Moralisierung der M채rkte Neue ohnMacht des Konsumenten Die Dokumentation
bayreuther dialoge
Die Dialoge sind vorbei! Es leben die Dialoge!
Grußwort
Alljährlich zu Beginn des Winter-Semesters finden im Herzen Deutschlands die Bayreuther Dialoge des Studiengangs Philosophy & Economics (P&E) statt. Die Themen könnten vielfältiger nicht sein: so ging es in den vergangenen Jahren um Solidarität (2004), das Modell Deutschland (2005), Leistung (2006) und Risiko (2007). Themen, die – wie wir Lehrende es gerne ausdrücken – wissenschaftlich mit analytischer Grundsätzlichkeit an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie behandelt werden sollten. Themen, die aber auch jenseits von wissenschaftlichem Impetus gesellschaftlich von Interesse sind und daher übersetzt werden müssen in eine disziplinenübergreifende und verständliche Sprache. Wir möchten mit den Bayreuther Dialogen eine öffentliche Diskussions-Plattform für zukunftsrelevante Fragen bieten, Themen setzen und Denkanstöße geben. In diesem Jahr ging es – wie könnte es aktueller sein – um die Moralisierung der Märkte. Zwei Tage lang haben sich vor dem Hintergrund der weltweit kritischen Entwicklungen ca. 150 TeilnehmerInnen und Teilnehmer mit Fragen zur Konsumentensouveränität befasst, über die Rolle der Medien und der NGOs diskutiert und nach den Werten und dem Charakter von Führungspersönlichkeiten gesucht. Der Erfolg der Veranstaltung ist aber wohl kaum der Finanzkrise allein zu schulden, sondern das Ergebnis des freiwilligen Engagements vieler. Zu nennen sind da insbesondere die Studierenden, fast ausnahmslos Erstsemester! Über ein Jahr lang haben sie sich auf die Dialoge vorbereitet. Wir schätzen ihr Engagement und wissen, dass sie unser Kapital sind. Deshalb geben wir ihnen maximale Freiheitsgrade bei der Planung und Durchführung der Dialoge – es ist ihre Veranstaltung! Und die genießt höchste Achtung! 2|3
Dass wir alle dabei viel lernen, gehört zur menschlichen Seite der Dialoge. Man könnte sagen, die Studierenden spiegeln eine „Neue Junge Professionalität“ wider, die – und das schreiben uns die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihren Rückmeldungen – exzellent ankommt. Mit der vorliegenden Dokumentation finden die Dialoge ihren Abschluss. Geld bekommt übrigens keiner: weder unsere Referenten noch das Organisationsteam. Was lange Zeit für das Bayreuther Festspielorchester galt, das jedes Jahr ohne Gage viele Menschen begeistert hat, soll auch für uns ein Markenzeichen sein: die Bayreuther Dialoge sind eine honorarfreie Zone und stellen sich in den Dienst der Sache. Sponsoren unterstützen uns, nicht nur einige weltweit bekannte Unternehmen, sondern auch viele lokal ansässige Firmen schätzen die Arbeit der Studierenden. Mir bleibt daher nur die Gelegenheit, mich bei all den Beteiligten vor und hinter den Kulissen zu bedanken, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen. Das Menschliche wird übrigens auch auf der Agenda der nächsten Bayreuther Dialoge stehen, auf die Sie ich jetzt schon aufmerksam machen möchte: Notieren Sie sich für den 7. und 8. November 2009 „Agenda Humanitas“ in Ihren Kalender und lassen wir uns alle überraschen! Die ersten Gespräche mit dem neuen Organisationsteam 2009 lassen Spannendes erwarten. Weil die Dialoge aus dem Herzen unseres Studiengangs kommen, sind sie einzigartig und lebendig zugleich. Ein P&E-Erlebnis! Wie ein Kollege einmal trefflich formulierte: „P&E ist gar kein Studiengang – es ist eine ganze Welt!“ Vielleicht – so mag der eine oder andere Eingeweihte hinzufügen wollen – auch noch ein kleinen wenig mehr!
Alexander Brink Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik der Universität Bayreuth und betreuender Professor der Bayreuther Dialoge
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Grußwort Prof. Dr. Dr. Alexander Brink
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Resümee der Bayreuther Dialoge 2008 Die Projektleitung
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Die Moralisierung der Märkte Prof. Dr. Nico Stehr
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Der Konsument - Ein mündiger Bürger? Rainer Brüderle
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Die Moral der Medien - Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit Bodo Hombach
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Vorbildspreis der Bayreuther Dialoge
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Lohnt sich Moral im Geschäft? Der Stellenwert von Moral für nachhaltigen Erfolg? Dr. h. c. Helmut O. Maucher
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Festessen
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Worldcafé
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Wer bringt die Moral zurück in die Märkte? Podiumsdiskussion
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Die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums und die Bürde der Moral Christoph M. Paret
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Partner der Bayreuther Dialoge 2008
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Vom Wesen der Verantwortung Dr. Alexandra Hildebrandt
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Das Team der Bayreuther Dialoge
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Es ist uns gelungen, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, die sich messen kann mit den ganz groĂ&#x;en Symposien. Projektleitung der Bayreuther Dialoge 2008
bayreuther dialoge
Moralisierung der Märkte
Am Morgen des 24. Oktober 2008, kurz vor neun Uhr. Als die dreißig Mitglieder unseres Teams, ungewohnt formal gekleidet, mit konzentrierten Gesichtern, mit Kartons und Stühlen in den Händen die Vorbereitungen abschließen, wurde uns plötzlich bewusst, dass sich nun zwölf Monate Arbeit ihrem Ende und gleichzeitigen Höhepunkt zuneigen. Die fünften Bayreuther Dialoge würden in wenigen Minuten beginnen und das Ergebnis von einem Jahr Arbeit würde erlebbar werden. Während das Team unter der Federführung des Ressorts Operatives hochkonzentriert alles für den Empfang der ersten der fast 200 angemeldeten Gäste bereitete, zogen wir uns als Projektleiter zurück, unserem Moderationsmanuskript den letzten Schliff zu geben. Unsere Anspannung war in dem stillen Hinterzimmer fast hörbar.
Und dann ging es los. Um Punkt neun öffneten sich die Tore des Tagungszentrums und innerhalb von einer Stunde füllten sich Empfangsbereich und Saal. Um zehn Uhr standen wir zum ersten Mal auf der Bühne. Als die ersten unserer Begrüßungsworte über das Mikrofon durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum klangen, war alle Nervosität auf einen Schlag verschwunden. Die Veranstaltung zog uns gemeinsam mit Publikum und Referenten in ihren Bann. Unserer Eröffnung des ersten Veranstaltungstages folgte der Eröffnungsdialog mit Herrn Prof. Bernhard Herz, stellvertretendem Präsidenten der Universität Bayreuth, und Herrn Thomas Ebersberger, dem zweiten Bürgermeister der Stadt Bayreuth. Sie setzten die Bayreuther Dialoge als Ver8 |9
anstaltung von Studierenden des Studienganges „Philosophy & Economics“ der Universität Bayreuth in der Stadt Bayreuth in den richtigen Kontext. Den Reigen der ohne Ausnahme höchst interessanten und lehrreichen Vorträge eröffnete standesgemäß der angesehene Soziologe Prof Dr. Nico Stehr, dessen Buch „Die Moralisierung der Märkte“ für die fünften Bayreuther Dialoge Pate gestanden hatte. Nach Professor Stehr, der den ersten Teil des Titels der Veranstaltung definierte, folgte Herr Rainer Brüderle. Der stellvertretende Bundesvorsitzender der FDP rückte mit seinem Vortrag nun die Macht des Konsumenten, Kern des Untertitels, in den Vordergrund. Nach der wissenschaftlichen Fundierung des beobachtbaren Trends der Moralisierung der Märkte durch Herrn Prof. Stehr widmete sich Herr Brüderle nun der Rolle des konsumierenden Bürgers in diesem Trend zu. Der Konsument habe, so Herr Brüderle, sofern er in seiner Freiheit durch den Staat nicht eingeschränkt werde, die Chance, als mündiger Verbraucher sogar Triebfeder des Trends zu sein. Voraussetzung sei allerdings, dass der Konsument auch bereit sei, sich die dafür nötigen Informationen zu beschaffen. Die Mittagspause brachte eine erste Gelegenheit für die Teilnehmer, das soeben gehörte zu reflektieren und sich darüber auszutauschen. Die kurze Verschnaufpause bot uns die Gelegenheit, ein erstes vorläufiges Resümee des Veranstaltungsauftakts zu ziehen. Die vielen heiteren Gesichter, an den Stehtischen oder am leckeren Buffet in angeregte Gespräche vertieft, schienen darauf hinzudeuten, dass wir die ersten Stunden der fünften Bayreuther Dialoge durchaus gut gemeistert hatten. Das Team arbeitete konzentriert, jedoch ob des erfolgreichen Beginns spürbar entspannter als noch in den frühen Morgenstunden. Dann läutete die Glocke zur zweiten Runde, der Workshopphase. Nun kam wortwörtlich Bewegung in das Tagesprogramm. Vor dem Veranstaltungsgebäude teilte sich das Publikum in knackiger Kälte in sechs Workshopgruppen auf, was erstaunlich reibungslos gelang. Ohne größere Zeitver-
luste konnten die Workshops beginnen. Dr. Alexandra Hildebrandt, Leiterin Gesellschaftspolitik der Arcandor AG, nahm gemeinsam mit den Teilnehmern die individuellen Verantwortung jedes Einzelnen für eine Umgestaltung der Märkte in den Blick und erklärte „Die Andersmacher – Wie die neue Ökologiebewegung die Wirtschaft verändert“. Michael Kern, Vorsitzender der Geschäftsführung der A.T.U GmbH & Co. KG, fragte nach der neuen Rolle des Kunden: „Will der Kunde wirklich König sein? - Was ein Automobil-Konzern erreicht, wenn er den Kunden wert schätzt“. Währenddessen testete Katrin Hundhausen, Marketing-Leiterin für Deutschland der innocent GmbH, diesen Ansatz und entwickelte gemeinsam mit den Workshopteilnehmern „Themenansätzen für eine deutsche innocent Nachhaltigkeits-Promotion“. Martin Sambauer, Geschäftsführer der „Das Integral - Büro für Inszenierung und Kommunikation“ GmbH, beleuchtete „Die Scham der Gestalter - Perspektiven für eine neue Art der Werbung“. Dr. Ingo Schoenheit, Geschäftsführer des Instituts für Markt-Umwelt-Gesellschaft, fragte „Die moralische Qualität von Produkten - Das Zukunftsthema des Marketing?“. Dr. Holger Schlageter, Geschäftsführer des Schlageter-Instituts, erkundete hingegen mit den Teilnehmern seines Workshops „Macht und Moral – Wie menschliche Führung gelingen kann“. Dr. Ulrich van Gemmeren, Geschäftsführer des MADE-BY Label Deutschland, stellte unterdessen einen Ansatz zur Moralisierung des Modemarkte vor: „Des Kaisers neue Kleider - MADE-BY bringt Transparenz und Nachhaltigkeit in die Mode“. Verschiedenste Aspekte der „Moralisierung der Märkte“ wurden so von unterschiedlichsten Standpunkten aus intensiv beleuchtet. Die relativ geringe Gruppengröße und die Durchmischung der Teilnehmer ermöglichten einen direkten und regen Dialog zwischen Teilnehmern und Workshopleitern. Die gute Auslastung der sechs Workshops bestätigte uns in der Auswahl der Workshopthemen und -leiter. Für das Team bedeutete die Workshopphase eine kleine Verschnaufpause. Viele von uns nutzen daher Gelegenheit, selbst in die Rolle des Teilnehmers zu schlüpfen und sich einer der sechs Gruppen anzuschließen. Nach einer Kaffeepause als Überleitung setzte Herr Bodo Hombach, Chef der 10 | 11
WAZ-Mediengruppe, mit seinem Vortrag die Veranstaltung fort. Herr Bodo Hombach reflektierte rhetorisch höchst beeindruckend die Rolle der Medien in der Moralisierung der Märkte. Er stellte die Frage nach der Moral der Medien und schilderte eindringlich sich im den Zwiespalt zwischen Profitorientierung und Qualitätsanspruch, in dem sich Medienmacher unserer Zeit befinden. Im Existenzkampf des eigenen Mediums in einem hart umkämpften Markt, im Versuch einer veränderten Leserschaft gerecht zu werden, im Ringen mit den eigenen Qualitätsansprüchen müsse dieser immer neu sein Gleichgewicht suchen. Über der Bewältigung all dieser Herausforderungen dürfe er aber die Aufgabe der Medien in unserer Gesellschaft nicht vergessen, aus der sich ihre und seine Existenzberechtigung erst ableitet: als vierte Säule der Demokratie ist es an ihnen, Transparenz zu schaffen und so eine Kontrolle der Macht zu ermöglichen. Auf der Suche nach Möglichkeiten, wie den Medien eine neue Balance zwischen Wirtschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit und Qualität gelingen könnte, bot Herr Hombach zwar kein Patentrezept, formulierte jedoch einige Gebote als Orientierungshilfen. Herrn Hombach folgte Herr Prof. Dr. Dr. Hemel, der die moralische Integrität von Systemen und Akteuren, als den goldenen Mittelweg, als Möglichkeit der Erreichung einer win-win-Situation zwischen ethischer und ökonomischer Wertschöpfung aufzeigte. Werte wie Aufrichtigkeit und Integrität seien es, die auch Führungskräften in Unternehmen ermöglichten, ihre unternehmerischen Ziele zu verwirklichen und gleichzeitig das Vertrauen von Mitarbeitern und Konsumenten zu stärken. In einer „Aufwärtsspirale des Vertrauens“ würde schließlich ethisch einwandfreies Handeln unternehmerischen Erfolg bedingen. Unser „Anwalt des Publikums“ Julian Langer führte im Anschluss an Herrn Hemels Vortrag ein weiteres Mal souverän und stellvertretend für die Zuschauer die Diskussion mit dem Referenten. Nach einer letzten, kurzen Pause läutete die Glocke zum Höhepunkt des Tages, dem Vortrag des ehemaligen Nestlé-Chefs und derzeitigen Ehrenpräsidenten der Nestlé AG, Helmut Maucher, mit anschließender Verleihung des
Bayreuther Vorbildspreises. In seiner Ansprache, in die er Jahrzehnte der Berufserfahrung an der Spitze eines der größten und bedeutendsten Konzerne der Welt einfließen ließ, unterstrich Herr Maucher die Forderung seines Vorredners nach einer neuen Unternehmenskultur und einer neuen Art der Unternehmensführung. Führungskräfte, deren einziges Ziel die kurzfristige Maximierung des Bilanzerfolgs sei und denen ansonsten alles fehle, was richtige Führung ausmache, seien verantwortlich für die Finanzkrise und andere Ausflüsse einer wahlweise moralfreien beziehungsweise unmoralischen Wirtschaft. Charakter und langfristiges Denken seien diejenigen Fähigkeiten, die wieder Einzug erhalten sollten in die Führungsetagen der Konzerne. Durch eine Ausbildung, die Führungskräfte mit eben solchen Eigenschaften hervorbringe, so Herr Maucher, seien eine nachhaltigere, eine ethischere Wirtschaft viel eher erreichbar als mit „Corporate Social Responsibility“ (CSR), „Corporate Governance“ und „Compliance“. Nach dem anschließenden, spannenden Schlagabtausch zwischen Referent und Anwalt des Publikums würdigte der Präsident der Universität Bayreuth, Herr Prof. Dr. Helmut Ruppert, die Verdienste und die Vorbildlichkeit Helmut Mauchers und überreichte ihm anschließend den vierten Bayreuther Vorbildspreis. Mit der Preisverleihung endete der erste Teil der fünften Bayreuther Dialoge und alle gingen zum gemütlichen Teil über: das abendliche Festessen fand im Restaurant Aktienkeller in der Bayreuther Innenstadt statt. Busse und unsere eigens eingesetzten Chauffeure gewährleisteten einen warmen und trockenen Transfer von Gäste und Referenten.
Und bei deftigem fränkischen Essen und in urgemütlichem Ambiente neigte sich auch für uns Projektleiter dieser erste Tag schließlich seinem Ende zu.
