kroaten geschaffen hatte. Im Oktober 2008 drohte er offen mit dem Widerstand gegen die gesamtstaatlichen Organe von Bosnien und Herzegowina und gleichzeitig mit der Ausrufung der Unabhängigkeit der RS für den Fall, dass die Internationale Gemeinschaft versuchen sollte, ihn aus seinem Amt zu entfernen.9 Das Parlament der Repu9

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In einem Interview mit der serbischen Tageszeitung „Večernje novosti“ vom 3. Oktober 2008 kommentierte Dodik den Einsatz des bosnischen Staatssicherheitsdienstes SIPA (Državna agencija za istragu i zaštitu – State Information and Protection Agency) in der Stadt Bijeljina in der RS folgendermaßen: „Vor kurzem ist die SIPA ohne Befugnis in eine


blika Srpska nahm am 15. Oktober 2008 eine Resolution an, in der noch einmal Dayton und seine Bestimmungen in den ersten Plan gerückt wurden (RS und ihre Vertreter sehen in der Verfassung von Dayton die rechtliche Garantie für eine starke RS) und im Falle der Verletzung der Bestimmungen von Dayton die Möglichkeit des Referendums für den Austritt der RS aus Bosnien und Herzegowina offen gelassen wurde. Im Verlauf des Jahres 2009 häuften sich die Angriffe von Milorad Dodik auf die Föderation und die Institutionen des Zentralstaates als auch auf das OHR. Dodik, der sich wegen Vorwürfe der Korruption im Verlauf des Sommers 2009 mit zunehmendem Druck seitens der bosnischen Justiz konfrontiert sah, drohte wieder mit der Abspaltung der RS von Bosnien, sprach vom „Ende Bosniens, falls jemand Dayton anfassen sollte“10, kündigte Klagen der Regierung der RS gegen die bisherigen Hohen Repräsentanten an und blockierte obstruierte mit seinen Parteileuten aus der SNSD die Arbeit der gesamtstaatlichen Organe. „Sie werden mich nicht stoppen“, ließ Dodik im September 2009 in der serbischen Wochenzeitung „NiN“ den bosnischen Justizorganen und der internationalen Gemeinschaft ausrichten.11 Auf der anderen Seite setzten die bosniakischen Politiker und in den Jahren seit 2006 immer wieder vor allem das Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, Haris Silajdžić, ihre Politik der direkten Forderungen nach der Abschaffung der RS als „einem genozidalem Gebilde“ fort. Die kroatischen politisch Verantwortlichen setzen zugleich all ihre Kräfte in die Realisierung einer dritten Entität für die bosnischen Kroaten, obwohl sie zugleich und angesichts der klaren Botschaften aus Zagreb für die Aufrechterhaltung der Gesamtstaalichkeit Bosniens plädieren. Unabhängig von den Argumenten ist es mehr als deutlich, dass jede Volksgruppe vor dem Hintergund ihrer exklusiven nationalen Interessen agiert und dass die Interessen des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina in den Hintergrund gedrängt werden. Skizze 4: Am 20. Juni 2008 spielte im Viertelfinale der Fußballeuropameisterschaft in Wien Kroatien gegen die Türkei um den Aufstieg ins Halbfinale. Bereits im Vorfeld zeichnete sich ab, dass dieses Spiel die ethnonationalen Gegensätze in

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Polizeistaation in Bijeljina eingedrungen und hat dabei Gewalt angewendet. Ich lasse ihnen hiermit ausrichten, dass sie das nächste Mal mit dem Widerstand der Polizeikräfte der RS rechnen müssen. Und es tut mir weiterhin leid, dass wir sie nicht verhaftet haben und in Handschellen nach Sarajevo zurückgeschickt haben.“ (Večernje Novosti, 3.10.2008) Einige Tage später wurde Dodik in einem Live-Interview für die Fernsehanstalt der Republika Srpska (11.10.2008) noch deutlicher. Er meinte, dass im Falle seiner Absetzung die internationalen Truppen und Panzer mit Gewalt versuchen würden, ihn beim Betreten seines Amtes zu hindern. Dodik beschreibt anschließend bildhaft, wie er darauf reagieren würden: „Ich würde sie wahrscheinlich ein wenig herumschubsen und ihr Journalisten würdet dies filmen. Dann würde ich hundert Meter weitergehen, eine Sitzung der Regierung der RS abhalten und alle Gesetze Bosnien und Herzegowinas suspendieren... Dann würde ich eine Nichtregierungsorganisation ins Leben rufen, deren Präsident ich sein würde, und würde dann die RS in die Selbständigkeit führen. Wenn sich jemand spielen will, dann soll er sich spielen.“ (Niederschrift der Live-Sendung des Fernsehens der Republika Srpska am 11.10.2008, zit.n. Oslobođenje, 12.10.2008 – eigene Übersetzung) Politika, 21.9.2009 NIN, 17.9.2009, S. 59