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Einige Gäste führten noch bis tief in die Nacht intensive Gespräche in der gemütlichen Atmosphäre des Aktienkellers. Trotzdem füllte sich der Saal auch am nächsten Morgen wieder recht schnell, nachdem sich die Tore der Bayreuther Dialoge 2008 zum zweiten Mal geöffnet hatten. Um kurz nach neun Uhr eröffnete Herr Prof. Dr. Elshorst, Mitbegründer und ehemaliger Vorsitzender von Transparency International (TI), einer Organisation mit dem Ziel der Korruptionsbekämpfung, den Tag mit seinem Vortrag. Er führte den Zuhörern die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beim Versuch, Moral in den Markt zu bringen, vor Augen. Herr Elshorst wies dabei vor allem auf die vielfältigen Einflussmöglichkeiten hin, die NGOs zur Verfügung stünden, nutzten sie die Möglichkeiten der weltweit vernetzten Kommunikationssystemt und schlössen sie Koalitionen mit der Zivilgesellschaft, aber auch mit einigen der „alten Gegenspieler“ aus Politik und Konzernen. So ermögliche es die Zusammenarbeit mit den Compliance- oder CSR-Abteilungen der Unternehmen bspw... auch, konzernintern Druck auszuüben, sollte sich Fehlverhalten des Unternehmens an Stellen der Produktionskette zeigen. Insgesamt zeichnete er dabei ein moderat optimistisches Bild im Hinblick auf eine Moralisierung der Märkte und eine nachhaltige Implementierung dieses Trends auch unter Mitarbeit der NGOs. Mit dem World Café, folgte nun die Premiere eines neuen Veranstaltungselements auf den Bayreuther Dialogen. Ein „World Café ist ein einfacher und wirkungsvoller Dialogprozess für große Gruppen, um im Rahmen einer öffentlichen Reflexion Fragen zu erkunden, die alle bewegen, um gemeinsame Visionen zu entwickeln, um zu kollektiven Entscheidungen zu finden und um koordinierte Aktivitäten zu planen und einzuleiten, kurz: um die kollektive Intelligenz von Gruppen unterschiedlichster Größe zugänglich zu machen“. Diese doch recht vielversprechende Beschreibung reizte uns, das World Café als neues Element zur Stärkung des Dialogcharakters in unserem Symposium einzuführen. Unter Anleitung des erfahrenen World Café Moderators Herrn
Ulrich Soeder bildeten alle Anwesende - Gäste, Referenten und Organisationsteam – Gesprächsgruppen à vier Personen. Geleitet durch die Fragen reflektierten und diskutierten in diesen Sitzgruppen mit wechselnder Zusammensetzung Jung und Alt, Praktiker und Theoretiker über das Leitmotiv der Moralisierung der Märkte. Parallel zum gedanklichen Fortschreiten der Workshopteilnehmer, immer wieder gespeist durch deren Eingaben, entwickelte Frau Sabine Soeder, Ehegattin des Moderators, die Visualisierung des World Cafés. Die Art und Weise wie ausnahmslos alle Teilnehmer des Symposiums eingebunden wurden in eine hochkonzentrierte, interaktive Relfexion und Aufarbeitung des Themas war sicherlich ein, im Hinblick auf zukünftige Bayreuther Dialoge, zukunftsweisender Erfolg.
Nachdem das Mittagsbuffet nach die Mägen gefüllt hatte, setzte der nächste Referent das Tagesprogramm fort. Da Herr Jürgen Jaworski leider kurzfristig absagen musste, ersetzte ihn sein Kollege Jörg Dederichs, ebenfalls Geschäftsführer beim amerikanischen Mischkonzern 3M. Als solcher gewährte Herr Dederichs interessante Einblicke in einen Hightech-Konzern. Er machte deutlich, wie dieser den Einfluss seiner Kunden wahrnimmt und deren Wünschen ziel gerichtet entgegen kommt. Nachdem im Laufe der Veranstaltung bereits die verschiedensten Akteure und ihre Rolle im Trend der Moralisierung der Märkte beleuchtet wurden, war indes ein entscheidender Akteur noch gänzlich ausgespart worden: die Werbeagenturen und ihr Produkt, die Werbung. Mit seinem Vortrag zur „Macht der Werbung“ beleuchtete Herr Henner Blömer, stellvertretender Geschäftsführer der Werbeagentur Jung von Matt/Alster, Möglichkeiten der Einflussnahme durch Werbung und deren Grenzen. Mit Einspielungen von Werbefilmen und eigens zum Zweck der Veranstaltung gedrehten Interviews opulent ausgestattet, mauserte sich sein Vortrag zum medialen Höhepunkt 14 | 15
des Symposiums. Optisch und akustisch beeindruckend und höchst unterhaltsam gelangte Herr Blömer zu einem Fazit, das überraschte, ) da die Faszination die der Vortrag selbst ausübt , eher ein gegenteiliges Fazit hätte vermuten lassen. Ähnlich wie schon Herr Brüderle am Vortag unterstrich er die Macht des kritischen Verbrauchers und verwies darauf, dass die Flut an Werbung, die alltäglich auf diesen einstürze, letztendlich die Ansichten, Wünsche und Entscheidungen des Konsumenten kaum noch beeinflussen könne. Es gibt ihn wirklich, den Trend zur Moralisierung der Märkte, so jedenfalls der Tenor der Vorträge und Workshops an fast zwei Tagen Bayreuther Dialogen.
Die Hoffnung, dass der kritische und mündige Konsument in Zusammenarbeit mit Medien, NGOs, Politik und den CSR-Abteilungen von der Unternehmen einen Wandel weg von Kurzfristdenken und Verantwortungslosigkeit in der Wirtschaft, hin zu einer Zusammenführung von ökonomischen und ethischen Werten zusammenzuführen kann, bestünde durchaus. Doch ob dieser Trend ein kurzfristiges Phänomen oder eine nachhaltige, langfristige Entwicklung sei, war soweit offen geblieben. Standesgemäß überließen wir diesen Blick in die Zukunft Herrn Andreas Steinle, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts des populären Zukunftsforschers Matthias Horx. In einem sehr lebhaften und unterhaltsamen Vortrag, zeichnete Herr Steinle das Bild eines kurzfristigen Moral-Hypes, dessen Auswüchse jedoch über das tatsächliche Aufkommen eines langfristigen Trends hinwegtäuschten. Während ein Zusammenbrechen der „BioBio-Welle“ bereits vorhersehbar sei, da sie eben alle Anzeichen eines Hypes trage, ließe sich eine längerfristige Entwicklung hin zu verantwortlichem Unternehmertum gebietenden Gesetzen und gesellschaftlichen Normen erkennen. Ein Umdenken der Gesellschaft im Sinne von Nachhaltigkeit in allen Bereichen des Lebens, so sein optimistisches Resümee, sei möglich und durchaus zu erwarten.
Mit diesem Blick in eine gar nicht so düstere globale Zukunft also, begründet durch einen beobachtbaren Trend zu einer Moralisierung der Märkte, schloss den Vortragsteil unserer fünften Bayreuter Dialoge ab. Die anschließende Podiumsdiskussion in der Bayreuther Stadthalle setzte dann den Schlusspunkt der fünften Bayreuther Dialoge. Die vier Podiumsdiskutanten - Herr Martin Sambauer, Regisseur und Werbefachmann, Herr Prof. Dr. Napel, Ökonomieprofessor an der Universität Bayreuth, Herr Patrick Fruth, A.T.U, und Herr Christoph M. Paret, Gewinner der Essaywettbewerbe der Bayreuther Dialoge und des Symposiums St. Gallen - lieferten sich eine spannende Diskussion. Mit der Verlegung dieses letzten Veranstaltungteils in das Herz der Stadt Bayreuth, wollten wir noch einmal ganz ausdrücklich auch die Bayreuther Stadtbevölkerung einladen, an unserem Diskurs teilzunehmen, was auch gelang. Dank einer Vielzahl namenhafter und höchst interessanter Referenten konnten wir das Thema „Die Moralisierung der Märkte – Neue ohnMacht des Konsumenten?“ an zwei Tagen Bayreuther Dialoge umfassend und intensiv beleuchten. Workshops, das World Café, die Podiumsdiskussion und nicht zuletzt die angeregten Pausengespräche ermöglichten eine aktive Partizipation aller Anwesenden daran und sicherten den Bayreuther Dialogen ihren Dialog-Charakter. Dabei fügte sich nicht nur inhaltlich das Eine zum Anderen, sondern auch organisatorisch verlief alles wie geplant. Wir als Leiter des Organisations-Teams ziehen daher ein vollkommen positives Resümee. Wir sind stolz und überglücklich, dass wir die Bayreuther Dialoge ein weiteres Mal als ein Symposium präsentieren konnten - so zumindest das Ergebnis unserer Evaluation - das seine Teilnehmer angeregt und bereichert entließ. Es ist uns gelungen, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, die sich messen kann mit den ganz großen Symposien. Dass wir auch mit den fünften Bayreuther Dialogen diese kleine Erfolgsgeschichte fortsetzen konnten, freut uns sehr. Zu großem Dank sind wir dabei der Universität und der Stadt verpflichtet, unserer Hochschullehrer Prof. Dr. Hegselmann, 16 | 17
Prof. Dr. Dr. Brink und Prof. Dr. Herz sowie Herrn Jürgen Fuchs. Darüber hinaus danken wir allen Sponsoren der Bayreuther Dialoge 2008 herzlich für ihre Unterstützung! Vielen, vielen Dank auch an unser Team, das zwölf Monate lang vollen Einsatz zeigte, Durchhaltevermögen demonstrierte und tolle Arbeit leistete! Verbleiben möchten wir abschließend mit einem kurzen Blick in die Zukunft. Die Bayreuther Dialoge gehen in Runde sechs. In weniger als zehn Monaten öffnet sich der Vorhang für das nächste Symposium in der Wagnerstadt. Auch das Thema 2009 verbindet wieder elegant beide Fachbereiche unseres Studiengangs „Philosophy & Economics“. Es lautet: „Agenda Humanitas – Wirtschaft (ver)sucht Menschlichkeit“. Wir bedanken uns hiermit bei allen Teilnehmern und Gästen für ihre rege Teilnahme an den fünften Bayreuther Dialogen. Wir würden uns freuen, wenn wir Sie im November wieder bei uns begrüßen dürfen. Die Bühne wird dann allerdings unseren Nachfolgern gehören. Wir wünschen diesen auch an dieser Stelle schon viel Glück und gutes Gelingen- auf das die Erfolgsgeschichte „Bayreuther Dialoge“ weitergeht!
Bianca Fliß, Johannes Auernheimer und Marc Phillip Greitens Projektleitung der Bayreuther Dialoge 2008
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Die Moralisierung der Märkte Prof. Dr. Nico Stehr
Eine Moralisierung der Märkte heißt aber nicht, dass moralisch “höhere”, “zivilere”, “humanere”, „friedliche“ oder sogar “nachhaltige” Normen plötzlich das ökonomische Geschehen insgesamt und auf allen Märkten dominieren.
Die Moralisierung der Märkte
Man muss der Alternative des Draußens und des Drinnens entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie. Michel Foucault, [1984] 2005:702
Meine Beobachtungen zur Moralisierung der Märkte beziehen sich auf einen langfristigen, sich selbstverstärkenden und einen nicht unbedingt linearen, das heisst ungebrochenen gesellschaftlichen Trend. Diese Beobachtungen abstrahieren von Entwicklungen die allenfalls einen Zeithorizont von wenigen Tagen, Wochen oder Monaten haben. Es sind Beobachtungen über fundamentale gesellschaftliche Veränderungen, die zur endgültigen Durchsetzung aber nicht unbedingt Generationen in Anspruch nehmen. Natürlich ist es ein Trend bei dem sich auch Rückschläge bemerkbar machen werden. Denken Sie an die jüngste Diskussion über global gestiegene Lebensmittelpreise und damit der Wahrscheinlichkeit, dass genetisch verändertes Saatgut, dass mit dem Versprechen antritt, Angebotslücken eher als etwa die ökologische Landwirtschaft, prompt und massiv schliessen zu können, aus einer ganz anderen Warte als bisher bewertet werden mag. Aber zurück zu dem langristigen Trend: In einer Antwort auf vier kritische Besprechungen seiner bahnbrechenden und die Makroökonomie wie auch die Wirtschaftspolitik nachhaltig beeinflussenden The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), macht John Maynard Keynes (1937) in der Zeitschrift The Quarterly Journal of Economics darauf aufmerksam, dass es unter den zeitgenössischen Ökonomen wohl kaum noch sich explizit zum Sayschen Gesetzes (aus dem Jahr 1800) - nach dem das Angebot seine eigene Nachfrage generiert - be-
kennende Anhänger gibt. Allerdings fügt Keynes hinzu, dass die Ökonomen seiner Generation das Saysche Theorem dennoch stillschweigend weiter akzeptieren. An diesem Sachverhalt hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten kaum etwas verändert. Auch heute noch beobachten wir eine systematische Überschätzung der Macht des Angebots, sowie der Macht der Summe der Maßnahmen, die dazu dienen sollen, dem Sayschen Gesetz Nachdruck zu verleihen. Dazu gehört beispielsweise das Gewerbe des Marketing und der Werbung, aber auch die These von der essentiellen Hilf- und Ahnungslosigkeit der Konsumenten. Ich werde meine Thesen von der Moralisierung der Märkte in modernen Gesellschaften in einer Reihe von Gedankenschritten voranbringen. Ich beginne mit wenigen Verweisen auf konkrete am Markt manifeste Verhaltensweisen und Einstellungen, die eine Moralisierung der Märkte exemplarisch signalisieren. Aus diesen Beispielen geht eindeutig hervor, dass der Begriff der Moral viele und nicht eine einzelne, universelle Bedeutung hat. Über den genauen Sinn der Begriffe Moral oder Ethik lässt sich darum keineswegs eine schnelle Übereinkunft erzielen. Wir können dem Sinn des Begriffs der Moral nicht auf abstrakte Weise näher kommen; dies kann nur fallweise geschehen. Objektiv gesehen gibt es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt nicht aufeinander reduzierbare Werte. Darüber hinaus sind verschiedene Werte unter bestimmten Bedingungen oder in entscheidenden Situationen inkommensurabel. Ganz elementar gedacht, trifft dies zum Beispiel für die Werte Freiheit und Gleichheit zu. Ich plädiere an dieser Stelle deshalb für einen weit gefassten, niemals abschließend festgeschriebenen, sondern historisch variablen Begriff des Mo22 | 23
ralischen. Es ist nun einmal eine praktische Eigenschaft oder besser eine Tugend liberaler Demokratien, dass in ihnen das Moralische unbestimmt bzw. unterdeterminiert ist. Deshalb sind in solchen Gesellschaften letzte Fragen etwa nach der Moral, nicht zu beantworten. Für Märkte hat diese Unbestimmtheit zur Folge, dass es in modernen Gesellschaften eine Pluralität vom Märkten gibt, auf denen der Trend zur Moralisierung in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen Werten von Konsumenten und Produzenten praktiziert wird.
Obwohl bestimmte, handlungsbestimmende moralische Imperative wie beispielsweise Nachhaltigkeit nicht vollumfänglich durchgesetzt werden, verändern diese Werte den Markt und das gesellschaftliche Leben. D.h. Gerechtigkeit oder Solidarität sind nicht schon deshalb Wahnvorstellungen oder Scheinwerte weil sie kaum jemals vollständig durchgesetzt werden. Ich werde auch nicht versuchen, ausführlicher zu argumentieren, warum die von mir genannten Einstellungen und Handlungsweisen der Marktakteure moralisch sind. Ich gehe davon aus, dass die Handelnden, bestimmten an den Märkten wirksame Präferenzen als moralische und somit nicht als rein ökonomische Präferenzen verstehen. Ich mache schließlich kein Geheimnis daraus, das ich mit der These von der Moralisierung der Märkte eine gebremst optimistische These vertrete bzw. sogar eine moralische These von der Moralisierung der Märkte. In diesem Sinn ist meine Analyse archäologisch und nicht transzendental; sie versucht nicht, allgemeine Strukturen jeder denkbaren moralischen Handlung herauszuarbeiten, sondern sie bemüht sich, dass Handeln am Markt in modernen Gesellschaften als historisches Ereignis zu behandeln. Ein Handeln, das unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auch anders sein kann.
Zwei weitere Vorbemerkungen: Erstens, es trifft sicher zu, dass sowohl das Verhalten der Konsumenten als auch das Handeln der Produzenten habituelle Eigenschaften annimmt. Konsumieren und Produzieren sind repetitiv. Verhaltenmuster tendieren dazu, sich zu stabilisieren. Dies kann aber nicht heißen, dass Konsumieren und Produzieren ausschließlich traditionelle Wege geht und sich durch nichts anderes als durch das Wiederholen auszeichnet (cf. Appadurai, 1996). In einer dynamischen Gesellschaft ist Konsum und Produktion ständigem Wandel unterworfen. Zweitens, lokalisiere ich meine Studie zur Moralisierung der Märkte in der Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie; allerdings mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass ich keine kulturkritische, pessimistische Bilanz ziehen werde. Man kann in diesem Zusammenhang viele kritische Zeitgenossen anführen, die ein insgsamt eher sehr viel pessimistischeres Bild der Gesellschaftsentwicklung skizzieren. Dazu zählt der Philosoph und Anthropologe Helmut Plessner ([1961] 1985:249), der in einem Essay aus dem Jahr 1961 zur „Wissenschaft und moderne Gesellschaft“ vor der „Entmachtung des Einzelnen“ warnt: „Die industrielle Organisation der Gesellschaft in Wissenschaft, Produktion und Konsum und die täglich wachsende Beinflussung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen engen den inneren Freiheitsbereich des Einzelnen ... immer mehr ein.“
Meine Beobachtungen können dieses dunkle Bild der Hilflosigkeit großer Gesellschaftsgruppen nicht bestätigen. Plessner überschätzt die Macht der großen Institutionen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Staat, und Medien ihren Willen durchsetzen zu können. Das herrschende Forschungsinteresse der politischen Ökonomie der vergangenen Jahrzehnte hat Fragen der Konsumption und Identität zugunsten der Analyse von Fragen der Produktion und Organisation vernachlässigt. Dies wiederum hatte zur Folge, dass das gesellschaftliche Primat der Eigentümer oder der 24 | 25
Manager der Produtionsmittel unangefochten galt. Auch hier möchte ich den herrschenden Dualismus durch eine weniger einseitige Gesellschaftstheorie überwinden helfen. Nachdem ich wie gesagt wenige Beispiele für eine Moralisierung der Märkte angeführt habe, versuche ich zu zeigen, warum das Phänomen der Moralisierung der Märkte neu ist, ohne dabei zu leugnen, dass es auch schon in der Vergangenheit gesellschaftliche Postulate, Regulierungen und Handlungen gab, die aus einem moralischem Marktverhalten bestanden oder ein solches Verhalten einforderten. Um deutlich zu machen, dass das Phänomen der Moralisierung der Märkte als normative Forderung nicht neu ist, kann man an eine Vielzahl von Personen oder Ereignissen erinnern, die sicher zu den Vorläufern einer Moralisierung der Märkte zählen. Dazu gehört das Zinsverbot der Kirche, aber auch die Puritanische Ethik, das praktische Evangelium von Benjamin Franklin in dem er Arbeit, Mäßigung und Genügsamkeit von seinen Landsleuten forderte. Franklins Normen wurden zeitweise von Millionen praktiziert. Neu ist aber, wie umfassend, selbstverstärkend sich moralisch basiertes Verhalten am Markt sowohl auf Seiten der Produzenten als auch auf Seiten der Konsumenten beobachten lässt. Ein wesentlicher Argumentationsstrang wird dann sein zu zeigen, warum es zu dieser signifikanten Marktentwicklung kommt. Schließlich soll auf Folgen und Konflikte wie auch Grenzen der Moralisierung der Märkte aufmerksam gemacht werden.
Was heißt Moralisierung der Märkte?
Moralisierung der Märkte heißt beispielsweise, dass ein Immobilieneigentümer sein Haus nicht an den höchsten Bieter, sondern an einen Interessenten verkauft, dessen Nutzungskonzept ihm zusagt. Fussballfans, die das Produkt des Vereinssponsors konsumieren, obwohl sie eigentlich eine andere Mar-
ke bevozugen, verhalten sich entgegen der angeblich Logik marktgerechten Verhaltens. Eine Moralisierung der Märkte entdeckt man auch bei Familien, die es vorziehen, bei Kerzenlicht und nicht bei elektrischem Licht zu Abendessen. Moralisierung der Märkte bedeutet, dass der Produzent von Schokoriegeln den Produktionsprozess radikal ändert, weil sich die Konsumenten über die bisherige Produktion heftig beschwert haben. Der Eiskremhersteller Ben & Jerry nimmt Sorten ins Programm, die gänzlich aus fair gehandelte Produkten hergestellt sind. Heute sind „Öko“ und „Bio“ Megatrends mit zum Teil dreistelligen Wachstumsraten. Millionen von deutsche Konsumenten kaufen regelmäßig fair gehandelte Produkte. Große Lebensmittelketten bieten, beispielsweise in Großbritannien, nur noch fair gehandelte Bananen an. Aber nicht nur die Lebensmittelindustrie wird zunehmend vom Trend zu einer Moralisierung der Märkte mitbestimmt. Inzwischen haben allein in Deutschland Anleger die Wahl zwischen 186 sogenannten „grünen’ Aktienfonds mit einem Volumen von 27 Milliarden Euro. Wie der Erfolg dieser Fonds zeigt, ist nachhaltig investieren durchaus kompatibel mit dem Wunsch einen Profit zu erzielen. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass die an den Märkten wirksamen Moralvorstellungen viele Dimensionen hat. Um aber nicht nur affirmative Beispiele anzuführen: Ist der Kauf des englischen Erstligafussballvereins Manchester City für 250 Millionen Euro durch ein Konsortium der Abu Dhabi United Group (ADUG) ein Beispiel für die Moralisierung der Märkte? Oder ist diese Transaktion ein schlagendes Beispiel für das, was die Moralisierung der Märkte eigentlich verdrängt, nämlich für den von Thorstein Verblen vor einem Jahrhundert bezeichneten „Geltungskonsum“ (conspicous consumption)? Der Leiter der Abu Dhabi Gruppe kündigte an diesem 1. September außerdem an, dass seine Gruppe eine Anschubfinanzierung von 600 Millionen Euro zum Kauf von Spielern bereitstellen wird. Diese Investitionen dürfte sich nach Menschenermessen niemals über das operative Geschäft, also über Zuschauer, Fernseh- und andere Werbeinnahmen rechnen. Es ist also sehr schwer, sich vorzustellen, dass dieses Fall ein Beispiel für die Moralisierung der Märkte ist. 26 | 27
Des weiteren: Meine These bezieht sich nicht auf die Frage wie das Wirtschaftswachstum (im Sinn von steigenden Einkommen und einem sich bessernden Lebensstandard) oder eine ökonomische Krise oder Stagnation den moralischen Haushalt einer Gesellschaft beeinflusst. Das ist ein wichtiges Thema, aber ein Thema für eine anderen Vortrag.
Märkte und ihre moralische Basis
Vor einem Jahrhundert gab der typische Haushalt eines OECD-Landes 80 Prozent seines Einkommen für Ernährung, Kleidung und Unterkunft aus. Heute beträgt dieser Anteil an den Konsumausgaben weniger als 30 Prozent. Es gibt kaum etwas, das die moderne Ökonomie und Gesellschaft signifikanter beeinflusst als die Entscheidungen der Konsumenten am Markt. Obwohl es nicht überrascht, dass hierdurch Art und Umfang der Produktion mitbestimmt werden, ist der Konsument lange Zeit nicht nur von professionellen Ökonomen als isoliertes, uninformiertes, vor allem aber rein rational handelndes Einzelwesen verstanden worden, dessen Kaufentscheidung – oder auch Kaufenthaltung – Ergebnis eng umschriebener finanzieller Überlegungen sei. Saubillig sollte es sein Vor wenigen Jahren noch waren es Dritte-Welt-Läden, kleine Verkaufsstände und winzige Bioläden, in denen der fair gehandelte Kaffee ein Nischendasein fristete. Diese Läden wurden von wenigen, schon durch ihre Äußerlichkeiten leicht erkennbare Kunden frequentiert. Heute haben ökologische und fair gehandelte Produkte eine Millionenklientel und weisen, wie gesagt, dreistellige Wachstumsraten auf. Neben Lebensmittel haben auch andere Waren sowohl in der Zusammensetzung der Rohstoffe als auch in den Produktionsabläufen zunehmend moralische Qualitäten. Das Marktvolumen dieser Produkte und Dienstleistungen steigt nachhaltig und rapide.
Die neue Nachhaltigkeit sozialer Normen
Sofern man von einer Moralisierung der Märkte in modernen Gesellschaften sprechen kann, und nicht, wie manche befürchten, von einer Verdrängung ethischer Maxime durch den Markt, rücken heute soziale Normen in den Vordergrund, die ein vom egoistischen Maximiergehabe oder Geltungskonsum abweichendes Verhalten vorschreiben. Zu diesen wirksamer werdenden Normen des Marktes gehören Fairness, Gesundheit, good will, Ängste, Nationalismus, Mitleid und Nachhaltigkeit ebenso wie Ausgleich, Loyalität, Rache, Exklusivität, Widerwille (siehe Roth, 2007), Originalität, Solidarität, Alter und Mitgefühl. Eine Moralisierung der Märkte ist nicht der Beweis dafür, dass marktfremde Elemente dominieren oder dass die traditionellen Marktinstitutionen generell schwächer geworden seien. Doch die Abkehr einer von der Mechanik des Gelderwerbs bestimmten Rationalisierung des Marktverhaltens verweist auf den Beginn einer weiteren Stufe in der Entwicklung des Marktes – und der Gesellschaft insgesamt. Der Trend ist nicht linear. Er wird von Rückschlägen in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unterbrochen, aber durch den wachsenden durchschnittlichen Wohlstand der Haushalte und den wachsenden Bildungsgrad der Bevölkerung forciert.
Von “Hunger-Märkten”…
Die wichtigsten Ideen von den Eigenschaften des Marktes und dem angeblich typischen Marktverhalten entstammen einer Welt, in der weder Wohlstand noch Bildung verbreitet waren, sondern ausgesprochene Armut, umfassende Machtlosigkeit, Hunger und Analphabetismus vorherrschte. Die Armut der Lohnabhängigen verstand man als Voraussetzung für die Expansion der Produktion. Der Reichtum eines Landes erschien geradezu als Funktion der Armut ihrer arbeitenden Bevölkerung. Angeblich hatte diese Armut hatte auch eine Reihe von positiven moralischen Konsequenzen. Sie disziplinierte die Lohnabhängigen und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt des gesellschaftlichen Status quo. 28 | 29
Seit dem 18. Jahrhundert ist deshalb die Behauptung, Wohlstand demoralisiere, zu einem Gemeinplatz geworden genau wie der verwandte, heute oft nur noch unterschwellig präsente Befund, das der Kapitalismus eine prinzipiell unmoralische Veranstaltung sei. Eine Versöhnung von Kapitalismus und Moral kann es deshalb, so diese Fundamentalkritik, genau sowenig geben, wie etwa eine Konvergenz von ökonomischen und ökologischen Zielen. Dieser Widerspruch lässt sich schon deshalb nicht leicht ausräumen, weil diese Kritik eine umfassende und einflussreiche Tradition hat, die man bis in das Zeitalter der Romantik oder das der Aufklärung zurückverfolgen kann. Dennoch: die noch heute gültige Theorie des Marktes und die Fundamente der Kritik des Marktes entstammt einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Von Verbrauchern war damals jedoch überhaupt keine Rede. Der Konsum schuf keinen Wohlstand. Die Mehrzahl der Menschen konsumierte nicht, sondern versuchte zu überleben. Es war eine Welt, in der der Arbeitsplatz dazu diente, existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen, in der die Produktion dazu da war, die Gesellschaft vor den Gefahren der Umwelt zu schützen und der Markt rein instrumentelle Funktionen hatte. Wenn man einmal von den wohlhabenden Schichten der Bevölkerung absieht, gab es zu dieser Zeit keine Läden für die Mehrheit der Bevölkerung. Es gab zum Beispiel keine Möbelgeschäfte. Man kaufte Möbel und andere Haushaltsgegenstände zweiter Hand oder auf Auktionen, Der „Konsument“ war eine ohnmächtige Arbeitskraft und, wie die Natur, in erster Linie Produktionsfaktor. Oft wird ein ähnlich trostloses Bild auch heute noch vom größten Teil der Marktteilnehmer gezeichnet. Demnach leidet die Mehrheit der Menschen entweder unter materiellem Mangel oder, aus einer oft asketischen Sicht, an Übersättigung durch Konsumgüter. Konsumenten werden immer noch als hilflose, unmündige, unsichere, manipulierte und somit schlecht beratene Käufer dargestellt. Mit der Entdeckung des Teilzahlungsystems war demzufolge die Kritik verbunden, dass sich die Konsumenten überschulden werde, um somit nicht nur ihre wirtschaftliche Un-
abhängigkeit zugunsten einer unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen auf Spiel zu setzen.
Das gesellschaftliche Substrat der Moral und die Schubkraft für eine Moralisierung der Märkte stind dagegen die veränderten Lebensumstände des Menschen.
Diese These mag zwar strittig sein, unbestritten aber ist, dass sich der Lebensstandard der meisten Menschen Jahrhunderte lang nur unwesentlich verändert hat. Im Gegensatz dazu leben wir gegenwärtig nicht nur aus ökonomischer Sicht, sondern auch was den Bildungsstandard der Bevölkerung anbelangt, in einem historisch unverwechselbaren Zeitalter, jedenfalls in den so genannten entwickelten Gesellschaften. Obwohl Reichtum und Bildung weder hier noch anderswo gleich verteilt sind, sind beide weiter verbreitet als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals . . . . Of course there will still be many people with intense, unsatisfied purposiveness who will blindly pursue wealth unless they can find some plausible substitute. But the rest of us will no longer be under any obligation to applaud and encourage them. (Keynes, [1930] 1963, pp. 369-370)
... zu Märkten des Überflusses
Es stellt sich deshalb die Frage, welche nachhaltige Spur der Weg zu weit verbreitetem Wohlstand, das Vorhandensein nie gekannten Reichtums und eines weiter denn je verbreiteten allgemeinen Wissens in der modernen Gesellschaft hinterlassen hat. Und da sich die veränderten Lebensumstände in veränderten Sozialstrukturen, Verhaltensweisen und Werten manifestieren, kann man die Frage präzisieren: Hat sich deshalb die Institution der Märkte und das Verhalten der in ihnen agierenden Akteure in bemerkenswerter Wei30 | 31
se verändert? Sind es heute zunehmend die intrinsischen Eigenschaften von Waren, die nützlich sind? Auch im Zeitalter der Moralisierung der Märkte sind Waren keine menschlichen Wesen. Da aber Güter mit einer Vielzahl von menschlichen Werten in enger Verbindung steht, diese manchmal mit den ihnen innewohnenden Eigenschaften geradezu verschmelzen, sind Waren zunehmend hybride Gebilde. Beispielweise können Waren wie fair produzierte Kaffee, wie dem Menschen, eine bestimmte Würde zugeschrieben werden. Waren sind nicht mehr nur tauschbare Gegenstände oder Mittel des menschlichen Handelns. Allerdings verändert die Moralisierung der Märkte sich nur die Symbolik der Waren, sondern auch ihre Materialität. Fair gehandelte Kaffee repräsentiert auch in diesem Fall die veränderte Materialität der Ware Kaffee. Der Kaffee ist seinem Wert nach hinter dem Ölmarkt die zweitwichtigste legal gehandelte Ware der Welt. Das Kaffetrinken ist Teil eines äußerst komplexen, globalen kulturellen, sozialen und ökonomischen Beziehungsgeflechts.
Eine Moralisierung der Märkte heißt aber nicht, dass moralisch “höhere”, “zivilere”, “humanere”, „friedliche“ oder sogar “nachhaltige” Normen plötzlich das ökonomische Geschehen insgesamt und auf allen Märkten dominieren.
Es ist aber unumstritten, dass sich solche, von Vielen als moralisch überlegen eingeschätzte Verhaltensweisen von Konsumenten und Produzenten zunehmend beobachten lassen. Auch kann man nicht unterstellen, dass neue Konventionen und Orientierungsmuster von allen Akteuren prompt geteilt werden oder dass sich ein solcher Konsens gleichsam naturwüchsig herausbildet. Bestimmte Verhaltensnormen werden weiter die von Minoritäten sein, Gruppen jedoch, denen zusehends Meinungsführerschaft zukommt.
Einwände
Critics may point to the difficulties that the social sciences already have in projecting future societal transformations, let alone anticipating social trends, such as the moralization of the markets, in what is today a rather fragile social world. In theoretical discourse, the “rock of positivist solidity” (Hirschman) and therefore the dichotomous opposition of phenomena, such as “rational” and “irrational,” “efficient” and “inefficient,” or “useful” and “moral,” stand in the way. Markets, much like viruses, know no morality. Economists, therefore, prefer a formal conception of preference structures of market participants. Professional economists urge us to concentrate our attention on the consequences of economic action and not to waste scarce attention on questions that deal with the kind of preferences market actors may pursue. The ends that guide economic action are random in any case. Moreover, it would be a serious error to underestimate the power of contemporary advertising and the efficacy of promoting all kinds of goods and services; that is, individuals can be made to feel as autonomous decision makers while actually acting against their own values and interests. More generally, critics could argue that the availability of information may be used to “voluntarize public assent” without touching or controlling existing power structures in modern societies (cf. Ezrahi, 2004:266-267). However, the wish or the claim to be able to manipulate consciousness and conduct of consumers may not be matched by the capacity to actually execute such schemes. Finally, there may be strident voices arguing firmly that the thesis of a moralization of the markets is not new, be it as a theoretical construct or as an empirical statement about the practice of market conduct. The objection may be that morally coded markets are just a means of presenting an old idea dressed up in perhaps more fashionable garb.
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Well, my point is, of course, that the moralization of the markets is not the eternal return of the same.
Kontinuität oder Wandel?
Auch in Zukunft werden sich die Orientierungsmuster ökonomischen Handelns von Produzenten und Konsumenten unterscheiden. Darüber hinaus sind nicht alle Märkte gleich, noch verändern sie sich alle zur selben Zeit, im gleichen Tempo oder in allen Regionen dieser Welt. Bei einigen Marktformen, wie zum Beispiel beim Finanzmarkt, greifen Normen, Richtlinien, Regulierungs- und Lenkungsmaßnahmen, die auf eine Moralisierung des Marktverhaltens hinauslaufen nur sehr zögerlich, vielleicht sogar nur unter sehr viel umfassenderen, globalen Anstrengungen. Die Moralisierung der Märkte mag zur Zeit zwar immer noch das Werk einer Minderheit sein, diese Minderheit verändert aber die Gesamtheit der an den Märkten weltweit gehandelten Waren und Dienstleistungen. Aus der Sicht der Ökonomen ist die Moral einer Gesellschaft Teil der institutionellen Infrastruktur der Gesellschaft genau wie das Rechtssystem oder die scientific community. Die strikte Einteilung in marktendogene und -exogene Normen hilft uns heute nicht weiter, weil sie seit jeher impliziert, dass die Wirksamkeit von spezifischen gesellschaftlichen Normen auf ein bestimmtes soziales Umfeld beschränkt sei. Märkte tragen zur Gestaltung der Kultur bei, während kulturelle Prozesse ihrerseits die Märkte beeinflussen. Kulturelle Normen und Prozesse werden in der Sprache der Ökonomie zu Transaktionskosten, d.h. zu Kosten der Beziehungen zwischen den Menschen, insofern sie das Marktverhalten der Akteure mitbestimmen.
Und doch signalisiert die Moralisierung der Märkte keinesfalls einen Bruch mit dem Kapitalismus.