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Bosnien und Herzegowina vertiefen wird. Nachdem die türkischen Fußballer das Match in der letzten Minute der Verlängerung noch umdrehen und für sich entscheiden konnten, kam es zur Eskalation der Situation in Bosnien und Herzegowina zwischen Bosniaken und Kroaten. Kurz nach dem Schlusspfiff füllten sich die Strassen bosniakisch bewohnter Städte wie der Hauptstadt Sarajevo oder der großen mittelbosnischen Stadt Zenica bzw. jener Städte wie Mostar oder Vitez, in denen Bosniaken und Kroaten in mehr oder weniger separaten Welten leben, mit Autos und Menschen bosniakischer Herkunft, die türkische Fahnen schwingend und „Allahu ekber“ skandierend alles taten, um der kroatischen Bevölkerung zu zeigen, dass man sie im „eigenen“ Bosnien nicht haben möchte. Die bosnisch-kroatischen Nationalisten reagierten wie so oft in der Vergangenheit auch ihrerseits mit Beleidigungen der Bosniaken, worauf es in Folge in Mostar und einigen anderen Städten zu Ausschreitungen und Verletzten kam. In diesem Fußballmatch ohne bosnische Teilnahme bewies die bosnische Bevölkerung mit ihrem Verhalten, dass eine gemeinsame bosnische Identität nicht existiert. Einer der prominentesten bosnischen Intellektuellen, Envar Kazaz interpretierte das Wüten der Fans nach dem Match als „das wahre Zeichen der realen ideologischen, kulturologischen, moralischen und jeglichen anderen Destruktion der komplexen, und vermutlich unwiederbringlich geteilten bosnischherzegowinischen Gesellschaft.“12 Skizze 5: Im Frühjahr 2008 wurde in der bosnischen Öffentlichkeit eine vehemente Debatte darüber geführt, ob man den Religionsunterricht in den Kindergärten einführen sollte. Prominente Vertreter der islamischen Gemeinde untermauerten ihren Vorschlag mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des frühen Kennenlernens der „eigenen religiösen Wurzeln“ der kleinen Kinder. Wenn man weiß, welche Rolle die Religionen in den Jahren seit 1990 in Bosnien gespielt, wie stark sie zum Aufstieg eines radikalen Nationalismus beigetragen hatten und wie exklusiv der Religionsunterricht bei allen drei bosnischen Volksgruppen seit dem Dayton-Abkommen praktiziert wird, dann kann auch dieser Vorstoß als ein neuerlicher Versuch zur Verfestigung der Dominanz der exklusiven Ethnonationalismen interpretiert werden. Skizze 6: Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise haben im Verlauf des Jahres 2008 und inbesondere in den ersten Monaten des Jahres 2009 Bosnien mit voller Wucht getroffen. Das Ausmaß der ausländischen Direktinvestitionen ging rapide zurück, das Wachstum des Bruttosozialprodukts wurde gestoppt, so dass das Land im Jahr 2009 keine Wirtschaftswachastumsraten aufweisen wird. Die Föderation Bosnien und Herzegowina konnte nur durch einen kurzfristigen Kredit des Internationalen Währungsfonds vor Bankrott gerettet werden. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2009 haben mehr als 53 000 Menschen ihre Arbeit verloren. Nahezu 90% der Bevölkerung ist mit ihrer wirtschaftlichen Situation unzufrieden, mehr als 60% der jungen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren würden Bosnien sofort verlassen, wenn sie Gelegenheit dazu hätten. Es vergeht kein Tag ohne Meldungen von protestierenden Arbeitern, denen die Gehälter nicht bezahlt werden und die jeden Tag um ihre Jobs zittern müssen. Die Armutsraten und die Anzahl der so12

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Enver Kazaz: Sport je mrtav, živjela mržnja, Dani, 27.6.2008


zial am untersten Minimum lebenden Menschen ist sehr hoch. Die bosnischen Politiker aller drei Seiten setzen zugleich die nationalistische Agitation fort und sind nicht in der Lage oder nicht willens, Lösungen für die realen Probleme der Menschen anzubieten. Bosnien und Herzegowina im vierzehnten Jahr nach dem Ende des Krieges ist ein gespaltenes und – wie es die permanent wiederkehrenden Krisen, vor allem auch die Krisen in den letzten drei Jahren beweisen – ein instabiles Land, dessen staatliche Zukunft ungewiss ist.13 Ich bin mir natürlich durchaus bewusst, dass der Begriff „Krise“ ein relativer ist. In einigen internationalen Studien wurde in den letzten Jahren bewusst gegen die Verwendung des Wortes „Krise“ im Zusammenhang mit der Lage in Bosnien und Herzegowina argumentiert. Selbstverständlich ist die im Westen noch immer so oft vorkommende automatische Zuschreibung der Krisenhaftigkeit an den Balkan und vor allem auch an Bosnien abzulehnen. Selbstverständlich ist Bosnien nicht mehr ein Krisengebiet wie während des Krieges und unmittelbar danach, wo Menschen getötet wurden, Moscheen und Kirchen brannten und Gewalt gegen rückkehrende Flüchtlinge an der Tagesordnung stand. Es gab in den Jahren nach Dayton durchaus auch Fortschritte wie z.B. bei der Schaffung einer gemeinsamen Armee aus ehemaligen Kriegsgegnern, was noch vor ein paar Jahren unvorstellbar schien. Gleichzeitig kann man unschwer erkennen – und da gibt es wenige, die das leugnen, dass es gar keinen Konsens über die Form und den Inhalt der bosnischen Staatlichkeit gibt und dass die Ursache des Konflikts, nämlich die territorialen Ambitionen der einzelnen Ethnonationalismen, weiterhin nicht beseitigt worden sind. Die Zuspiztung der staatlichen Krise im Herbst 2009 zeugt davon. Die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen sowie die weiterhin verbreiteten Ängste der bosnischen Völker voreinander bilden einen günstigen Boden für den Einsatz der ethnonationalistischen Denk- und Argumentationsmuster und für die Dominanz der Ethnopolitik als einer äußerst effizienten Herrschafts- und Machttechnik in Post-Dayton-Bosnien. Die Folgen sind ein nicht bzw. schlecht funktionierender Staat, träge Verwaltung, gegenseitige Blockaden der einzelnen bosnischen Völker bei der Durchführung notwendiger Reformer zur Stärkung des Staates und im Prozess der europäischen Integration sowie das Nichtvorhandensein einer übernationalen staatlichen Identität. Die Bevölkerung Bosniens ist es, die laut Meinungsumfragen14 und in direkten Gesprächen unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass Bosnien in einer tiefen Krise steckt. Und schließlich spüre ich selbst diese Krise als Bosnier auf jedem Tritt – sei es im Kontakt mit Behörden, im Umgang mit dem Alltag in meiner Heimatstadt Prijedor oder in jedem Dialog mit meinen Landsleuten. Das Denken und Handeln in ethnonationalen Kategorien und die Krise der bosnischen Staatlichkeit sind zum Bestandteil der bosnischen Wirklichkeit geworden.

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Vgl. ESI: The worst in class. How the international protectorate hurts the European future of Bosnia and Herzegovina, 8 November 2007, S. 1 Vgl. UNDP Early Warning Reports, abrufbar unter www.undp.ba

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Angesichts dieser Skizzen und des allgemeinen Zustandes der bosnischen Staatlichkeit und Gesellschaft Ende des Jahres 2009 drängen sich einige Fragen auf: Warum und wie ist es zu dieser tiefen Krise der bosnischen Staatlichkeit gekommen? Warum ist Ethnonationalismus auf allen drei Seiten weiterhin so stark? Welche Folgen hat die ungebrochene Aktualität des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik für die bosnische Staatlichkeit? Und: Gibt es andere Wege zur Gestaltung des bosnischen Staates? Diese zentralen Fragen bilden den Ausgangspunkt für eine systematische Betrachtung und Analyse der Entwicklung in Bosnien und Herzegowina seit dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawien und der „demokratischen Wende“ im Jahr 1990 sowie für die Suche nach den Gründen und Erklärungen für die hohe Virulenz des Ethnonationalismus und die damit verbundene krisenhafte Form der bosnischen Ethnostaatlichkeit.