Die eine kapitalistische Wirtschaftsordnung kennzeichnenden Merkmale, wie die des Privateigentums an den Produktionsmitteln oder ein auf Gewinnerzielung ausgerichtetes Verhalten, werden allenfalls modifiziert, vielleicht abgemildert, aber nicht aufgehoben. Der Kapitalismus wird z.B. dadurch modifiziert, dass einst als selbstverständlich angesehene Komponenten des Produktionsprozesses, wie das „natürliche Kapital“, mit in die Produktionsgleichung aufgenommen werden. Neu an der Moralisierung der Märkte ist ihr Umfang, ihre Vehemenz, ihre unmittelbare Umsetzbarkeit qua Konsum sowie die wachsende Globalisierung dieser Werte, Standards und Regularien. Die Globalisierung der Moralisierung der Märkte führt dazu, dass Verhaltenseinstellungen, etwa Einstellungen zur Umwelt und Verhaltenweisen, etwa beim Konsum, auch Gesellschaften erfassen, in denen die die gesamtgesellschafltichen Veränderungen, die ich als Auslöser und Verstärker der Entwicklung hin zu einer Moralisierung der Märkte betont habe, bisher nicht im gleichen Maß zu beobachten sind. Auch in armen Gesellschaften dieser Welt lässt sich zunehmend ein bemerkenswertes Umweltbewußtsein beoachten (siehe Dunlap und York, 2008).. Dies hat natürlich auch andere Gründe als nur die Tatsache, dass sich in diesen Gesellschaftlichen Standards und Regularien etwa bei der Produktion von Waren durchsetzen und akzeptiert werden, die von den Enmpfängerländern dieser Waren erwartet und gefordert werden. Zu den anderen Gründen, die sowohl in den entwickleten als auch in den sich entwickelnden Gesellschaften zu einer Verstärkung der Moralisierung der Märkte führen, gehören nationale und transnationale Politikmassnahmen, die nicht nur die formalen und informellen Spielregeln des Marktes beinflussen und verändern, sondern auch die Politik und damit zu weiteren Feedbackprozessen führen einschliesslich der Beinflussung von Konsumenten- und Produzentenverhalten. Zusammenfassend lässt sich deshalb formulieren: Die These von der Moralisierung der Märkte bezieht sich auf eine Art Schaukelbewegung von Ange34 | 35
bot und Nachfrage, auf einen gemeinsamen Tanz der Produzenten und Konsumenten. Das Verständnis der symbolischen und organisatorischen Dynamik des Marktes in modernen Gesellschaften setzt voraus, dass man die beobachteten Verhaltens- und Einstellungsveränderungen der Marktteilnehmer in eine Beziehung zum gesamtgesellschaftlichen Wandel setzt. Temporär zumindest hat ein wachsender gesamtgesellschaftlicher Wohlstand, dass muss kaum betont werden, auch eindeutig weniger unmittelbare moralischen Folgen etwa auf dem Gebiet der Umweltfolgen eines persistenten Wirtschaftswachstums. Allerdings sollte die Moralisierung der Märkte, zumindest auf längere Sicht, genau diese unerwünschten Nebenfolgen eines wachsenden Lebensstandards ändern. Auf jeden Fall ist ein absolut formulierter Gegensatz oder Konflikt von Wohlstand und Moral, wie er immer noch in vielen Augen unumstößlich gilt, angesichts der Dynamik gesellschaftlichen Wandels nicht haltbar.
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Der Konsument – Ein mündiger Bürger? Rainer Brüderle
Markt und Moral gehören zusammen. Ohne Moral ist kein verläßliches Wirtschaften möglich. Wer seine Partner nicht korrekt behandelt, kann in Zukunft nicht erwarten, daß sie noch für Geschäfte zur Verfügung stehen.
Der Konsument – Ein mündiger Bürger?
Konsum: Bei aller Neutralität, die dieser Begriff eigentlich haben sollte, schwingt doch häufig etwas Negatives mit. Die „Konsumgesellschaft“ muß als Bezeichnung dafür herhalten, daß wir nur noch passiv herumsitzen, aufnehmen, was das Fernsehen uns an Unterhaltung bietet; und selbst im Theater oder Kino möglichst nicht mehr nachdenken wollen. Spektakel statt Denken, sehen statt erleben, passiv statt aktiv. Konsumieren hat einen schlechten Beigeschmack. Auf der anderen Seite ist der Konsument, der Verbraucher in unserer Gesellschaft ein durchaus wichtiges Wesen. Er wird von Unternehmen und Politikern ernstgenommen, manchmal sogar hofiert. Ein Konsumklimaindex mißt jeden Monat das Verbrauchervertrauen und die Neigung der Deutschen, Anschaffungen zu tätigen. Ganze Institute befassen sich ausschließlich mit Konsumforschung. Und doch ist der Konsument meist immer noch das unbekannte Wesen. Otto Normalverbraucher ist zwar in aller Munde, aber in seine Seele können wir noch lange nicht gucken. Selbst die statistischen Erhebungen und Umfragen, die die Konsumfreude der Bürger für die nächste Zeit voraussagen sollen, treffen mit ihren Vorhersagen höchst selten ins Schwarze. Das ist vielleicht auch ganz beruhigend. Natürlich hätten die Statistiker gern belastbare Ergebnisse, die den Unternehmen und dem Staat Planungssicherheit geben. Aber das ist in einer Marktwirtschaft eben nicht vollständig möglich. Der Bürger ist als Konsument nicht perfekt vorhersehbar. Er kauft nicht, was die Statistik erzählt. Er kauft, wozu er gerade Lust hat. Wir lassen uns als Verbraucher ungern vorschreiben, was wir kaufen sollen. Es ist schon genug, daß unseren Wünschen Grenzen gesetzt werden, weil wir – oder zumindest die allermeisten – nur ein begrenztes Budget zum Ausgeben zur Verfügung haben. Im Rahmen dessen wollen wir wenigstens die freie Auswahl haben.
Das ist Konsumentensouveränität. Jeder einzelne ist frei, zu entscheiden, wie seine Bedürfnisse gestillt werden können. Das gehört zum Wesen der Sozialen Marktwirtschaft. Insofern können wir ganz klar feststellen: Ja, der Konsument ist in einer Marktwirtschaft ein mündiger Bürger. Dieses Leitbild der „Konsumentensouveränität“ wurde von Adam Smith, dem Begründer der Volkswirtschaftslehre, im 18. Jahrhundert erdacht. Von Smith, der Professor für Moralphilosophie in Edinburgh war, stammt der Satz: „Der einzige Grund des Wirtschaftens ist der Konsum.“ Im Grunde ist dieser Satz trivial. Es wäre schließlich absurd, Güter nur um der Produktion willen zu produzieren. Das heißt auch, daß sich das Wirtschaften an den Konsumwünschen orientiert. Der Verbraucher steuert durch sein Nachfrageverhalten die Güterproduktion. Die Unternehmen müssen das herstellen, was die Verbraucher kaufen wollen. Wer sich nicht nach der Nachfrage richtet, bleibt auf seinen Waren sitzen und verdient nichts. Das kann sich kein Unternehmer leisten. Das Angebot richtet sich also nach der Nachfrage. Das ist die Konsumorientierung des Marktes. So werden die Bedürfnisse der Verbraucher in einer Marktwirtschaft optimal befriedigt. Die individuellen Bedürfnisse drücken sich in jeder einzelnen Kaufentscheidung aus. Der eine achtet vor allem auf einen günstigen Preis, dem anderen ist Qualität besonders wichtig, dem dritten eine umweltschonende Herstellungsweise. Markenbewußtsein kann eine Rolle spielen oder Energieverbrauch. Meistens fließen viele verschiedene Kriterien in die Kaufentscheidung ein. Jeder Verbraucher gewichtet sie allerdings unterschiedlich. So stellt sich das vielgepriesene Preis-Leistungsverhältnis für jeden anders dar. Denn die Leistung bewertet jeder Mensch je nach persönlichem Geschmack unterschiedlich. Aber was bestimmt im einzelnen das Handeln der Konsumenten? Diesen Aspekt der Konsumentscheidung blendet das Marktmodell der ökonomischen K1lassiker aus. Und offensichtlich nicht nur die klassische Ökonomie. Es heißt schließlich auch im Volks-
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mund: Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Die Präferenzen, die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher werden als gegeben hingenommen. Ist unsere Kaufentscheidung aber wirklich so frei und souverän? Sind die Märkte und die Waren wirklich nur dem Geschmack der Konsumenten unterworfen? Schon bei Jugendlichen und zunehmend auch bei kleineren Kindern kann man erleben, daß nicht nur persönlicher Geschmack, sondern auch sozialer Druck eine Rolle dabei spielen, welche Turnschuhe gekauft werden „müssen“ und welche Jeans die richtige ist. Markenbewußtsein ist hier nicht so sehr Qualitätskriterium als vielmehr Ausdruck dafür, sozial anerkannt zu werden und zu einer Gruppe zu gehören. Zunehmend erwartet unsere Gesellschaft auch vom erwachsenen Verbraucher bestimmte Verhaltensweisen.
• Er soll sich beim Kaufen moralisch verhalten.
• Er soll sich umweltbewußt verhalten.
• Er soll Produkte erwerben, die ohne Schadstoffe hergestellt sind.
• Er soll darauf achten, daß möglichst wenig Energie zur Herstell-
ung verbraucht worden ist. • Er soll bei Elektrogeräten auf Energieeffizienz im Gebrauch achten. • Er soll Produkte, die mit Kinderarbeit gefertigt worden sind, links liegenlassen.
• Er soll darauf achten, nur Handwerker zu beschäftigen, die sich
an die Tarifverträge halten und ihren Mitarbeitern anständige
Löhne zahlen.
• Er soll nachhaltig konsumieren.
• Und nicht zuletzt soll er bei Unternehmen kaufen, die sich sozial
verantwortlich zeigen und sich der ganzen Welt verpflichtet
fühlen; die bei Tsunamis in Südostasien helfen und Geld für die Aidsbekämpfung zur Verfügung stellen.
Wenn wir das alles beherzigen sollen, sind wir dann wirklich noch mündige Verbraucher? Ist das dann noch Konsumentensouveränität oder geben wir
dieses ökonomische Grundrecht nicht teilweise auf? Mündig ist doch auch der, der all diese Erwartungen an sein Kaufverhalten gerade nicht erfüllen will. Zunehmend drängt sich außerdem die Politik in unsere Konsumentscheidungen hinein. Unsere Konsumentensouveränität wird schon an vielen Stellen durch den Staat beschnitten. Das fängt bei der Schulpflicht an und hört bei der Verpflichtung, eine Kfz-Haftpflichtversicherung abzuschließen, noch lange nicht auf. Selbst die Höhe der Krankenkassenbeiträge wird jetzt vom Staat für alle verbindlich festgelegt. Der Staat zwingt uns nicht nur zum Konsumieren mancher Güter, er verbietet auf der anderen Seite auch den Konsum bestimmter Genußmittel. Es gibt illegale Drogen und es gibt seit neuestem Rauchverbote an bestimmten Orten. Wie weit sollen die staatlichen Konsumvorgaben gehen? Wie weit soll die Politik in den persönlichen Lebensbereich des einzelnen hineinregieren? Über die Schulpflicht können sich die meisten von uns wohl noch relativ leicht verständigen. Es gibt allerdings auch Menschen, die diese Pflicht ablehnen. Sollen die Kinder dieser Leute mit Polizeigewalt in die Schule gebracht werden? Wer Auto fahren will, muß gegen Schäden, die er bei anderen damit anrichten könnte, versichert sein. Auch das halten die meisten für sinnvoll. Und immerhin bleibt ja für den, der sich nicht versichern will, noch die Wahlfreiheit, dann eben aufs Auto zu verzichten. Aber schon bei diesen noch relativ harmlosen Beispielen wird deutlich, daß der Staat uns Bürger in bestimmten Situationen glaubt, zu unserem Glück zwingen zu müssen, indem wir bestimmte Güter konsumieren sollen. Die Ökonomen nennen diese Güter meritorische Güter. Das heißt so viel wie „verdienstvolle“ Güter. Es wird nämlich angenommen, daß der Konsum dieser Güter nützlicher ist, als es die Nachfrage in einer freien Marktwirtschaft zum Ausdruck bringt. Platt gesprochen: Die Menschen merken nicht selbst, daß der Konsum einer Ware oder einer Dienstleistung für sie gut ist. Also muß der Staat sie davon überzeugen. Entweder er subventioniert die Waren oder Dienstleistungen. Wenn sie billiger sind, wird mehr konsumiert. Oder er macht konkrete Vorschriften und zwingt uns zum Konsum. Es kann unterschiedliche Ursachen für eine zu geringe Nachfrage nach einem Gut geben: 42 | 43
• Irrationale Entscheidungen: Man glaubt, daß die Konsumenten
ihre Kaufentscheidungen nicht nach rationalen Erwägungen treffen, weil sie die Vorteile und die Nachteile nicht hinreichend durchdenken oder die komplexen Wirkzusammenhänge nicht durchschauen. Beispielsweise wurde das Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes im Auto vom Gesetzgeber als irrationale Entscheidung bewertet. Das führte zur Einführung der Gurtpflicht.
• Unvollständige Information: Dabei wird angenommen, daß die
Verbraucher über ein Gut nicht ausreichend informiert sind. Hauseigentümer wissen zum Beispiel oft nicht, welche Einsparungen sich durch Maßnahmen zur Wärmedämmung erzielen lassen. Deshalb hat der Staat zeitweise entsprechende Gutachten subventioniert.
• Zeitpräferenzrate: Häufig ist uns der zukünftige Konsum weniger
wichtig als der heutige. Meritorische Güter werden oft damit begründet, daß die Konsumenten zu wenig an die Zukunft denken. Die Einführung der Pflicht zur Pflegeversicherung wurde zum Beispiel damit begründet, daß die Menschen in jungen Jahren ihrer späteren Pflegebedürftigkeit zu geringe Bedeutung beimessen.
• Externe Effekte: Durch externe Effekte weicht der Nutzen
desjenigen, der über die Nachfrage entscheidet, vom gesamten volkswirtschaftlichen Nutzen ab. Da der Konsument bei seinen Entscheidungen den Nutzen anderer Personen nicht oder nicht genügend berücksichtigt, entspricht die Nachfrage nicht dem volkswirtschaftlichen Optimum. Beispielsweise bewertet ein Hauseigentümer den Nutzen, eine denkmalgeschützte Fassade zu erhalten, nur nach dem Nutzen
seiner Bewohner. Aber auch die übrigen Bewohner und Besucher der Stadt ziehen einen Nutzen daraus und erfreuen sich an einem gepflegten alten Haus. Also wird der Erhalt der Fassade als meritorisches Gut durch Auf lagen und Subventionen gefördert. Es gibt also vielfältige und manchmal auch gute Gründe, warum der Staat in die freie Konsumentscheidung des Einzelnen eingreifen kann.
Die Frage bleibt: Wo kommt der Staat seiner Fürsorgepflicht nach, wo sind seine Eingriffe in unserem Sinne? Und wo fängt die Entmündigung an?
Einige Libertäre würden sicher nahezu jeden Staatseingriff als Eingriff in die Konsumentensouveränität ablehnen. Ich halte den Staat in manchen Situationen für unverzichtbar. Das ist nicht zuletzt in der aktuellen Finanzkrise deutlich geworden. Unser Geldsystem beruht auf Vertrauen. Auf dem Vertrauen, daß wir unsere Geldscheine und Münzen auch wieder in Waren im entsprechenden Gegenwert eintauschen können. Und auf dem Vertrauen, daß die Banken unsere Ersparnisse, die wir ihren anvertrauen, nicht veruntreuen. Solche Garantien muß der Staat geben können. Ein Freibrief für Regierungen, sich überall einzumischen, ist das aber nicht. Ganz offensichtlich wird das dann, wenn der Staat uns nicht einmal zutraut, selbst entscheiden zu können, wieviel Schokolade gut für uns ist. Wenn Lebensmittel mit Ampelfarben gekennzeichnet werden, nach dem Motto:
grün
–
kann man unbedenklich essen;
gelb
–
mit Vorsicht zu genießen; und
rot
–
Finger weg, das macht dick;
dann fühlt sich vermutlich auch der selbstbewußteste Kunde im Supermarkt vom „big brother“ oder mindestens von seinen Nachbarn kontrolliert. 44 | 45
Ist es sinnvoll, wenn der Staat seinen Kommunen vorschreibt, welche Kriterien sie bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an Handwerker berücksichtigen müssen? Darf ein Handwerker einen Auftrag nur bekommen, wenn er Frauenförderung betreibt und andere Sozialkriterien berücksichtigt? Über all das läßt sich trefflich streiten. Gesunde Ernährung und Frauenförderung sind ehrenwerte Ziele. Aber ist es Aufgabe des Staates, uns das vorzuschreiben? Ein mündiger Konsument – den die Politik immer gern zumindest verbal bemüht – könnte auch genau umgekehrt denken. Er möchte möglicherweise, wenn er einen Handwerker beauftragt, eine Dienstleistung kaufen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn er zum Bäcker geht, möchte er Brot, Brötchen oder Kuchen kaufen und erwartet sonst nichts. Wer sich finanziell an einem Unternehmen beteiligt, indem er Aktien kauft, könnte eigentlich auch erwarten, daß die Unternehmensmanager den Wert des Unternehmens mehren. Er erwartet nicht, daß sich das Unternehmen um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit kümmert, bei Flutkatastrophen hilft, für mildtätige Zwecke spendet oder Aids bekämpft. All das sind unbestreitbar gute Dinge. Aber kann ein mündiger Bürger nicht selbst entscheiden, ob und wieviel Geld er für welches Anliegen ausgibt? Wer als Altersvorsorge Aktien kauft, möchte damit nur für sein Alter vorsorgen. Seine moralischen Ansprüche bedient er vielleicht mit seiner Kirchenmitgliedschaft, durch Spenden, Engagement im Sportverein oder durch ehrenamtliche Mitarbeit bei der Obdachlosenhilfe. Noch beim Brötchenkauf moralischen Ansprüchen genügen zu müssen, wäre für die meisten wohl zu Recht eine Zumutung.
Der Markt braucht auch Moral. Das hat Bundespräsident Horst Köhler kürzlich im Zuge der Bankenkrise wieder angemahnt. Ob der Markt selbst, der Ort, an dem sich Angebot und Nachfrage treffen, moralisch sein kann, sei einmal dahingestellt. Wenn zwei Menschen miteinander handeln, gewinnen
in jedem Fall beide, sonst würde der Tausch nicht stattfinden. Der Tausch von Ware oder Arbeitskraft erfolgt nur, wenn beide Partner bestmöglich die Wünsche des jeweils anderen befriedigen. Diesen täglich immer wieder zu beobachtenden zwischenmenschlichen Wohlstandsgewinn am Markt haben manche als „Wunder des Kapitalismus“ beschrieben. Unmoralisch ist daran jedenfalls nichts. Fair in dem Sinne, daß niemand übers Ohr gehauen wird, weil er das Produkt nicht auf Anhieb richtig bewerten kann oder Qualitätsmängel erst im Gebrauch feststellen kann, sollte es aber in jedem Fall zugehen. Immer mehr Kunden fordern von den Unternehmen, deren Produkte sie kaufen, über die Ware hinaus auch gesellschaftliche Verantwortung ein. Sie stimmen beim Einkaufen mit dem Geldbeutel ab. Viele Verbraucher sind bereit, mehr Geld auszugeben, wenn ein Produkt „verantwortlich“ produziert worden ist. Laut Umfragen werden zum Beispiel Moral und Fairneß immer mehr zu Maßstäben für Kaufentscheidungen, zumindest in der Einstellung der Konsumenten. In einer repräsentativen Studie haben 93 Prozent der Verbraucher angegeben, sie hielten es für sehr wichtig, daß Unternehmen moralisch korrekt handeln. Auch wenn wahrscheinlich längst nicht alle, die das sagen, auch so handeln, zeigt sich darin doch ein Trend. Moral ist Bestandteil der Kaufentscheidung. Auch diese Präferenzen der Verbraucher schlagen sich im Marktprozeß nieder und müssen nicht vom Staat vorgegeben werden. Moral hat den Markt längst erreicht. Handel, Märkte und die Ökonomie insgesamt haben mit menschlichem Verhalten zu tun. Und das ist geprägt von unserem Sinn von Moral, Fairneß und Gerechtigkeit. Unser moralisches Empfinden ist damit auch Gegenstand der Wirtschaft. Vielfach wird allerdings bestritten, daß der Kunde tatsächlich immer König ist, und es wird behauptet, daß es mit der Konsumentensouveränität gar nicht so weit her sei. Was kann der einzelne Mensch schon gegen ein Industrieunternehmen oder eine Handelskette ausrichten? Ein besonders deutliches Beispiel dafür, daß das funktionieren kann, war am Montag in der „Tageszeitung“ zu lesen. Unter der Überschrift „Mit Karotten gegen Klimafrevel“ wurde darüber berichtet, wie sich in den Vereinigten Staaten eine neue Protestform entwickelt: der „Carrotmob“. Beim „Carrotmob“, auf deutsch Karottenmeute, 46 | 47
geht es darum, mit dem vollen Einkaufwagen Politik zu machen. Wenn sich hundert Leute zusammentun – und so viele würde man für nahezu jedes Anliegen in einer deutschen Stadt zusammenbekommen –, können sie Händler und Produzenten dazu bewegen, beispielsweise umweltfreundlicher oder sozialverträglicher zu werden. Der Händler, der den höchsten Prozentsatz des Umsatzes für einen energiesparenden Geschäftsumbau einzusetzen bereit ist, bei dem wird eingekauft. „Firmen tun alles für Geld“, sagt der Erfinder. In den USA funktioniert das. Das ist ein Beispiel für Umweltschutz über den Markt. Aber auch bei uns stellen viele Unternehmen nicht nur ihre Produkte her, bewerben deren gute Qualität oder deren niedrigen Preis. Sie betreiben gleichzeitig eine Imagewerbung, für die sich neudeutsch der Begriff „Corporate Social Responsibility“ eingebürgert hat. Das bezeichnet eine soziale Verantwortung der Unternehmen. Hier leisten Firmen einen freiwilligen Beitrag beispielsweise für den Umweltschutz oder zugunsten ihrer Arbeitnehmer, die über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehen. Sie engagieren sich für die Wissenschaft, gründen Stiftungen für gemeinnützige Zwecke oder richten Betriebskindergärten ein. Selbst das Bundesarbeitsministerium, das im allgemeinen nicht gerade für große Unternehmerfreundlichkeit bekannt ist, gibt zu, daß das gesellschaftliche Engagement der deutschen Wirtschaft außerordentlich hoch ist. Deutsche Unternehmen sind auch international Vorbilder bei der Übernahme von Verantwortung. Die Politik ist mittlerweile auf diesen fahrenden Zug aufgesprungen. Das Bundesarbeitsministerium plant eine nationale CorporateSocial-Responsibility-Strategie, kurz CSR. Es soll sogar ein CSR-Label geben. Ein politisch besetzter Beirat soll entscheiden, was als sozial verantwortlich gilt und was nicht. Das halte ich allerdings für dirigistisch. Von Freiwilligkeit, Vielfältigkeit und Verantwortung bleibt dann nichts mehr. Hier soll im Gegenteil zentral politisch gesteuert werden, wie sich Unternehmen im Wettbewerb verhalten sollen. Angesichts des freiwilligen vorbildlichen Verhaltens der deutschen Wirtschaft auf diesem Gebiet drängt sich der Verdacht auf, daß die CSR-Initiative des Bundesarbeitsministers nicht mehr ist als eine ak-
tionistische Verschwendung von Steuergeldern. Das freiwillige Engagement von Unternehmen zur Imagepflege ist im Übrigen keine neue Erscheinung. Schließlich gab es den Handel schon lange vor der Einführung eines durchsetzbaren Wirtschaftsrechts. Ohne Vertrauen in die Seriosität des Handelspartners ging das nicht. Der gute Ruf war für jeden Kaufmann unverzichtbares Kapital. Ohne Verantwortung, Vertrauen und einem guten Ruf waren Geschäfte noch nie möglich. Das gehört einfach zu einem erfolgreichen Unternehmertum dazu. Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen hat in Deutschland vor allem in den Familienunternehmen, im Mittelstand eine lange Tradition. Und in der Zeit der Industrialisierung haben Unternehmen Werkswohnungen für die Arbeiter gebaut, Hilfen bei Krankheit, Erwerbsunfähigkeit und Alter geschaffen, Kindergärten eingerichtet und Kultur und Sport der Mitarbeiter gefördert. Ohne Vertrauen funktioniert auch heute kein Markt, kein Kauf und Verkauf von Waren oder Dienstleistungen. Jeder Konsument muß zu einem gewissen Grad darauf vertrauen können, daß das, was er erwirbt, in Ordnung ist. Daß Lebensmittel nicht vergiftet sind. Daß technische Geräte beim Gebrauch nicht explodieren. Daß Produktinformationen auch der Wahrheit entsprechen. Sicher, vor dem Kauf sollte sich der Konsument im Idealfall informieren. Wer sich aber vor jeder Kaufentscheidung umfassend informiert, ist zwar perfekt auf den Kauf vorbereitet, hat aber vermutlich vor lauter Studium von Testzeitschriften, vor lauter Internet-Recherchen und Expertenbefragungen keine Zeit mehr zum eigentlichen Konsumieren. Es ist nicht rational, nicht effizient, nicht wirtschaftlich, sich vollkommen, vollständig zu informieren. Vertrauen bietet dann Orientierung und Sicherheit, verringert Kontrollen und Transaktionskosten und reduziert die Komplexität im Markt. Wie wichtig Vertrauen im Wirtschaftsleben ist, erleben wir gerade jetzt, wo das Vertrauen in weiten Teilen der Finanzwelt verlorengegangen ist. Jetzt läßt sich das Vertrauen nicht so schnell wieder herstellen, schon gar nicht dadurch, daß eine Regierung erklärt, es müsse wieder Vertrauen herrschen. Der Staat muß deswegen in der gegenwärtigen Krise kräftig eingrei48 | 49
fen. Er bürgt in großem Stil dafür, daß Kredite unter Banken auch zurückgezahlt werden, um das verlorengegangene Vertrauen zu ersetzen. Markt und Moral gehören zusammen. Ohne Moral ist kein verläßliches Wirtschaften möglich. Wer seine Partner nicht korrekt behandelt, kann in Zukunft nicht erwarten, daß sie noch für Geschäfte zur Verfügung stehen. Unternehmen handeln also nicht aus rein altruistischen Gründen, wenn sie Gutes tun und sich damit einen guten Ruf erwerben. Vielmehr erhoffen sie sich dadurch ein besseres Image bei potentiellen Kunden und langfristig mehr Absatz. Das ist legitim und es zeigt, daß der Markt funktioniert. Bei größeren, börsennotierten Unternehmen ist ein solches sozial verantwortliches Verhalten mittlerweile ein wichtiger Baustein, um gute Ratings zu bekommen und von Investoren in bestimmten Fonds und Kapitalanlagen berücksichtigt zu werden. Auch wenn die Ratingagenturen aktuell gerade in Mißkredit gekommen sind, weil sie möglicherweise zu leichtsinnig gute Noten für die Bonität von Finanzinstituten verteilt haben, werden Unternehmensbewertungen auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Denn das dient, wenn die Fehler des bisherigen Systems abgestellt worden sind, der Information der Kunden und Anleger. In punkto Information und Aufklärung kann der Staat tatsächlich eine Rolle in der Marktwirtschaft spielen. Die bekannteste Institution zur Verbraucherinformation in Deutschland ist die Stiftung Warentest. Sie wurde 1964 vom Bundeswirtschaftsminister ins Leben gerufen und wird jährlich mit Steuermitteln versorgt, um Produkte zu prüfen und zu testen. Ich kenn niemanden, der an dieser segensreichen Einrichtung etwas auszusetzen hätte. Aber auch das Ordnungsrecht ist eine Möglichkeit, für mehr Aufklärung zu sorgen. Der Staat verpflichtet zum Beispiel Banken, die Kunden über die Risiken ihrer Produkte aufzuklären. Wer das als Bank nicht tut, setzt sich der Schadenersatzforderungen seiner Kunden aus. Der Konsument kann sich inzwischen auch sehr viel besser selbst informieren als früher. Die Bildung der Verbraucher ist in den vergangenen
Jahrzehnten deutlich gestiegen. Wenn man sich die letzten fünfzig Jahre ansieht, fällt einem die gestiegene Zahl an Bildungsabschlüssen im Realschul-, Abitur- und Hochschulbereich sofort ins Auge. Die Menschen sollten also in der Lage sein, Unternehmen und Produkte besser beurteilen zu können. Verbraucher wissen heute sehr viel mehr als früher über Produktionsbedingungen, Menschenrechte oder Umweltbedingungen. Sie sind kritischer geworden und informieren sich nachweislich genauer. Im Internetzeitalter und der damit einhergehenden weltweiten Vernetzung können Unternehmen den Konsumenten kaum noch etwas verheimlichen. Die Globalisierung stärkt die Macht der Verbraucher. Häufig scheint es für viele Verbraucher trotzdem noch bequemer zu sein, nach dem Staat zu rufen. Der Staat soll sagen, was das beste Produkt ist und möglichst noch alle anderen verbieten. Sich selbst zu informieren, ist schließlich mühsam. Aber das ist der Preis der Freiheit. Entscheidungen treffen zu müssen, gehört zum mündigen Bürger dazu. Denn wer von uns will sich schon alle Entscheidungen abnehmen und damit letztendlich auch aufzwingen lassen! Wer möchte sich schon seinen Lebensstil vom Staat diktieren lassen! In diesen sauren Apfel, uns als Konsumenten zu informieren, müssen wir schon beißen. Dann gilt der alte Spruch, daß der Kunde König ist – und der Konsument mündig - auch in Zukunft.
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Die Moral der Medien – Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit Bodo Hombach
Wenn plötzlich ein so antiquierter Begriff wie „Vertrauen“ (ich möchte darauf wetten bzw. schlage das hiermit vor) zum „Wort des Jahres“ wird, dürfen wir uns alle verwundert die Augen reiben. – Der Markt hat sein Recht und seine Gesetze, er hat aber auch seine Verantwortung und braucht deshalb eine Moral.
Die Moral der Medien – Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit
Das Thema, das Sie gesetzt haben – „Die Moral der Medien“ –, hat bei mir eine Menge Fragen und Reflexionen ausgelöst. Dafür habe ich zu danken. Dass der Moralbegriff – den wir gleichwohl ständig verwenden – unbestimmt ist, ist Allgemeingut. Aber an meiner Suche will ich Sie teilhaben lassen und meine Mosaiksteine abliefern, obwohl es mit Sicherheit kein in sich geschlossenes Gesamtmosaik werden kann. Was dem einen Moral, ist dem anderen Sünde. Bevor ich das mache, möchte ich die Unterzeile Ihres Themas „Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit“ aufgreifen. Wer einen solchen Zwiespalt propagiert, oder Verleger die sich da hineintreiben lassen, verspielen die Zukunft ihrer Qualitätsmedien und ihren Markt. Sie beschleunigen den Trend zum Gratisjournalismus, der keine andere Funktion hat, als den Zwischenraum zwischen Anzeigen zu füllen, und der über kurz oder lang selber zur Werbung werden wird, also auch gekauft werden kann. Nur Journalismus, der einen Mehrwert bietet, der im unübersichtlichen Dschungel von geschenkten – uns geradezu aufgedrängten – Informationen, Gerüchten und interessengeleiteten Storys und Inszenierungen einen glaubwürdigen Pfad für die Leser und Leserinnen schlagen kann, darf was kosten und wird seinen Markt behaupten. Qualitätsjournalismus muss relevant sein für die Lebensrealität der Leserinnen und Leser. Er muss ihnen Einsichten vermitteln, Hintergründe und Zusammenhänge erkennen lassen, die sonst vom Tsunami der Informationen
verschüttet werden. Früher war die schnelle, möglichst exklusive Meldung aus dem hintersten Winkel der Welt besonders wertvoll. Heute wird sie uns aufgedrängt, geht mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball, wird zunehmend nicht mehr von Journalisten, sondern von Computersystemen aufgegriffen und in die verschiedensten Distributionskanäle geleitet.
Qualität und vernünftiger Profit sind unter diesen Umständen kein Gegensatz, sondern bedingen einander. So sind nur wirtschaftlich starke Medien unabhängig und frei und können Qualität sichern. Wenn ich ausführlicher über das Hauptthema spreche, so habe ich mich absichtlich abgelöst von der konkreten Situation in unserem eigenen Unternehmen, der WAZ-Mediengruppe. Vieles von dem, was ich als Risiko und auch als Problem aufzeige, ist in unserem eigenen Hause bereits gelöst oder auf einem guten Weg. So haben wir am 2. Mai 2007 einen Ehrenkodex verabschiedet, von dem ich Ihnen auch einige Exemplare mitgebracht habe, der unser publizistisches Wirken von Schleichwerbung und unsere journalistische Arbeit von unsachgemäßen Einflüssen freihalten soll. Wir haben alle erdenklichen Maßnahmen eingeleitet und Vorkehrungen getroffen, unsere Qualität zu verbessern und Unabhängigkeit zu sichern. Das gilt für das Inland, aber auch für unser Auslandsengagement. Ich wollte meine Überlegungen nicht durch den Filter unserer eigenen Praxis laufen lassen, um das allgemein formulierte Thema nicht zu verengen. Sie wollen von mir ja keinen Unternehmensbericht. Also wie versprochen: Morgens vor dem Rasierspiegel ist die Welt noch in Ordnung. Du bist Mitarbeiter einer großen und angesehenen Zeitung mit 54 | 55
Reichweite und Einfluss. Der redet niemand drein. Die macht seit Jahrzehnten eine ansehnliche Arbeit und versteht es, sich den meisten Lesern unentbehrlich zu machen. Die nimmt ihre Mittlerrolle ernst, ist Gelenkstelle zwischen allen Räumen des öffentlichen Lebens, Drehscheibe für Ideen, Schnittpunkt für Kraftlinien aller Art, Arena, Forum, aber auch Nische und Nest, Rumpelkammer für Exkurse ins Phantastische, frech, präzise, zivil, Sendbote zwischen den Ein- und Ausgeschlossenen, Dolmetscher zwischen Oben und Unten, Gestern und Morgen, Rand und Mitte, Vor- und Nachdenkern, Instrument der Auseinandersetzung und des Zusammengehens, aktuell, flexibel, empfindsam und hart, mit Leidenschaft und Kühle, Katheter für sozialen Problemstau, Kompost-Ecke für Kulturabfall, Schredder für Abgelegtes, Abgenutztes, Abgestandenes, Seismograph für feinste Beben auf der nach oben offenen „Richter-Skala“ des Geistes, offen für jede Bitte, aber verschlossen für jeden Befehl. – Kein schlechtes Gefühl. Das Spiegelbild lächelt. „Ich kenne dich nicht, aber komm her, ich rasier dich!“ – Der Tag kann beginnen.
Auf der Fahrt ins Büro kommt es zu Momenten des Innehaltens und Nachdenkens. Da sind die Leute, um die es geht: Gesichter und Schicksale, Interessen, Prägungen, Leidenschaften, Temperamente. Was ist ihr Lebensgefühl? Welches Bild haben sie von der Welt? Was treibt sie um? Der Kündigungsbrief im Postkasten, der Lottobescheid, die jüngste Geburts- oder Todesanzeige, der DAX, das „Tor des Monats“? - Millionen „hängen rum“, sind entbehrlich, nehmen nicht mehr teil und hören die Uhr ticken. An den Häuserwänden flotte Sprüche: „Hol dir!“ „Kauf dir!“. Grelle Bilder verordnen Jugend, Gesundheit, Schönheit, Erfolg. Jetzt und hier. Wehe dem Leistungsverweigerer oder Konsum-Muffel. Wehe dem Langsamen, Umständlichen, Behinderten! Wie viele werden heute außer Atem kommen?