2. Zielsetzungen Diese Arbeit stellt sich zur Hauptaufgabe, den tiefer liegenden Gründen und Erklärungen für die weiter oben in sechs Skizzen dargestellte Virulenz des Ethnonationalismus sowie für die starke Bedeutung der Ethnopolitik und ihren Folgen für die Staatlichkeit Bosnien und Herzegowinas nachzuspüren. In diesem Kontext können Hauptthesen bzw. Hauptzielrichtungen der Arbeit folgendermaßen formuliert werden: Die Ethnonationalisierung der bosnischen Gesellschaft und die tiefe und fortdauernde Verankerung des Ethnonationalen als Folge des Krieges und des Charakters des Abkommens von Dayton haben zusammen mit einer nicht adäquaten Form des internationalen Einsatzes zu einer Form der Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina geführt, die den Krisenzustand prolongiert und in Folge eine substantielle Normalisierung der Situation in Bosnien und Herzegowina sowie eine Stärkung der bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit erschwert. Bosnien und Herzegowina befindet sich in einem spezifischen und im Vergleich zu den anderen ost- und südosteuropäischen Ländern schwierigeren Transformationsprozess, der durch multiple und komplexe gesellschaftliche Veränderungen, hohe Virulenz des Ethnonationalismus und nicht zuletzt auch eine starke externe Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Dieser Transformationsprozess umfasst nicht nur den Übergang von einem Krieg- in den Friedenszustand, sondern auch den Wechsel von einer sozialistischen Wirtschaft zur Marktwirtschaft und einen politischen Übergang von einer Republik innerhalb der jugoslawischen sozialistischen Föderation hin zu einem demokratischen unabhängigen Staat. All diese Prozesse haben in einem relativ kurzen Zeitraum von 1990 bis 2009 dazu geführt, dass sich die Parameter der bosnischen Staatlichkeit grundlegend verändert haben und weiterhin einem intensiven und rapiden Veränderungsprozess ausgesetzt sind. Als entscheidender Faktor haben sich dabei vor allem der Ethnonationalismus und die Ethnopolitik als enstprechende Macht- und Herrschaftstechnik der nationalistischen Eliten erwiesen. Als 22


weitere wichtige Faktoren können die geschichtlichen Aspekte, die anhaltend schwierige soziale und wirtschaftliche Situation sowie der internationale Einfluss (seit 2000 in Form der Europäisierung) hervorgehoben werden. Daher ergibt sich die Notwendigkeit einer systematischen Auseinandersetzung mit den vielfältigen (Re)konfigurationen der bosnischen Staatlichkeit unter dem Einfluss des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik in diesem Zeitraum, die erstens behutsam und um Objektivierung bemüht den historischen Kontext einführt, zweitens das Ethnonationale mit all den unterstützenden Faktoren für die Verfestigung des Ethnonationalismus und in der gesamten Bandbreite seiner Folgen für die Staatlichkeit Bosnien analysiert und drittens auch den externen Einfluss und damit auch den Prozess der Europäisierung nicht vernachlässigt. Die vorliegende Studie stellt sich vor diesem Hintergrund die Aufgabe, diese Faktoren anhand ihrer Entwicklung seit dem Beginn der 1990er Jahre zu analysieren, ihre wechselseitigen Beziehung zu erhellen und theoretische und praktische Möglichkeiten der Begründung einer anderen Staatlichkeit in Bosnien und Herzegowina auszuloten. Ein solcher Versuch des Aufeinanderbeziehens dieser Faktoren und der Analyse der Folgen des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik für die bosnische Staatlichkeit fehlt bislang. Die Grundlage für einen solchen Zugang bildet die intensive Kenntnis und Beschäftigung des Autors mit Bosnien im Untersuchungszeitraum, einerseits als direkt Betroffener, andererseits als jemand, der sich in den letzten Jahren kontinuierlich wissenschaftlich analysierend und politisch und öffentlich kommentierend mit den Problemen der bosnischen Staatlichkeit auseinandergesetzt hat. Das breite und umfassende Studium nahezu aller relevanter Studien und Quellen in den Sprachen des Raumes sowie von Publikationen in der englischen und deutschen Sprache schaffen erst den Rahmen für eine solche systematische Auseinandersetzung mit Bosnien und Herzegowina. In der vorliegenden Studie wird zugunsten einer tieferen Einsicht in die Dynamik des Ethnonationalismus und der Entwicklung der bosnischen Staatlichkeit auf eine lückenlose dokumentarische Darstellung aller Ereignisse und Entwicklungen seit dem Beginn der 1990er Jahre verzichtet. Das Ziel der Studie besteht vielmehr darin, anhand ausgewählter Phänomene, Zeitpunkte und Orte Einblicke in den Charakter der bosnischen Ethnonationalismen und der Ethnopolitik sowie in die Mechanismen der Macht- und Herrschaftsverteilung in Bosnien zu gewinnen und zu analysieren, ob und wie die derzeitige Form der Ethnostaatlichkeit die Stabilisierung von Bosnien und Herzegowina verhindert. Neben dieser ersten Aufgabe versucht die vorliegende Studie auch, auf der theoretisch-konzeptuellen Ebene einen Rahmen zu schaffen, der aus der Synthese der theoretischen Ansätze zu Staatlichkeit, Nationalismus und Ethnizität sowie zur externen Demokratieförderung besteht und es möglich macht, den Ethnonationalismus, die Ethnopolitik und die Staatlichkeit Bosnien und Herzegowinas in all ihrer Komplexität theoretisch zu fassen. Dabei sollen relevante internationale Debatten in einen Dialog mit vielfältigen Wegen des Nachdenkens über diese Phänomene aus dem innerbosnischen Kontext treten. Daraus können sich alternative Wege im theoreti

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schen Nachdenken über Staatlichkeitsrekonfigurationen im Kontext der starken Wirkung des Ethnonationalen und der Ethnopolitik ergeben. Auf dieser Grundlage der theoretischen Diskussion wird ein Analyseraster zur Untersuchung des Ethnonationalismus, der Ethnopolitik sowie der Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina entwickelt, aus dem konkrete Fragestellungen für den empirischen Teil der Studie abgeleitet werden. Ein wichtiges Ziel der Studie besteht auch darin, die enorme Widersprüchlichkeit Bosniens und seiner – geschichtlichen als auch rezenten – Entwicklung darzulegen. So ist zum Beispiel die Geschichte Bosniens – und vor allem jene in der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens – seit den 1990er Jahren zu einem ideologisch umkämpften Terrain geworden. Einerseits wird vor allem in den nationalistischen Denkrichtungen aller drei Völker die sozialistische Periode als eine Zeit der nur durch ein autoritäres Regime in Schach gehaltenen ethnischen Gegensätze und des latenten Hasses beschrieben. Im gleichen Atemzug wird die bosnische Tradition der Multiethnizität und Erfahrung der Toleranz und des gemeinsamen Lebens negiert. Andererseits gibt es viele, die Bosnien als ein Land der Toleranz und der tiefen Verschmelzung und Symbiose der drei bosnischen Volksgruppen beschreiben. Bosnien war aber weder das Land des Hasses noch das Land der in allen gesellschaftlichen Schichten verankerten idyllischen interethnischen Harmonie, sondern war auch in der Frage der interethnischen Beziehungen ein Land der Widersprüche und Gegensätzlichkeiten. Das „bosnische Mosaik“, wie Xavier Bougarel, Elissa Helms und Ger Duijzings in ihrem Buch „The New Bosnian Mosaic“ eindrucksvoll beschreiben, „has always been and continuos to be multilayered.“15 Dieses „bosnische Mosaik“ hat jedoch durch den Krieg eine der tiefsten Rekonfigurationen erfahren und setzt sich heute aus vielen neuen Bausteinen zusammen. Bosnien und Herzegowina heute ist – und dies insbesondere in Bezug auf die ethnonationale Frage – noch stärker von Gegensätzen und Widersprüchen geprägt als in der sozialistischen Zeit. Auch wenn die exklusive ethnische Identifikation heute überwiegt und alle gesellschaftlichen Bereiche (und vor allem den Bereich der Politik) dominiert, gibt es auch nach dem Krieg Entwicklungen und Tendenzen, die auf die Brüche des Ethnonationalismus und auf politische und gesellschaftliche Räume hindeuten, in denen Bosnien abseits des Ethnonationalen gedacht und gelebt wird. Diese Studie möchte schließlich mit ihrem Fokus auf Innensichten Bosniens zeigen, dass mit einer Öffnung und Befreiung des Blicks von scheinbar selbstverständlichen und unumstößlichen Prinzipien des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik nicht zuletzt auch alternative Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden können. Ein solcher Fokus in der Studie, den man unter dem Stichwort „Wider das Geläufige“ zusammenfassen könnte, bedeutet im bosnischen Fall mitunter auch ein Fokussieren auf Diskurse abseits der durch den Dayton-Diskurs der Internationalen und die Anpassungsstrategien der Lokalen bedingten „Großen Erzählung“. Konzentrieren auf solche Diskurse soll selbstverständlich nicht als eine uto15

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Xavier Bougarel/Elissa Helms/Ger Duijzings (Ed.): The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War-Society, Aldershot 2007, S. 2


pisch motivierte Negation des Bestehenden gedacht werden. Ein solches Denken jenseits bzw. diesseits der herrschenden ethnonationalistischen Denk- und Argumentationsschmata und jenseits von Dayton als dem omnipräsenten Bezugspunkt im bosnischen politischen Raum dient viel mehr als Methode zur Einsicht in die Dynamik des Funktionierens der real vorhandenen Konfigurationen und der oben dargelegten Widersprüche der bosnischen Staatlichkeit. Übernimmt man unkritisch die realen Kategorien dieser ethnonational geprägten Realität in die Analyse, nimmt man sich die Möglichkeit einer kritisch-dekonstruktivistischen Sicht auf die Phänomene des Post-Dayton-Bosnien, vor allem auf die Dynamik der realen Staatlichkeitsveränderungen und damit auch auf die tatsächlichen sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse im heutigen Bosnien. Die Herausforderung lautet also, eine Studie zu schreiben, die versucht, die vielfältigsten Aspekte der bosnischen Ethnonationalismen und Ethnopolitiken sowie der Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina einer präzisen Analyse zuzuführen, gleichzeitig aber unvoreingenommen von der dominanten ethnonationalistischen Logik den Blick auf die Tiefenstrukturen und –phänomene der bosnischen Staatlichkeit der letzten 20 Jahre lenkt.

3. Zum Aufbau des Buchs Das vorliegende Buch besteht aus vier umfangreichen inhaltlichen Kapiteln, in denen aus jeweils unterschiedlichen Richtungen der Ethnonationalismus sowie die Ethnopolitik und ihre Folgen für die bosnische Postkriegsstaatlichkeit analysiert werden. Das erste Kapitel (Kapitel II) stellt einen systematischen Versuch einer theoretischen Annäherung an diese Phänomene dar. Die theoretischen Erkundungen in diesem Abschnitt erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Systematisierung der Staatsdebatten bzw. der theoretischen Ansätze zum Ethnonationalismus sowie zur Bedeutung der externen Intervention für die Entwicklung des Nationalismus. Sie haben aber eine zweifache Funktion: Einerseits wird mit ihnen versucht, einen kritisch-reflexiven „Werkzeugkoffer“ (Michael Foucault) zu erstellen, der eine analytisch präzisere Annäherung an die Komplexität der Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina und an Relationen und gegenseitige Wechselwirkungen zwischen einzelnen Phänomenen und Strukturen der bosnischen Staatlichkeit möglich machen soll. Andererseits stellen die theoretischen Überlegungen eine vor dem Hintergrund des bosnischen Falles entwickelte Synthese der unterschiedlichen theoretischen Überlegungen zu Staatlichkeit, zum Ethnonationalismus sowie zur externen Demokratieförderung in ethnisch gespaltenen Gesellschaften dar, die aus theoretisch jeweils unterschiedlich motivierten Richtungen das Schlaglicht auf das selbe Phänomen, nämlich die Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit, werfen. Die vielfältigsten Aspekte der bosnischen Ethnonationalismen, der Ethnopolitiken und der Ethnostaatlichkeit in all ihren relevanten Dimensionen können nur dann adäquat analysiert werden, wenn neben den staatszentrier25