Ankunft im Pressehaus. Smalltalk im Aufzug. Das Wetter. Das Wochenende. Lange Korridore. Ein unglaublich zergliedertes System. Macher, Verwalter, Techniker, Gestalter, Planer. Hinter jeder Tür vielleicht ein kreativer Feuerkopf, vielleicht aber auch ein Bremser mit dem Territorialverhalten eines Merowingers. Nicht Maschinen machen die Zeitung, sondern Menschen. Da sind Redakteure mit ihren Sekretariaten. Da ist ein mittleres Heer von freien Mitarbeitern, Autoren, Fotografen, Layoutern. Da ist ein tief gestaffeltes Netz von Informationsquellen, persönlichen Kontakten, Präsenz in einschlägigen Gruppierungen, Publikationen, Akademien. Natürlich auch Technik und Logistik. Alles in allem eine lange Kette von Subjekten mit viel Erfahrung und guten Ideen, aber auch fehlbar und begriffsstutzig, mit Gelassenheit, aber auch Ungeduld und Leidenschaft. Der Leser ist das letzte Glied der Kette, mit seinen Vorlieben und Abneigungen, seinem Werdegang, Erziehung, Schule, Erfahrungen, mit seinem Charakter, Temperament und - Parteibuch. Und alles hat den Charme der Vergänglichkeit. Irgendwo im Hintergrund steht die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes, das Pressegesetz mit seinen Idealen: Menschenrechte, Wahrheitsliebe, Ausgewogenheit, Berufsethos. Jetzt ist alles an der Arbeit. Finger klappern über die Tasten, Bildschirme leuchten, Telefone summen und unzählige Gespräche im Korridor, im Aufzug, an der Frühstückstheke. Es vibriert der Betrieb. Konferenzen, Regularien, Strukturdebatten. Der nächste Unternehmensberater steht ins Haus. Synergie-Hoffnung,
Rationalisierungsanstrengung,
Qualitätssteigerung,
Einsparungen. Die Abonnentenzahlen schwanken mit fallender Tendenz, die Marktanteile sind bedroht. Früher sagte einer dem wütenden Leser „Dann lesen Sie doch eine andere Zeitung!“ – Heute greift man zum Bußgewand und sagt: „Bitte, geben Sie uns noch einmal eine Chance!“ Es gibt kaum noch Wichtigeres als Abonnentenstand und Anzeigenpegel. Ist das die „Vierte Macht im Staat“? Wir liefern gute Arbeit ab, und ist die ihr 56 | 57
Geld noch wert? Der Leser spürt es hoffentlich noch: Ein gelungener Artikel entlässt ihn nicht dümmer als er vorher war, und beim Lesen erscheint er ihm kürzer als er physikalisch ist. Er vernebelt nicht, sondern schafft Durchblick. Er macht nicht nieder, sondern richtet auf. Die Zeitung oder die Sendung erweitern seinen Horizont, ermöglichen Teilhabe, Meinungsbildung, Kontrolle der Macht. Seitdem immer mehr Menschen einen immer größeren Anteil der Welt nur noch über die Medien erfahren, entscheiden diese über die gefühlte Bedeutsamkeit eines Themas. Das ist eine tägliche Herausforderung und eine tägliche Verantwortung. Da provozierte einer: „Du hast dir nichts vorzuwerfen. Deine Zeitung ist immer noch gut. Nur deine Leser wurden schlechter.“ Treue Gefolgschaft ist aus der Mode. Es gibt immer mehr „Laufkunden“. Viele leben auf Probe, flüchtig, bis zum Widerruf. Blätter drängen auf den Markt, die kostenlos in die Menge geworfen werden. Scheinbar kostenlos, denn natürlich zahlen die Leute – über die Werbeetats und die Produktpreise. Sie zahlen auch, wenn sie das Blatt gar nicht lesen. Auch das ist wahr: Die Werbe-Inseln wachsen flächendeckend zusammen. Der Beeinflussungsversuch der PR auf journalistische Medien und die Beeinflussung der Berichterstattung durch wirtschaftliche Interessengruppen nimmt massiv zu. Für die Marketing- und Werbeabteilungen der Industrie ist es die effizienteste Form der Image- und Produktwerbung. Schleichwerbung kommt hinzu. Schon soll es Austauschbeziehungen nach dem Muster „Anzeige gegen Text“ geben. Nicht mehr alle können widerstehen. Für den Leser ist das kaum durchschaubar. Er soll es auch nicht merken. – Etliche Journalisten passen sich an. Sie orientieren sich an der politischen Mehrheitsmeinung. Sie „jagen im Rudel“, wie ein Kluger von ihnen kritisierte. Kampagnenjournalismus muss nicht mehr organisiert werden. Er ergibt sich wie von selbst. Die Neidhammel umkreisen den Sündenbock. Einige Journalisten werden zu Dienern zweier Herren. Der Lokalredakteur, der auch für die Mitarbeiter-
zeitung eines Autokonzerns schreibt, muss diesem nicht nach dem Munde reden, aber er kann ihm nach dem Ohre schweigen. Er geht Konfliktthemen aus dem Weg. - Karge Honorare in einigen Medien machen zusätzliche Einnahmen aus PR-Tätigkeiten verlockend. Doppelbindungen führen immer zur Rücksichtnahme, zu Schreib- und Recherchehemmungen im Dienste des heimlichen Auftraggebers. In vielen Blättern und Sendern werden Agenturberichte ungeprüft übernommen. Man hört, sieht und liest denselben Bericht. Das empfinden die meisten als Bestätigung. Mancher glaubt sogar dem selbsterfundenen Gerücht, wenn es zu ihm zurückkehrt.
Kritische Berichte polarisieren und verprellen. Das halten manche nicht für gut für die Abonnentenzahl.
Insgesamt scheint die Lust am argumentativen Streitgespräch nachzulassen. Komplexe Themen verwirren und ängstigen die Leute. Sie mögen es anscheinend einfach, schwarz-weiß, klar ausgerichtet, im Gleichschritt („Wir sind Papst“). Sie wollen nicht Gegenwind und Widerstand. Leser, Zuschauer und Hörer wollen Bestätigung. Es ist scheinbar einfach, sie glücklich zu machen. („Für mein Geld kann ich erwarten, dass man an meine niedrigsten Instinkte appelliert.“) Journalisten, die ihr Handwerk verstehen, gelten leider oft als lästige Schnüffelsucher und Fragensteller. Sie ähneln dem Zahnarzt. Sie bohren bis es wehtut. Dann sind sie an der richtigen Stelle. Hinter den Fassaden der Macht, hinter Verlautbarungen und offiziellen Lesarten vermuten sie interessante Abstellräume. Würdenträger machen sie nicht schüchtern. Traditionen machen sie nicht ehrfürchtig.
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Das passt einigen nicht mehr in ihre Landschaft. Analytische und kritische Fähigkeiten von Journalisten sind wichtiger denn je, aber sie werden als störend empfunden, manchmal vom eigenen Arbeitgeber. Eine große Boulevard-Zeitung stellt jedem, der ihn haben will, einen Pseudo-Presseausweis aus, und wenn große Kaufhausketten zur Bilanz-Pressekonferenz einladen, darf kein Journalist mit eigenem Kamerateam anrücken. Die Firma selbst stellt den Ü-Wagen und „verkauft“ den fertigen Bericht. Sie bietet auch die Hochglanzfotos an, und lässt sich vor dem Interview mit dem Firmenchef selbstverständlich die Fragen vorlegen. Wenn der dann trotzdem ins Stottern kommt, wird das ganze Interview kassiert. Warum lässt sich die Öffentlichkeit dies alles bieten? Die hohe Komplexität politischer, ökonomischer und sozialer Problemstellungen überfordert und ermüdet große Mehrheiten der Gesellschaft. Wer will heute überhaupt noch ein politisches Handlungskonzept als richtig oder falsch bewerten? Als „irgendwie richtig“ erscheint es, wenn es Komplexität reduziert, das heißt, wenn es in Schlagworten, fetten Schlagzeilen, Worthülsen und Vorurteilen daherkommt. Kritischer Journalismus glaubt letztlich an eine von Menschen beherrschbare Welt. Er traut sich zu, Fakten und Kriterien zu finden, die sinnvolles Handeln ermöglichen. Er unterstellt einen mehr oder minder vernünftigen Politikbetrieb, der in demokratischen Strukturen Meinungen und Informationen bewegt, um sich in diesem Wechselspiel selbst zu reproduzieren. Wer von den rund 50 Prozent Nichtwählern in diesem Lande teilt noch diesen Glauben? Vielleicht hat Journalismus als Erkenntnisweg noch nicht ausgedient, aber er kämpft ziemlich einsam – noch nicht chancenlos – gegen das Massenbündnis unkritischer Nutzer mit einer Unterhaltungs- und Verblödungsindustrie. Warum also sollte man als Politiker gegen den Trend schwimmen, wenn man Wahlen gewinnen will? Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt eine Rangliste der Pressefreiheit. Von Finnland an der Spitze bis Nordkorea am Ende. Deutschland ist
kürzlich von Platz 18 auf 23 abgerutscht. Die USA fielen in fünf Jahren von Platz 17 auf 53. In 17 Bundesstaaten gibt es keinen Quellenschutz. Das wird mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet, es betrifft aber längst jede Art von Recherche. Während die klassischen Medien vielleicht noch einer gewissen Aufsicht unterliegen, einen Ethos vertreten, herrscht im Internet die totale Anarchie. Es wimmelt von lästigen Hausierern, Hütchenspielern und Beutelschneidern. Verschrobene „Religionsstifter“ paaren sich mit Demagogen aller Art, und gleich neben der harmlosen Suchanfrage lauern reale Verbrechen und Abgründe. Auf den Bildschirmen geschehen Dinge, die den Konsens der Gesellschaft hart attackieren und das Lebensgefühl, ja die Identität vieler Menschen tief verstören. Tagtäglich erhalten sie die Lektion, dass der Respekt vor den Überzeugungen des anderen ein gestriger Schmarren ist, dass Toleranz und Menschenwürde das Spaßbedürfnis unzulässig einschränken, dass Ehrlichkeit, Geduld, Zweifel, Nachdenklichkeit zu Schleuderpreisen versteigert werden. - Kinder und Jugendliche nehmen diese Lektionen unwillkürlich auf. Sie lernen und üben, und eines Tages können sie es. Wenn dann in ihren Kreisen noch jemand von Menschenwürde, Solidarität, Bescheidenheit redet, schauen sie sich prustend an und fragen: „Was ist denn in den gefahren?“ Aber Dämonisieren ist fehl am Platze. Hinter all dem stehen handfeste Interessen. Man will nicht mich, sondern mein Geld. Sobald ich an der Kasse war, bin ich uninteressant - bis zum nächsten Mal. Widerstand ist relativ zwecklos, aber Widersetzlichkeit wäre schon viel. Ich sympathisiere mit jenem bayerischen Bauern in der Nähe von Bayreuth, von dem man sich bei uns erzählt. Der Dorfpolizist fordert ihn auf, den schadhaften Zaun zu reparieren, weil sich die „Stadtleut“ daran die Kleider zerreißen. „Werden Sie das freiwillig machen, oder sollen wir Sie zwingen?“ - Der Bauer hört geduldig zu. Dann stopft er sich eine Pfeife und sagt: „Wann’s iahnen nix aasmocht, tuans mi bitte zwingen!“
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Die Alten spüren noch die tief eingewurzelte Sorge vor monopolisierter Meinungsmacht. Im Internet ist jeder Monopolist. Seine Botschaft kann sich über die Kanäle und Synapsen des Netzes so schnell bewegen und multiplizieren, dass die klassischen Mediensaurier nur noch konsterniert hinterherschauen. Verblasene Theorien, Privatreligionen und Fehl-Informationen werden zu Viren, die sich explosiv verbreiten und sich von keiner Firewall beeindrucken lassen. Zudem bleiben sie jahrelang im Web.
Ich hatte große Hoffnung in die Partizipation, die Emanzipation und das Wissen der Vielen. Aber zur Zeit überfällt mich in dieser Frage ein Zustand der fidelen Resignation.
Das schon immer zerbrechliche Ethos der Trennung von Information und Kommentar erscheint als ein Restposten der Aufklärung. Es treibt nur noch wenige um. „Wie kann ich wissen, was ich meine, bevor ich denke, was ich sage!“ Im Kampf um die Aufmerksamkeit zählt nicht das verifizierte Faktum, sondern zunehmend der Blog, die Meinung, und diese ist zu oft nicht das Ergebnis eines kognitiven und diskursiven Prozesses, sondern vegetativer Schrei, verschwommenes Lebenszeichen, mulchige Verbrüderung. Man blickt nicht mehr von der Außenwelt auf das Internet, sondern nur noch aus dem Internet auf die Welt. Deren Bewohner könnten so zu Informationsriesen, aber Wissenszwergen und Bildungsmikroben werden. Hier bedarf es endlich einer breiten „medienpolitischen“ Diskussion und der Medienbildung. Früher durchlief eine Meinung zahlreiche Filter, bevor sie die Öffentlichkeit erreichte. In der Demokratie durfte zwar jeder mehr oder weniger sagen, was er wollte, hatte aber nur geringe Chancen, sich weithin Gehör zu verschaffen, wenn er nicht unmittelbar Zugang zu den Verteilungs- und Verstärkermechanismen hatte. Daneben gab es nur einen riesigen Stammtisch und private Zirkel ohne öffentlichen Geltungsanspruch. Das war bedauerlich bei guten Ideen. Es federte aber auch die schlechten ab.
Zwischen 1933 und 1945 konnte man erleben, was mit einem Land geschieht, wenn Stammtischkrakeeler an die Macht gelangen und sie nicht mehr hergeben. – Jetzt werden wir umgehen müssen mit einer Gesellschaft, bei der jede noch so obskure Spinnerei im Internet „auf Sendung“ geht, überall auf der Welt zugänglich wird und unwiderruflich vorhanden bleibt, und das ohne „Fünf-Prozent-Klausel“ für Fanatiker, Demagogen, Phantasten. Der Karikaturenstreit hat Kulturen wie die aus Dänemark und die pakistanische, die mangels Begegnung nie Grenzkriege hätten, in einen zunächst virtuellen, später sehr realen Konflikt gehetzt. Dass dänische Milchprodukte aus arabischen Kühltheken verschwanden, war das geringste Problem. Nein. Man darf das Entstehen multiperspektivischer Verhältnisse nicht prinzipiell diffamieren. Der Informationsstand von Online-Lesern könnte sich durchaus verbessern, wenn die so unendlich vielen heterogenen Informationsquellen verfügbar wären und genutzt würden. Vielleicht erleben wir gegenwärtig die Entsakralisierung der Medien. Die Zeit des Kündens und Erziehens ist vorbei. Vielleicht ist das unter den Schaumkronen eine subtile Art des Fortschritts, und es ist nur die Plötzlichkeit, die uns erschreckt. Hat sich nicht auch die Entsakralisierung der Macht in der europäischen Kultur als ungeheurer Zugewinn herausgestellt. Und wer weiß, vielleicht sollten sogar die Frommen die Säkularisierung aller Lebensverhältnisse als einen längst fälligen Offenbarungsschub begreifen.
Die Welt hat besseres verdient als neuen Pessimismus, denn sie steht vor ungeheuren Herausforderungen: Die technische Machbarkeit des Weltuntergangs, die Verfügbarkeit der Evolution im Reagenzglas. Die ökologische Bedrohung elementarer Lebensgrundlagen. Die Globalisierung von Arbeit, Markt und Kapital. Der grenzüberschreitende Terrorismus und das organisierte Verbrechen. Die massen62 | 63
hafte Armutswanderung. Die immer noch anarchische Grundstruktur der Staatenwelt. Die Finanzkrise. Die Alterspyramide. Die Flucht in fundamentalistische Rückwärtsträume. Die unter wahnwitzigen individuellen Glücksvorstellungen langsam zerbrechenden moralischen und sozialen Genome. Das Verheizen mühsam erkämpfter Freiheiten für eine Illusion von Sicherheit. Das alles wird die humane Spannkraft der demokratischen Gesellschaft bis an den Bruchpunkt testen. Das fordert Wachsamkeit und Sensibilität, einen republikanischen Mut und ein Maß an belastbarer Solidarität, wie sie vielleicht noch nie gefordert waren. Bei allem spielen die Medien eine ganz entscheidende Rolle, und deshalb müssen auch sie sich entscheiden. Wollen sie verwirren oder aufklären? Wollen sie aufrichten oder niedermachen? Wollen sie ermuntern und ermutigen oder lähmende Apathie verbreiten? Wollen sie helfen, die guten Ideen, die zukunftsstarken Kräfte, die dynamischen Bündnisse wie Nuggets aus dem Geröll herauszuwaschen, oder wollen sie die Probleme überzuckern und die Massen zynisch als willenlosen Heringsschwarm an den Kassen vorbeischleusen? Die Weltfinanzkrise hat in aller Schärfe geklärt, was längst schon einmal klar war. Alles ist mit allem verflochten. Es gibt nur noch eine Welt-Innenpolitik. Eine Marktwirtschaft, die ihren sozialen Sinn und Zweck nicht mehr kennt, in der entfesselte Gier Einzelner das ihnen anvertraute Geld ins nächste Kasino trägt, ist – ich sage das mit ganz bescheidenen Worten – eine sehr unintelligente Methode, mit den Problemen umzugehen. Sie erwarten nicht von mir, dass ich jetzt die Börse erkläre. Aber ich denke, die Börsianer sind uns eine Erklärung schuldig. Wenn plötzlich ein so antiquierter Begriff wie „Vertrauen“ (ich möchte darauf wetten bzw. schlage das hiermit vor) zum „Wort des Jahres“ wird, dürfen wir uns alle verwundert die Augen reiben. – Der Markt hat sein Recht und seine Gesetze, er hat aber auch seine Verantwortung und braucht deshalb eine Moral.