ten Ansätzen auch andere theoretisch-konzeptuelle Zugänge berücksichtigt werden, die die Transformationen der bosnischen Staatlichkeit seit dem Zerfall der jugoslawischen Föderation hin zur Demokratie und Marktwirtschaft betrachten, den Aufstieg und die Verfestigung des ethnischen bzw. ethnonationalen Prinzips berücksichtigen und vor allem auch dem externen Faktor (und insbesondere dem Prozess der Europäisierung) genügende Aufmerksamkeit schenken. Auf der Basis dieser theoretischen Ausführungen werden im Abschnitt II 2. jene Fragestellungen abgeleitet, die für die Analyse des Ethnonationalismus, der Ethnonpolitik und der Ethnostaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina relevant sind. Es wird hier versucht, die theoretischen Reflexionen über Ethnonationalismus, Staatlichkeit und externe Demokratieförderung in ethnisch gespaltenenen Gesellschaften zu einem Analyseraster zu verdichten und damit für die empirische Untersuchung zu operationalisieren. Im Kapitel III wird eine umfassende Analyse der geschichtlichen Bausteine der bosnischen Staatlichkeit und der Entwicklung der bosnischen nationalen Frage in ihrer Bedeutung für Post-Dayton-Bosnien vorgenommen. Dieser ausführlichere „Ausflug“ in bosnische moderne Geschichte ist für die Analyse des Post-DaytonBosnien unumgänglich, denn die Ereignisse der Zeit seit dem Beginn der 1990er Jahre bis heute können ohne ein tieferes Verständnis der historischen Entwicklung Bosniens und der konflikthaften Elemente in der bosnischen Geschichte nicht verstanden werden. Im heutigen Bosnien als einem Gebilde, in dem symbiotisch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen, gehört die bewusste und beliebige Verzerrung und Wahrnehmung der Geschichte durch seine Protagonisten, die ethnonationalistischen Politiker und die dazugehörigen Eliten, zum Alltag. Überlässt man ihnen die Geschichte, akzeptiert man auch ihre Macht. Durch die kritische Diskussion der sehr widersprüchlich verlaufenden Entwicklung der nationalen Frage in Bosnien im 19. und 20. Jahrhundert und durch eine Analyse der 1980er und 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts wird der Versuch einer Objektivierung der bosnischen Geschichte jenseits der heute dominanten verzerrten und nationalistisch motivierten Geschichtsdeutungen unternommen. Das Kapitel endet mit der Analyse der raschen Ethnonationalisierung der bosnischen Gesellscahft zwischen 1990 und 1992 und der totalen Zerstörung der bosnischen Staatlichkeit im Krieg zwischen 1992 und 1995. Das Ende des Krieges im Jahr 1995 bildet den Ausgangspunkt für den zentralen Abschnitt der vorliegenden Studie (Kapitel IV). Dieses Kapitel gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten Abschnitt (Kapitel IV 1) wird eine detaillierte Darstellung der grundlegenden Dokumente der Post-Dayton-Ära (des Washington- und des DaytonAbkommens) vorgenommen, mit denen – zumindest formal-rechtlich – die heutige Form der bosnischen Staatlichkeit begründet wird. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Analyse der Verfassung von Dayton gelegt. So geht es am Beginn des Abschnitts IV 2 vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten und Doppeldeutigkeiten der Daytoner-Verfassung sowie mit der impliziten Verankerung des ethnischen Prinzips im Annex 4 des Dayton-Abkommens. In

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diesem Abschnitt werden jene strukturellen Dilemmata des Dayton-Abkommens analysiert, die den Prozess der Implementierung des Dayton-Abkommens und damit auch der (Nicht)Normalisierung der bosnischen Staatlichkeit begleiten. Abschnitt IV 3. stellt dann eine systematische Phasenanalyse der wichtigsten Dimensionen der Entwicklung der bosnischen Staatlichkeit dar. Dabei wird der Fokus auf die Wirkung des Ethnonationalismus und die Ethnopolitik gelegt, wobei jene zentralen politischen, gesellschaftlichen sowie sozio-ökonomischen Entwicklungen der Zeit zwischen dem Ende des Krieges und 2009, die einen Einfluss auf die bosnische Ethnostaatlichkeit haben, eingehend analysiert werden. Der Untersuchungszeitraum wird in fünf Phasen eingeteilt, in denen der Prozess der Verfestigung des ethnonationalen Prinzips und die Rekonfigurationsprozesse der bosnischen Staatlichkeit betrachtet werden. Dabei wird insbesondere auf jene Entwicklungen und Prozesse Wert gelegt, die Aufschluß über die Wirkung des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik sowie über Rolle der Protektoratsstrukturen der internationalen Gemeinschaft auf die bosnische Staatlichkeit geben. Schwerpunktmäßig werden in diesem Kapitel jene Ereignisse, Entwicklungen und Tendenzen geschildert, die für die Suche nach tieferliegenden Gründen der Krisenhaftigkeit der bosnischen Staatlichkeit seit dem Ende des Krieges relevant sind. Abschnitt IV 3.5. bietet eine Analyse der verstärkten Aktualisierung des ethnonationalen Prinzips und der Krise der bosnischen Staatlichkeit seit 2006 bis heute (Herbst 2009). Die meisten internationalen und lokalen Autoren, Analytiker und Journalisten sind sich in der Einschätzung dieser Phase der bosnischen PostKriegsentwicklung einig: Die Entwicklungen der Jahre 2006 bis 2009 haben den Ethnonationalisten auf allen Seiten Auftrieb gegeben, sie haben jene kleinen und mühsam erzielten Fortschritte der ersten zehn Jahre nach Dayton vielfach zunichte und aus Bosnien ein Land der „permanenten Krise“ gemacht, das in seiner Entwicklung hinter all die anderen Staten des Westbalkans zurückfällt. In diesem Abschnitt werden – ausgehend von den Erkentnissen in den vorherigen Kapiteln – jene Ereignisse und Entwicklungen analysiert, die die Zeit seit dem ethnonationalistisch dominierten Wahlkampf des Jahres 2006 bis heute geprägt haben. Das letzte Kapitel der vorliegenden Studie stellt eine zusammenfassende und vertiefende Analyse der wichtigsten Aspekte und Phänomene der bosnischen Ethnopolitik und Ethnostaatlichkeit dar. Hier werden zunächst einmal die wichtigsten Elemente in der Entwicklung Bosniens zu einer spezifischen Form der durch den Ethnonationalismus und die Ethnopolitik bestimmten Staatlichkeit dargestellt. Danach folgt eine zusammenfassende Analyse der sozioökonomischen Prozesse in Post-Dayton-Bosnien, bei denen ein besonderer Schwerpunkt auf die informellen Strukturen in der bosnischen Gesellschaft und ihren Einfluss auf die Staatlichkeit gelegt wird. In den nächsten beiden Abschnitten (Kapitel V 3. und V 4.) wird die Rolle der Akteure der Ethnopolitik sowie die Rolle der internationalen Gemeinschaft und des Protektorats in Bosnien und Herzegowina auf die Begründung der bosnischen Ethnostaatlichkeit analysiert. Anschließend wird die Frage behandelt, welche Wirkung der Prozess der Europäisierung (seit 2000) auf die Rekonfiguration der

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bosnischen Ethnonationalismen und auf bosnische Staatlichkeit gehabt hat und weiterhin hat. Dabei wird vor allem dargestellt, wie sich Ethnonationalismus und Ethnopolitik in Bosnien diskursiv an das Europäisierungsparadigma anpassen und damit den gesamten Europäisierungsprozessen negativ beeinflussen und konterkarieren. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob und welche Alternativen es zur derzeitigen Form der bosnischen Ethnostaatlichkeit gibt. Im Kapitel VI werden abschließend die wesentlichen Ergebnisse der Studie zusammengefaßt.

4. Objektivierung des objektivierenden Subjekts – Anmerkungen zur persönlichen Zugang zum Thema Für eine Untersuchung der bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit, zu deren Entwicklung in den letzten 20 Jahren es so viele widersprüchliche Einschätzungen und Beurteilungen gibt (siehe weiter unten), ist die Frage nach der persönlichen Beziehung zum Untersuchungsgegenstand von entscheidender Bedeutung. Einen relevanten Ausgangspunkt für die Begründung der Bedeutung eigener Lebenswelten für die Analyse liefert das durch Edmund Husserl vertretene Verständnis der Phänomenologie. Für seine Begründung der Phänomenologie ist die Erkenntnis, dass alle Wissenschaft in der Lebenswelt gründet, entscheidend.16 Einen wichtigen Ausgangspunkt für die vorliegende Analyse der bosnischen Ethnonationalismen und Ethnopolitiken und der krisenhaften bosnischen Staatlichkeit bildet daher neben dem kritischen Umgang mit Begriffen die eigene, subjektive Erfahrung im Umgang mit Bosnien und dem Erleben Bosniens auf unterschiedlichsten Ebenen. Die erfahrbare Lebenssituation, eigene Lebenswelten und Eindrücke von einem bestimmten Phänomen sind laut Seiffert Ausgangspunkte für eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Phänomenologie.17 Diese Erfahrungen werden im Sinne einer phänomenologischen Methodologie in einer konkreten Analyse nicht systematisch verarbeitet, sondern „fungieren als Beispiele, wobei ein einziges gut gewähltes Beispiel zur Erklärung vollkommen ausreicht.“18 Ein wichtiges Kriterium für intersubjektive Überprüfbarkeit und damit auch Nachvollziehbarkeit der Analyse ist dabei die Zustimmung anderer mit ähnlichen Erfahrungen und einer breiten Einsicht in die Materie ausgestatteten Wissenschaftler und Denker.

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Vgl. Roland Hitzler/Thomas S. Eberle: Phänomenologische Lebensweltanalyse, in: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Rainbek bei Hamburg 2000, S. 109-118 Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 9. Auflage, München 1991, zit.n. Dieter Nohlen: Phänomenologie/Phänomenologische Methode, in: Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon der Politik, Band 2: Politikwissenschaftliche Methoden, Hg. Von Jürgen Kriz/Dieter Nohlen/Rainer Olaf-Schultze, München 1994, S. 295-297 Ebd.


In Anlehnung an diese allgemeinen Prinzipien einer phänomenologischen Annäherung ist also die subjektive Erfahrung in und mit Bosnien als eine Grundvoraussetzung für das Erfassen der Widersprüchlichkeiten der bosnischen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse zu verstehen. Gleichzeitig werden die Reflexionen über die eigenen Erfahrungen und die durch Nähe zum Untersuchungsgegenstand subjektiv geprägten Einsichten in die Phänomenologie von Post-DaytonBosnien durch die Stützung auf allgemein-theoretische Konzepte und andere wissenschaftliche Deutungen von Post-Dayton-Bosnien von Sachkundigen mit ähnlichem Erfahrungshorizont vertieft. Der Wechsel von Nähe und Distanz soll eine nüchterne und um Objektivierung bemühte Schilderung und Analyse von Ereignissen und Entwicklungen in Bosnien nach Dayton möglich machen. Die Untersuchung ist angeregt und angeleitet von der von Pierre Bourdieu verlangten „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“, die der „narzisstischen Eitelkeit weder etwas schuldet noch konzediert“.19 „Die Objektivierung des objektivierenden Subjekts lässt sich nicht umgehen“, schreibt Bourdieu, und skizziert die Determinanten eines solchen Bemühens: „Nur indem es die historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens analysiert (...) vermag das wissenschaftliche Subjekt seine Strukturen und Neigungen ebenso theoretisch zu meistern wie die Determinanten, deren Produkt diese sind, und sich zugleich das konkrete Mittel an die Hand zu geben, seine Fähigkeiten zur Objektivierung noch zu steigern.“20