Die flüchtige Maximierung der Gewinne, schon gar, wenn man das Geld anderer Leute in die eigene Tasche verliert, kann nicht das einzige Kriterium sein. Und wenn sich – wie Josef Ackermann das jüngst, und sicher nach einer durchwachten Nacht, trefflich kennzeichnete – immer größere Teile der Welt in Wertpapiere verwandeln und diese meistbietend versteigert werden, muss sich niemand mehr schämen, wenn er dem Markt und seinen Strategen auch ein paar moralische Maßstäbe ins Stammbuch schreibt. Die Medien müssen sich fragen, wie weit sie das drohende Verhängnis, dass einige Banken der Wirtschaft nicht mehr dienen wollen, sondern selber Finanzwirtschaft („Geld gebiert Geld“) sein wollen, ignoriert oder durch Förderung der allgemeinen Spielerlaune gefördert haben. Sie müssen sich künftig überlegen, ob sie das spekulative Spiel mit Arbeitsplätzen, Zukunftschancen und Altersversorgung weiterhin als „Demokratisierung“ der Börse feiern oder den so entfesselten Breitensport eher dämpfen sollten. Und wo sie noch nicht die richtigen Antworten haben, sollten sie wenigstens die richtigen Fragen stellen.
Es gibt die Moral des Einzelnen. Es gibt aber auch die Moral des Systems. Der eben noch gefeierte Clan der pekuniären Schlachtenlenker hat natürlich das dringende Interesse, das billionenschwere Debakel als Missgriff Einzelner hinzustellen, um das System als solches aus dem Feuer zu nehmen. Neulich sagte einer ihrer Vertreter bei Sandra Maischberger, man solle doch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. 98 % aller Banker seien ehrbare und verantwortungsbewusste Kaufleute, nur 2 % müsse man leider zu den Ausreißern und Schadenstiftern rechnen. Das Argument geht nach hinten los. Wie ehrbar und verantwortungsbewusst, wie moralisch ist denn ein System, wo 2% seiner Betreiber genügen, es selbst zu zerstören und die ganze Weltwirtschaft mit in den Abgrund zu reißen?! 64 | 65
Eines wage ich kaum zu fragen: Was geschieht zur Zeit hinter ostdeutschen Stirnen, die 1989 froh waren, den real existierenden Sozialismus los zu sein und dies in einer unblutigen Revolution erkämpft hatten und denen man den real existierenden Kapitalismus als heilsnotwenig angepriesen und „treuhänderisch“ eingebläut hat? Zurück zu den Medien. Themen liegen manchmal in der Luft. Aber damit sind sie noch nicht in aller Munde. Geschichte entwickelt sich nicht in einem gleichförmig dahinfließenden Strom, sondern stufenförmig und merkwürdig sprunghaft. Lange gibt es eine Art „Hochebene“, unauffällig und scheinbar ereignisarm, aber sie reichert sich an, sie lädt sich auf mit Fragezeichen, mit einer sozialen Energie, mit einem Spannungspotenzial. Aus einem Dilemma, einem ungelösten Problem, einem Gerechtigkeitsdefizit usw. entsteht ein neuer Blick auf die alten Verhältnisse, zunächst nur bei Menschen mit feinem Sensorium, die es versuchsweise artikulieren und dafür Gelächter oder Ablehnung ernten. Aber dann plötzlich – ausgelöst vielleicht durch ein unscheinbares Ereignis, schlagen alle Zeiger aus, und springt die Entwicklung auf eine neue Ebene. – Der Chemiker kennt das Phänomen der gesättigten Lösung. Man sieht es ihr nicht an, aber eine winzige Turbulenz oder Verschmutzung genügt, und schlagartig bilden sich überraschende Kristalle. Künstlich gesetzte Themen haben wenig Chancen. Die Leute spüren, dass da etwas nicht stimmt und wenden sich ab. – Man weiß, dass Kaiser Wilhelm II. im Vollbesitz seiner geistigen Schlichtheit Agenten in die Bevölkerung schickte, die ihn als „Wilhelm den Großen“ propagieren und populär machen sollten. Sie liefen vor die Wand. Agenda-Setting versucht, die „gesättigten Lösungen“ im Gemenge der Gesellschaft aufzuspüren und dann geschickt und im rechten Augenblick die „Verschmutzung“ zu droppen, an der sich Kristalle bilden. Ich will nur einige Parameter stichwortartig kennzeichnen. Journalisten berichten über Ereignisse. Sie machen sie nicht. Dass der naive „Agenda-Setter“ zuweilen eine
Wirkung erzielt, mit der er gar nicht gerechnet hat, ist zu beobachten. Zu grob nämlich sind vorerst seine Steuerungswerkzeuge und zu unberechenbar die Verhältnisse, auf die er sie anwendet. Die Betonung eines Themas in den Massenmedien etwa macht den Rezipienten aufmerksam. Er selbst aber entscheidet, ob ihn das Thema wirklich betrifft und wie er es in seine persönliche Interessenlage einordnet. Nicht wenige Themen bleiben ihm schon aufgrund ihrer Komplexität und seiner kognitiven Belastbarkeit unzugänglich. Ähnliches gilt für die Häufigkeit, mit der ein Thema platziert wird. Gewiss steigert sie bei vielen das Gefühl von Bedeutsamkeit, sie kann aber sehr rasch zum „overkill“ führen und dann eher Überdruss als Interesse erzeugen. Auch hier steuert das persönliche Interesse des Rezipienten den Prozess wesentlich mit. Nicht einmal die Priorität oder Prominenz, mit der ein Thema in den Medien erscheint, garantiert das Einschwingen des Rezipienten. Viele sind überhaupt nicht interessiert und setzen sich der Attacke gar nicht erst aus, indem sie z.B. überhören bzw. überlesen. Andere scannen nur oberflächlich die Hitliste, ohne daraus für sich greifbare Schlüsse zu ziehen. Weitere Faktoren kommen hinzu. Die Natur des Themas spielt eine Rolle. Ist es neu und überraschend? Ist es konkret und anschaulich? Ist es andererseits unscharf genug, um sich als Projektionsfläche für möglichst Viele zu eignen? Lässt es sich personalisieren? Ist es ein Saisonartikel oder hat es nachhaltige Bedeutung? Kann man es mit mythischen Bildern oder archetypischen Grundmustern verknüpfen? Die bloße Behauptung von „angesagt“ oder „kultig“ glauben nur noch sehr wenig Leser. Der Rezipient ist kein Mensch ohne Eigenschaften. Er ist eine ziemlich unübersichtliche Bündelung von Erfahrungen, Interessen, Charakterzügen, von 66 | 67
guten oder schlechten Gewohnheiten, von Stamm- oder Großhirn, Peristaltik und Blutdruck. Und all dies sind Faktoren, die das Zielgebiet des AgendaSetters vernebeln und die Ballistik seiner Geschosse erheblich beeinflussen. Und auch die eingesetzten Medien haben ihr Eigenleben mit technischen Voraussetzungen, spezifischen Organisationsformen, dramaturgischen Erfordernissen und natürlich mit der gestalterischen Kompetenz der Hersteller. Schließlich ist mindestens noch die Umwelt beteiligt. Unvorhersehbare Ereignisse stören oder verstärken die Wahrnehmung des Themas. Man bedenke, wie tiefgreifend das Attentat auf die Türme in Manhattan das Lebensgefühl des Westens irritiert und nachhaltig verändert hat. Seherisch gefundene und klug gesetzte Kampagnen können plötzlich für lange Zeit oder immer verschüttet werden. Es ist wie beim Feuermachen. Drei Dinge müssen zusammenkommen: Brennmaterial (ein geeignetes Thema), Zündfunke (ein auslösendes Ereignis) und Sauerstoff (ein atmosphärisch förderliches Umfeld). Wenn es dann, wie bei der Finanzkrise, um das eigene Geld geht, ist natürlich alles hellwach. Die Suche nach der „Weltformel“ des Medienerfolgs ist ein liebenswertes Spiel, das natürlich auch der unterzuckerten Kommunikationsforschung immer wieder rote Bäckchen beschert, es ist aber noch zu keinem plausiblen Ergebnis gekommen. Wer Agenda-Setting professionell betreiben will, muss sich eine Formel aus vielen Variablen basteln und sie sehr komplex miteinander verknüpfen. Ich vermute, am Ende braucht es dann doch wieder jemanden, der sich auf sein Bauchgefühl verlässt, den es intuitiv in der Nase kribbelt und der den Empirikern mit einer hohnlachenden Kapriole entkommt.
Eine Individualgesellschaft wird sich gegen die positive oder negative Manipulation ihres Denkens wehren. Sie hat eine reich gegliederte Binnenstruktur, besteht also aus vielen einzelnen Personen und Gruppierungen, die sich als kleine Kompetenz-Center verstehen. Ich denke an die Zeit der frühen 70er Jahre, als etwa die Bonner Parteien überzeugt waren, die Welt sei restlos unter ihnen aufgeteilt. Plötzlich bildeten sich zahlreiche Bürgerinitiativen, projektbezogen, mit Fach- und Sachkompetenz (vor allem mit der Kompetenz der unmittelbar Betroffenen). Und was sie im Lokalbereich übten, hatte regionale Folgen. Aus Bürgerinitiativen wurden Bürgerbewegungen (Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung), und dann sogar neue Parteien. Im Augenblick fällt es schon leichter, massenwirksame Trends zu setzen. Die ökonomisch ergiebige Normierung der Gesellschaft ist mächtig vorangekommen. Dass Themen nicht einfach nur „sind“, sondern tatsächlich „gemacht“ werden können, ist keine besonders aufregende Erkenntnis, denn das begleitet die Kulturgeschichte, solange es sie gibt. Ich kenne keinen bedeutenden Philosophen, Dichter, Wissenschaftler, der nicht Themen gesetzt hätte und manchmal seiner ganzen Epoche damit den Stempel aufdrückte. Im Jahre 1517 schlüpfte z.B. ein Augustinermönch in Wittenberg in die Rolle des Agenda-Setters. Sein Thema, der gigantische Reformstau des späten Mittelalters, lag in der Luft. Es verknüpfte sich mit zahlreichen Haupt- und Nebensträngen. Unmittelbaren Handlungsbedarf erzeugte Tetzel mit seinem schamlosen Ablasshandel. Luther leistete den ersten und unumgänglichen Schritt. Er reduzierte die Komplexität des Themas und erschütterte die gesättigte Lösung. Er brachte 95 Thesen zu Papier und suchte nach einem Zugang zur allgemeinen Öffentlichkeit. Hier kam die Rolle der Medien ins Spiel. Die waren ihm zunächst verschlossen (bis auf Kanzel und Katheder), weil in der Hand von Staat und Kirche, und deren „gatekeeper“ würden sich hüten, dem 68 | 69
ungebärdigen Mönch ein Forum zu überlassen. Ihm blieb nur die Tür der Schlosskirche. Aber nun passierte es. Seit kurzem gab es ein neues Medium, ein Massenmedium, das sich dank neuer Technik den totalen Kontrollen entziehen ließ: die beweglichen Lettern des Herrn Gutenberg. Innerhalb von 14 Tagen verbreiteten sich die Thesen im ganzen Reich. Zündfunke, Brennmaterial und Sauerstoff kamen zusammen. Der Flächenbrand war da, und nun konnte sich jeder daran erwärmen, sein Süppchen kochen oder sich die Finger verbrennen. Die Agenda der nächsten Jahrhunderte war gesetzt – und ist noch immer nicht völlig abgearbeitet… Und was war genau passiert? Das große Börsenspiel der Römischen Kirche hatte überzogen. Zertifikate wie Ablassbriefe, Sakramente und Votiv-Messen waren nicht gedeckt. Raffiniert ausgeklügelte Derivate des Gnadenhandels wie Rosenkränze, Wallfahrten und Reliquienkult stürzten ab. Das Vertrauen der Kunden brach kaskadenartig zusammen. Natürlich eilte der Papst auf die nächstgelegene Kanzel und versicherte den Leuten, ihre frommen Spareinlagen seien sicher, und im schlimmsten Fall würde er schon für Deckung sorgen, aber auch die großen Institute Vatikan, Fugger und der Erzbischof von Mainz trauten sich nicht mehr über den Weg. Die Kapitalflüsse der Gnaden stockten. Der Markt kam zum Erliegen.
Und das Schlimmste: Dieser verfluchte Luther predigte den Leuten, sie seien auf den ganzen Kram gar nicht angewiesen. Sie hätten einen unmittelbaren Zugang zu Gott. Allein der Glaube, allein das Wort, allein die Schrift ebne ihnen den Weg ins Paradies. Den „neuen Menschen“ wird es nicht geben. Er ist und bleibt der alte. Er wird sich weiterhin an den Stammtischen erhitzen und bei etlichen Glas Bier den Palästina-Konflikt, die Klimakatastrophe und die Arbeitslosigkeit lösen, die Rechtmäßigkeit eines Elfmeters bestreiten und die Umgehungsstraße für den
Ortskern fordern und alles, von der Bahnaktie bis zur Gesundheitsreform, von Merkel bis Münte, vom Big Bang bis zur Entropie des Universums, in genau der Sekunde vergessen, wo die noch größere apokalyptische Gefahr an die Wand gemalt wird. Wir brauchen Vertrauen. Wir brauchen Kontrolle. Nicht das eine statt des anderen, sondern in sinnvoller Arbeitsteilung. Ich notiere etwas flapsig, aber nicht unernst ein paar Gebote für Medienmacher:
1. Mache niemals Menschen zum Objekt materieller Interessen!
2. Glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Glaube keinem, der sie
gefunden hat. (Tucholsky)
3. Schütze die Menschen- und Freiheitsrechte, wo immer sie
bedroht sind.
4. Der, auf den alle einschlagen, er habe bei Dir Frieden. (Lessing)
5. Jedes Ding hat zwei Seiten, meistens noch eine dritte.
6. Das Gegenteil der Wahrheit ist auch nicht ganz falsch.
7. Wenn Dir Vergleiche trefflich erscheinen, / sie hinken vielleicht
auf beiden Beinen.
8. Das „gesunde Volksempfinden“ ist eine Falle. Die Wahrheit geht
nicht hinein.
9. Liebe (die Wahrheit)! – und dann tu, was Du willst! (Augustinus)
Der alte Matthias Claudius kommt mir in den Sinn. Der bescheidene und fromme Mann hat der ganzen Welt das Geheimnis einer guten Verfassung erklärt: „Ein jeder Mensch“ schrieb er, „hat das Recht, wenn er allein auf einem Rasen liegt, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Will er aber, damit ihn bei Nacht der Wolf nicht störe oder um anderer Vorteile 70 | 71
willen, als Bürger, das ist in Gesellschaft, liegen, so hat er nach wie vor das Recht, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Aber die anderen haben das Recht auch! Und weil nun auf dem Rasen für alle Beine nicht Platz ist, so muss er sich zu einer anderen Lage bequemen. Und das Geheimnis und die Güte der Einrichtung besteht darin, dass für alle Beine gesorgt werde und einige nicht zu eng und krumm und andere nicht zu weit und gerade liegen.“ Damit könnte ich leben. – Sie vielleicht auch. Wenn Ihnen meine Überlegungen zur Moral der Medien „zu wenig Zeigefinger zeigen“ oder zu wenig rezeptiv wirken, dann haben Sie Recht. Moral kann man nicht in Gleichungen und Kurzregeln erfassen. Sie ist so komplex wie das menschliche Individuum und seine Gesellschaft.
Ich sehe die gesellschaftlich wichtigste Funktion der Medien tatsächlich weniger in der Suche nach der eigenen Moral, sondern in der Schaffung von Transparenz und dadurch in der Kontrolle der Macht und der Mächtigen.
Glaubwürdigkeit und der unbedingte Wille zur Wahrhaftigkeit sind als Elemente von Moral die entscheidende Basis. Ich gehe so weit, dass die große moralische Prüffrage, der kategorische Imperativ, den Immanuel Kant uns allen auferlegt hat, nämlich die Frage „Was ist, wenn es alle tun?“ in der Realität der Mediengesellschaft anders lautet. Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft lautet: „Was ist, wenn es rauskommt?“ Meine persönliche Biografie hat mich in die unterschiedlichsten Beziehungen zu Medien gesetzt. Wie kaum ein anderer habe ich fast alle Facetten
möglichen Zusammenwirkens selber erfahren und darin eine Rolle gehabt. Die Quintessenz meiner Lebenserfahrung ist: Nichts kontrolliert die Macht und die Mächtigen so sehr und befördert sogar ihre Selbstkontrolle wie das Risiko, dass etwas veröffentlicht werden könnte, was sie nicht veröffentlicht sehen wollen. Dabei kann es Kollateralschäden geben und durchaus Verwicklungen, die moralischen Maßstäben nicht standhalten. Aber die Fähigkeit und Möglichkeit der Medien zur Enthüllung ist als vierte Säule der Demokratie durch nichts ersetzbar.
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Vorbildspreis der Bayreuther Dialoge Dr. h. c. Helmut O. Maucher
Herr Dr. Maucher hat die Schweizer Nestlé AG als Generaldirektor und Präsident in der Zeit von 1980 bis 2000 zu einem echten Weltkonzern mit 260.000 Mitarbeitern geführt. Er gilt wegen seiner Tatkraft sowie seiner mutigen und weisen Führung als eine der angesehensten Führungspersönlichkeiten unserer Zeit.