Die explizite Offenlegung der eigenen Perspektive ist also der erste und entscheidende Schritt beim Versuch der „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“. Dass ich dabei aus der Perspektive der Daytoner Staatlichkeit und von ihrem ethnonationalen Fundament ausgehend de facto gar nicht existiere und daher in der PostDaytoner Logik als Subjekt nicht vorhanden bin, macht die Objektivierung des politisch nicht existierenden Subjekts noch schwieriger oder spannender. Als Kind aus einer sogenannten „Mischehe“ zwischen zwei Menschen nominell unterschiedlicher aber im Sozialismus längst abgelegter Religionszugehörigkeit und damit „ethnischer Herkunft“ existiere ich als politisches Subjekt in Post-Dayton-Bosnien nicht. Die Ethnopolitiker fühlen sich zu meinem eigenen Glück nicht dazu berufen, mich zu vertreten. Die auf ethnische Kollektive zugeschnittene Verfassung sieht mich nicht vor, als Nicht-Serbe, Nicht-Bosniake und Nicht-Kroate sondern Bosnier und Bürger von Bosnien und Herzegowina habe ich keine politische Vertretung, kann nicht ins bosnische Präsidium gewählt werden – bin also als politisches Subjekt nicht existent. Bestenfalls werde ich auf eine im ethnopolitischen Diskurs und auch verfassungspolitisch sonderbare Minderheit reduziert, die als Überbleibsel das Zeugnis einer Zeit ist, die alle (ver)leugnen, so als ob sie nie existiert hätte. Als ein solches Individuum, das in den 1980er Jahren im jugoslawischen Sozialismus sozialisiert und humanistisch erzogen wurde, gleichzeitig durch den Krieg und die Flucht und 19 20

Pierre Bourdieu: Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, S. 10 Ebd.

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durch die Ausbildung in einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft meine Sozialisation erfuhr, konnte ich nur als kritischer Außenseiter überleben, ausgestattet mit einer übergroßen Skepsis für all die Manipulationen der Herrschenden, Marginalisierungen der Schwächeren und die diskriminierenden und selbstbezogenen Praktiken der ex-jugoslawischen und bosnischen Ethnonationalisten „alter“ und „neuer“ Provenienz. Unter „Alten“ verstehe ich all diejenigen, die bis gestern glühende Kommunisten und Anhänger der Tito-Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ waren und die sich in einem kollektiven Akt der Metamorphose zu den ewigen Beschützern ihrer eigenen ethnischen Gruppe, ihrer Nation, gewandelt haben. Eine der Begleiterscheinungen dieser Metamorphose ist auch der Krieg in Bosnien und Herzegowina, der einen neuen Rahmen für die sogenannten „Neuen“ geschaffen hat. Die „Neuen“, in der Regel die jüngeren Menschen, sind groß geworden in Zeiten der Krise und der Wieder- und Neuerfindung des Ethnonationalen, das zum ausschließlichen Bezugsrahmen für ihr Handeln und Wirken geworden sind. Die „Alten“ als Anführer und die „Neuen“ als treue Begleiter und Ja-Sager gestalten das heutige Bosnien. Neben den „Alten“ und „Neuen“ im obigen Sinne gibt es in Bosnien auch noch die „Anderen“. Diese „Anderen“, von denen es in Bosnien und in anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien leider zu wenige gibt, und zu denen ich mich zähle, konstituieren sich nicht als Gruppe, sondern als kritisch und anders denkende Menschen, die Kraft ihres Nicht-Einverständnisses mit dem Zustand des Politischen heute den Mainstream im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten herausfordern möchten. Wir, die Anderen, sind – wie Asim Mujkić im Vorwort zu seinem Buch „Wir, Bürger von Ethnopolis“ bemerkt – zu ironisch, um uns von den „zynischen Mechanismen der neuenstandenen nationalistischen Mächte“ einspannen zu lassen, was zugleich „unser Glück und unser großes Verdammnis“21 darstellt. Wir möchten dem ethnonationalen Diskurs der einheimischen Eliten, aber auch dem oftmals zynischen Diskurs vieler Vertreter der internationalen Gemeinschaft (im Jargon „Internationals“ genannt), durch konsequente und begründete Analyse und Kritik etwas entgegensetzen, was auf die Möglichkeit einer andersgearteten, menschlicheren und menschenwürdigeren Politik hindeutet, einer demokratischen und liberalen Politik, in deren Mittelpunkt der Mensch und Bürger steht und wo das Politische nicht nur dem Machterhalt dient und somit zum Selbstzweck verkommt. Es gilt also, die Politik anders zu denken und ihr damit Sinn zu geben in einer Zeit, in der – nicht nur in Bosnien – die Klagen über die Sinnlosigkeit der Politik nicht verstummen. Hiezu Hannah Arendt in ihrer Fragmentschrift zur Einführung in die Politik zur Frage nach dem Sinn der Politik: „Auf die Frage nach dem Sinn von Politik gibt es eine so einfache und in sich so schlüssige Antwort, dass man meinen möchte, weitere Antworten erübrigten sich ganz und gar. Die Antwort lautet: Der Sinn von Politik ist Freiheit.“22 21 22

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Asim Mujkić: Mi, građani etnopolisa, Sarajevo 2007 Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 28


Damit die Politik in Bosnien wieder ihren Sinn bekommt, muss ein anderes Bosnien – ein Bosnien entgegen dem herrschenden ethnopolitischen Wahnsinn – gedacht werden, müssen die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen des DaytonerBosniens seziert, analytisch zergliedert werden, Dinge beim Namen genannt und Verwirrungen und Irrwege der ethnonationalen Gegenwart offengelegt werden. Der Versuch des Denkens und Analysierens abseits der ethnonationalen Logik und der damit einhergehenden neuen Epistomologie, die sich in den letzten 20 Jahren in Bosnien breit gemacht hat, impliziert also auch eine methodologische „Querpositionierung“. „Quer“ hat hier einen positiven Gehalt und bezieht sich auf den Versuch der Distanzierung von empirischer Objektivierung und unhinterfragter Detailverliebtheit in der Darstellung der bosnischen Ethnonationalismen und damit auch der Wirklichkeit des Post-Dayton-Bosniens. Versuche der detailgetreuen Beschreibung und Abbildung des ethnonational geprägten Post-Dayton-Bosnien führen in der Regel dazu, dass man seine Kategorien übernimmt und schlussendlich von der schieren Macht und Dominanz des allumfassenden ethnonationalen Paradigmas überwältigt ist, was nur einen Schluss nahelegt: Bosnien heute ist und kann nur jenes ethnisierte Bosnien sein, in dem jegliche geschichtliche und andersgeartete Erfahrung keinen Platz hat, und in dem – realpolitisch gesprochen – nur die Fortsetzung und konsequente Vertiefung des ethnischen Konkordanzmodells, das dann irgendwann zu einer funktionierenden Staatlichkeit führen soll, als Zukunftsoption in Frage kommt. Damit kapituliert man aber kampflos und überläßt das politische und gesellschaftliche Feld den Apologeten des Ethnonationalen. Um einer solchen „Kapitulation“ vorzubeugen, ist eine selbstreflexive und kritische Haltung und Schärfung des analytischen Begriffsapparats notwendig. Ein kritischer Standpunkt in Bezug auf die realen Auswirkungen des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik ist dabei von besonderer Bedeutung. Die Kritik wird dabei als Kunst der Auflehnung gegen die Art des Regierens bestimmt, als „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“.23 Eine solche Kritik gegen die Art des Regierens ist etwas, was in Post-Dayton-Bosnien in einer Mischung aus Desinteresse, Apathie und alltäglichen Überlebenskämpfen still und leise verdrängt und als Praxis an den Rand der totalen Marginalisierung gebracht wurde. Warum ist aber eine solche auflehnende und ablehnende Kritik und damit verbunden der Ausdruck des Unwillens, so regiert zu werden, notwendig? Weil ihre Alternative eine Nivellierung aller Denkweisen und eine ethnonationale Einfältigkeit par excellence darstellt, in der das Land auf lange Zeit hinaus ein sprichwörtlicher „schwarzer Fleck“ des für viele ohnehin schon sehr „schwarzen Balkans“ bleiben würde. Natürlich ist eine solche Bestimmung der Kritik – wie Foucault betont24 – nur eine erste und unpräzise Bestimmung 23 24

Michel Foucault 1990, zit.n. Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 348 Dazu Foucault: „Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig als ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu misstrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine mo-

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des Begriffs, den hier angestrebten Zweck der kritischen Hinterfragung der ethnonational geprägten bosnischen Gegenwart erfüllt sie allemal.

5. Zum Material der Untersuchung Die Ergebnisse dieser Studie stützen sich zunächst einmal auf die im vorigen Kapitel begründete eigene lebensweltliche Erfahrung und die stete Reflexion der eigenen Position als Forscher im Umgang mit dem Gegenstand der Studie. Weiters wurden die Analysen vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Erkenntnisse unternommen, die der Autor durch zahlreiche Forschungsaufenthalte, Gespräche mit Menschen in Bosnien sowie mit zahlreichen lokalen und internationalen politisch Verantwortlichen, Vertretern der NGO-Szene, Diplomaten und auch Wissenschaftlern, Experten und Journalisten in den Jahren zwischen 1998 und heute gesammelt hat. All diese Informations- und Hintegrundgespräche dienen in der Untersuchung als Sekundärquellen und stellen nicht den methodischen Schwerpunkt der Untersuchung dar. Zu eigenen Forschungsaufenthalten, unterschiedlichen Ereignissen und Begebenheiten im Verlauf der letzten zehn Jahre sowie zu Gesprächen existieren umfangreiche Notizen. Für die Studie wurden weiters zahlreiche Primärdokumente wie Verfassungstexte, Regierungsunterlagen, Stellungnahmen sowie offizielle Dokumente der politischen Parteien und anderer interner und externer Akteure inhalts- und diskursanalytischen25 Analysen unterzogen. Zusätzlich dazu wurden umfassende und intensive Auswertungen der Printmedien und Onlinequellen auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch unternommen. Für die Analyse wurden die Tageszeitungen Oslobođenje, Nezavisne Novine, Glas Srpske, Dnevni Avaz, Danas, Politika, Jutarnji List, Vijesnik sowie Slobodna Dalmacije verwendet. Weiters wurden die Wochenzeitschriften Dani, Slobodna Bosna, Start, Ljiljan, Reporter, Danas, Feral Tribune, NIN und Vreme sowie journalistische Onlineservices von Radio Slobodna Evropa und B92 herangezogen.

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ralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise um diesen Preis regiert zu werden. Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden.“ (Vgl. Ebd. 348) In der vorliegenden Studie wird von einem pragmatischen Diskursbegriff ausgegangen, der gesellschaftlich und politisch relevante (Be-)Deutungen innerhalb des Themenfeldes in ihrer verhandelbaren und prozesshaften Form umfasst und auf das ihnen zugrunde liegende Geflecht aus Interessen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen verweist. In der Studie wird der Diskursbegriff nach Michael Foucault verwendet, der den Diskurs als ein Feld der gesellschaftlichen Praktiken betrachtet, in dem die Machtbeziehungen die Dynamik des Diskurses bestimmen und dadurch auch reale gesellschaftliche Verhältnisse konstruieren. (Vgl. u.a. Michael Foucault: Die Ordnung des Diskurses, München 1974 sowie zum Diskursbegriff auch Siegfried Jäger: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Reiner Keller u.a. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Methoden und Theorien, Opladen 2001, S. 81-112)


Zusätzlich zu diesen Primärquellen in den Sprachen der Region wurden auch Dokumente, Unterlagen, Analysen und Studien aus folgenden Quellen ausgewertet: Office of the High Representative (www.ohr.int), International Crisis Group (www.crisisweb.org), European Stability Initiative – ESI (www.esiweb.org), Transitions Online (www.tol.cz), Radio Slobodna Evropa (www.danas.org) sowie von zahlreichen lokalen und internationalen Organisationen und NGOs, die in Bosnien tätig sind/waren bzw. sich mit Bosnien auseinandersetzen. Eine wichtige Quelle waren auch die Studien und vor allem auch die regelmäßig durchgeführten Meinungsumfragen des UNDP Bosnien (abrufbar unter www.undp.ba). Für die vorliegende die Analyse wurden die wesentlichen internationalen (auf Englisch und Deutsch) und regionalen Publikationen (auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) zu Bosnien und Herzegowina gelesen, ausgewertet und kritisch eingearbeitet. Die Quellen aus dem Bosnischen/Kroatischen/Serbischen wurden vom Autor frei übersetzt. In der vorliegenden Arbeit stütze ich mich an einigen Stellen zum Teil auf eigene bereits veröffentlichte Studien zum Themenbereich. Die betreffenden Stellen wurden für diese Studie überarbeitet und aktualisiert bzw. argumentativ weiterentwickelt.

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