„Herr Dr. Maucher wird nicht müde, Rückgrat, Mut und Aufrichtigkeit in der Führung zu fordern. Dabei spricht er gerne Klartext und ist nie bequem.” Zitiert aus der Laudatio für den Bayreuther Vorbildspreis 2009 an Dr. Helmut Maucher
Vorbildspreis
Der Vorbildspreis der Bayreuther Dialoge wurde im Jahr 2009 Dr. Helmut Maucher, dem Ehrenpräsidenten von Nestle, überreicht. Das Auditorium des Symposiums kann den aus der Laudatio zitierten Satz über Helmut Maucher nach dessen Rede bestätigen: Trotz seines hohen Alters strahlte Herr Maucher die von ihm geforderten Eigenschaften wie Rückgrat, Mut und Aufrichtigkeit aus und bestärkte dieses Bild noch einmal mit seinem Vortrag über das Thema “Lohnt sich Moral im Geschäft?”. Bei all seiner Erfahrung und Stellung in einem global agierendem Unternehmen ist er ein ausgesprochen sympathischer und offener Mensch, was besonders deutlich wurde, als er unangekündigt an einem Workshop mit vielen Studenten rege teilnahm. Sowohl den Organisatoren, als auch der Jury des Bayreuther Vorbildspreises war nach dem authentischen, ehrlichen und appellierenden Vortrag klar, dass sie mit der Wahl des Preisträgers 2009 richtig lagen. Allerdings soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es im Anschluss an das Symposium einige Stimmen in der Bayreuther Bevölkerung und Studentenschaft gab, die diese Wahl kritisierten. Hauptargument der Kritiker war der Babymilchskandal von Nestlé in den 70er Jahren. Unserer Ansicht hat sich Helmut Maucher in eben dieser schwierigen Phase für das Unternehmen als Vorbild herausgestellt: Er reagierte auf die Vorwürfe, ging mit den Kritikern in einen Dialog, entwickelte zusammen mit ihnen einen neuen Marketingkodex für Nestle und stellte sich somit der sozialen Verantwortung des Unternehmens. Dieses Vorgehen machten sich unter anderem auch Adidas und Nike zum Vorbild und adaptierten es später.
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Lohnt sich Moral im Geschäft? Der Stellenwert von Moral für nachhaltigen Erfolg Dr. h. c. Helmut O. Maucher
Es gibt ja kaum einen Geschäftsbericht oder eine PR-Broschüre, in der nicht steht: „Wir sind uns unserer gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung bewusst, und der Mensch steht bei uns selbstverständlich im Mittelpunkt.“ Die Praxis sieht aber oft ganz anders aus. Lassen Sie es mich klar sagen: Meine Damen und Herren, die wichtigste soziale und ethische Verantwortung der Unternehmer ist es, langfristig am Markt und im Wettbewerb erfolgreich zu sein, und damit den Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu sichern.
Lohnt sich Moral im Geschäft? Der Stellenwert von Moral für nachhaltigen Erfolg Bei der Vorbereitung des Themas „Moralisierung der Märkte“ für die diesjährigen Dialogtage haben die Veranstalter sicher noch nicht gewusst, wie aktuell dieses Thema im Hinblick auf die derzeitige Finanzkrise werden würde, und in welchem Ausmaß Handlungen ohne Moral schließlich auch für das Geschäft schädlich sein können. Wir haben damit heute also einen schlagenden Beweis in der Hand, welchen Stellenwert die Moral schließlich auch für das Geschäftsleben hat. Von uns hat wohl niemand geglaubt, dass sich diese Finanzkrise inzwischen so katastrophal entwickeln würde, und ahnen können, wie schlimm sich einige der Akteure verhalten würden. Man kann diese Entwicklung aus meiner Sicht ja eigentlich nur erklären aus einer Haltung von übertriebener Kurzfristigkeit, maßloser Gier und zusätzlich noch einem gehörigen Maß an Dummheit.
Wenn der Chef der größten deutschen Bank vor zwei oder drei Jahren erklärt, er strebe eine Eigenkapitalrendite von 25 % an, dann ist das eigentlich ungeheuerlich. In einer normal funktionierenden, wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft ist es ganz einfach nicht möglich, eine nachhaltige Rendite von 25 % zu erzielen (es sei denn, man hat gerade eine tolle Innovation entwickelt, mit der man für einige Jahre sogar 100 % verdienen kann). Denn entweder ist ein solches Ziel unrealistisch, oder es wird mit Mitteln erreicht, die langfristig sehr fragwürdig sind, mit zuviel Leverage und zuviel Risiko behaftet und an der Grenze der Legalität sind – oder diese sogar überschreiten.
In diesem Zusammenhang nebenbei noch eine Bemerkung: Noch nie wurde meines Erachtens soviel über Wertorientierung, Nachhaltigkeit und Ethik gesprochen wie in den letzten fünf Jahren und gleichzeitig wurde gegen diese Grundsätze noch nie so stark verstoßen. Man muss sich natürlich fragen, wie kommt eine solche Entwicklung zustande? Natürlich spielt hier die zunehmende Globalisierung und der damit verschärfte Wettbewerb eine große Rolle. Hinzukommt, dass ein gewisser angelsächsischer Einfluss eines reinen Kapitalismus bei uns in Europa und auch in Deutschland zugenommen hat. Ich erinnere an einen zunehmenden Einfluss von Analysten, einigen institutionellen Investoren, Quartalsberichten, und einer Überbetonung des kurzfristigen Sharevalues. Ich habe diese Leute Sharevalue-Fetischisten genannt. Hinzukommen aber auch mentale Veränderungen, die ich mit aller Vorsicht erwähne möchte. Verallgemeinerungen sind immer falsch, aber generell möchte ich kurz sagen, dass bei der früheren Generation, als diese am Ruder war, es sich um Leute handelte mit Commitments, und wir heute mehr Leute haben, die mehr die Optionen betrachten. Für uns waren gewisse Dinge nonnegotiable. Ich möchte allerdings dazu sagen, dass ich heute gerade bei der jüngeren Generation viele positive Eigenschaften feststelle, die wieder mehr mit Engagement und Leistung zusammenhängen. Wir haben wohl in den letzten 20 bis 30 Jahren zum Teil falsche Kriterien angewandt bei der Auswahl von Aufsichträten und Führungskräften. Professionelle Kenntnisse und Cleverness waren zum Teil wichtiger als Charakter und Persönlichkeitswerte. Ich hoffe aber, meine Damen und Herren, dass aus dieser Finanzkrise, und auch aus anderen Skandalen wie zum Beispiel überhöhte Gehälter, das Verhalten gewisser Hedgefonds-Manager und übertriebene und kurzfristig ausgerichtete Verlagerungen ins Ausland sowie eine übertriebene OutsourcingMentalität, aber auch das teilweise brutale Verhalten von Einkäufern sowie die Zunahme von Korruption und schwarzen Kassen, dass aus all dem Lehren gezogen werden, und man einsieht, dass solche Dinge letztlich nicht im Interesse der Unternehmen und deren langfristigen Erfolgs sind. 80 | 81
Damit ist eigentlich die Frage, ob Moral sich langfristig lohnt, beantwortet. Trotzdem möchte ich anhand einzelner Fragen der Unternehmensführung und der Unternehmenspolitik dem Stellenwert von Moral und seinem Nutzen für nachhaltigen Erfolg mit den folgenden Bemerkungen nachgehen. In diesem Zusammenhang bin ich mit dem Grundthema der diesjährigen Dialogtage nicht ganz einverstanden. Der Begriff „Moralisierung der Märkte“ ist für mich gewissermaßen zu moralisierend und kann leicht zur Heuchelei und zur Verlogenheit führen. Und nichts wäre tödlicher für wirkliches und konkretes moralisches Verhalten in der Unternehmenspraxis. Kommen wir in diesem Zusammenhang gleich zum dem vielgepriesenen und oft zitierten ethischen und sozialen Verhalten der Unternehmen. Es gibt ja kaum einen Geschäftsbericht oder eine PR-Broschüre, in der nicht steht: „Wir sind uns unserer gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung bewusst, und der Mensch steht bei uns selbstverständlich im Mittelpunkt.“ Die Praxis sieht aber oft ganz anders aus. Lassen Sie es mich klar sagen: Meine Damen und Herren, die wichtigste soziale und ethische Verantwortung der Unternehmer ist es, langfristig am Markt und im Wettbewerb erfolgreich zu sein, und damit den Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu sichern. Damit wird ein wichtiger Beitrag zum Wohlstand und zum Gedeihen der Wirtschaft geleistet, wovon letztlich alle profitieren. Ein gutes Unternehmen zahlt damit auch die für die Gemeinschaftsaufgaben notwendigen Steuern und schließlich werden über eine erfolgreiche Unternehmensführung auch die Arbeitsplätze gesichert, erhalten und vermehrt. Diese grundlegenden Aufgaben eines Unternehmens sind deshalb auch dessen wichtigste soziale und ethische Verantwortung. Im Übrigen nehmen wir natürlich darüber hinaus unsere soziale, ethische und ökologische Verantwortung wahr. Eine solche Haltung ist auch im lang-
fristigen Interesse des Unternehmens, weil dadurch das wichtige Image eines Unternehmens gefördert wird, und auch die langfristige Motivation der Mitarbeiter erhalten bleibt. Übrigens haben derartige Haltungen soweit sie zu zusätzlichen Ausgaben führen, da ihre Grenze, wo wir unsere Wettbewerbsfähigkeit gefährden, wenn die Wettbewerber nicht ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Hierbei wird ja oft die Frage gestellt: Wie stellen wir uns zur notwendigen Rationalisierung und Restrukturierung eines Unternehmens, die oft auch mit Reduzierung von Arbeitsplätzen verbunden ist? Um es klar zu sagen: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, und damit langfristig auch im Interesse der Arbeitnehmer erfolgreich zu sein, müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden in Richtung Rationalisierung und Kostensenkung. Es kommt aber darauf an, wie man es macht, und wie man damit umgeht. Eine soziale Flankierung solcher Maßnahmen, eine Streckung über mehrere Jahre etc. ist oft die beste Investition in die Mitarbeiter und deren Motivation wie auch in das Image des Unternehmens, was ja für das Bestehen im Markt heute ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt. Ich glaube auch, dass man mit einer solchen Politik betriebsbedingte Kündigungen vermeiden kann, wenn man alle Möglichkeiten nutzt und nicht kurzfristig das Rationalisierungsziel schon erreichen möchte. Man sollte beispielsweise die Erreichung der Pensionierungs- und Altersgrenze nutzen, ebenso wie die normale Fluktuation und darüber hinaus durch Umschulungen Mitarbeitern neue Arbeitsplätze vermitteln. Nun besteht das Dilemma ja darin, dass sich der Unternehmer heute einerseits mit einer ständigen Zunahme der gesellschaftlichen Anforderungen in Richtung Ethik, Ökologie, soziales Verhalten bis zu Sponsoring, Unterstüt82 | 83
zung von karitativen Einrichtungen und andererseits mit einer Zunahme der Financial Pressures mehr in Richtung Kurzfristigkeit, Shareholdervalue und Gewinnmaximierung konfrontiert sieht. Hier als Unternehmenschef die richtige Balance zu finden im Sinne eines langfristigen Unternehmensinteresses ist nicht immer einfach, aber sehr wichtig. Ich habe aber am Anfang schon gesagt, dass eine langfristige und erfolgreiche Unternehmensführung, und damit die Berücksichtigung auch moralischer Aspekte, in erster Linie von der richtigen Auswahl der Führungskräfte abhängt. Aus meiner Sicht sind neben Ausbildung und beruflicher Erfahrung die folgenden Eigenschaften für Führungskräfte wichtig, und dies umso mehr, je höher die Position ist, nämlich:
• Mut, Nerven und Gelassenheit
• Lernfähigkeit, Sensibilität für Neues, Vorstellungsvermögen für
die Zukunft oder „Vision“, wie man heute sagt
• Kommunikations- und Motivationsfähigkeit nach innen und
nach außen
• Fähigkeit zur Schaffung eines innovativen Klimas
• Denken in Zusammenhängen
• Glaubwürdigkeit
• Bereitschaft zur ständigen Veränderung und die Fähigkeit,
den Wechsel zu managen
• internationale Erfahrung und Verständnis für
andere Kulturen und außerdem:
• Bescheidenheit (aber mit Stil), kein Beitrag zur Verwilderung
der Sitten leisten, sondern eher beispielhaft wirken.
• Schließlich: Eine Eigenschaft, auf die ich ganz besonderen Wert
lege, und die heute mehr denn je an Bedeutung gewonnen hat: Charakter. Zum Thema Mut gehört auch das nötige Rückgrat; man sagt ja: „Die Männer haben alle eine Wirbelsäule, aber nur wenige ein Rückgrat.“ Mut und Nerven sind vor allen Dingen auch dann gefragt, wenn es darum geht, trotz kurzfristiger Pressures die langfristigen Ziele des Unternehmens durchzuhalten. Zur Betonung der Langfristigkeit haben in großen Unternehmen die Aufsichtsräte eine wichtige Verantwortung. Sie besonders müssen prüfen, ob die Maßnahmen und Entscheidungen langfristig für das Unternehmen gut sind. Sie können dies eher tun, weil sie nicht direkt im kurzfristigen, operativen Geschehen tätig sind und von daher die Langfristigkeit stärker betonen können. Im Übrigen ist es ein Vorteil von vielen Familienunternehmen, dass sie automatisch langfristiger denken, weil sie in Generationen denken. Langfristiges Denken und Handeln muss eingebettet sein in unternehmenspolitische Grundsätze, die nicht jeden Tag geändert werden. Ich habe bei 84 | 85
Nestlé die folgenden drei Grundsätze entwickelt:
1. Wir denken und handeln langfristig.
2. Wir sind im Zweifelsfall für mehr Dezentralisierung.
3. Wir sind mehr menschen- und produktorientiert als
systemorientiert. Zum Grundsatz der Langfristigkeit muss gesagt werden, dass bei dem heutigen Druck durch den verschärften globalen Wettbewerb und durch die Finanzwelt es nicht immer einfach ist, langfristig ausgerichtetes Handeln durchzuhalten. Zusätzlich kommen aber auch Eitelkeiten von Chefs hinzu, die kurzfristig Erfolg zeigen möchten. Zum Teil führt auch die Gehaltspolitik zur Kurzfristigkeit, weil einige Boni und Incentives zu stark auf das Jahresergebnis und weniger auf die langfristige Entwicklung ausgerichtet sind. Ein weiterer Punkt der die Langfristigkeit gefährdet ist zuviel Wechsel in den Führungsetagen, da die Chefs dann schon kurzfristig zeigen wollen, was sie für Helden sind. Ich habe in meiner zwanzigjährigen Amtszeit an der Spitze von Nestlé vieles getan, was man nur langfristig begründen kann. Der Eintritt in neue Länder, gewisse Akquisitionen, die Zeit brauchten bis sie sich rentabilisieren, langfristige Personalentwicklung und –politik usw. Manches kam erst voll zum Tragen als längst schon mein Nachfolger das Geschäft führte, und er tut jetzt dasselbe und wird also vieles unternehmen und entscheiden, was über seine Amtstätigkeit hinaus reicht. Eine langfristige Politik ist natürlich umso leichter durchzuhalten, wenn ich auch kurzfristig Gewinne erziele und der Share Value sich vernünftig entwickelt. Wenn einem kurzfristig das Wasser am Hals steht, sind die langfristige Politik und die Moral zu Ende.
Zusammenfassend gesagt: Wer langfristig denkt, ist auch an einer Förderung und Motivation der Mitarbeiter interessiert, vermeidet kurzfristige Rationalisierungsmaßnahmen, die die Mitarbeiter verunsichern, und tut auch nichts, was dem langfristigen Image eines Unternehmens schaden könnte. Eine solche Politik ist am Schluss auch für die Aktionäre interessant, soweit sie auch langfristig mit dem Unternehmen verbunden bleiben. Ich sage in diesem Zusammenhang immer: „Mir sind Shareholders lieber als Sharetraders.“ Wir können keine Unternehmenspolitik betreiben, die auf die kurzfristigen JojoAktionäre eingeht. Ein Unternehmer darf sich auch nicht durch Quartalsberichte, kurzfristige Forderungen eines Teils der Analysten und Börsianer und ähnliche Dinge beeinflussen lassen.
Auch im Marktgeschehen ist eine langfristige Politik besser. Das erfordert natürlich auch Nerven.
Einige Bemerkungen zur Personalpolitik.
Neben dem bereits Gesagten, ist eine langfristige Entwicklung des Führungspersonals sowie die Investition in die Schulung sehr wichtig. Fast noch wichtiger als die Schulung ist jedoch die Selektion der Führungskräfte. Wenn Sie die falschen Leute haben, können Sie schulen soviel Sie wollen, der Ertrag ist minimal. Was die Bedeutung von sogenannten Assessment Centres für die Auswahl von Führungskräften anbelangt, so halte ich persönlich nicht allzu viel davon. Ich bin überzeugt, dass das verlässliche Urteil erfahrener Mitarbeiter im eigenen Unternehmen unerlässlich ist. Ich hatte stets den Leitspruch: „Look in the eyes and not in the files.“
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Natürlich ist es für eine langfristige Personalpolitik entscheidend, alles zu tun, um langfristig die Motivation der Mitarbeiter zu erhalten. Zum Umgang mit Mitarbeitern möchte ich eine Story aus meinem Buch „Management Brevier“ zum Besten geben über den Umgang mit Pferden. Ich habe hierbei einige interessante Gedanken von Jürgen Fuchs aus dessen Buch „Lust auf Deutschland – Ein märchenhafter Roman für Menschen mit Mut“ wie folgt zitiert: » (...) in den Überlieferungen vieler Naturvölker finden sich einige Hinweise für das erfolgreiche Zusammenleben des Menschen mit seinem ältesten Begleiter:
• Das Pferd akzeptiert Führung, wenn sie Autorität ausstrahlt, aber
nicht, wenn sie autoritär ist.
• Das Pferd achtet Führung, wenn sie klar und eindeutig ist, aber
nicht, wenn die führende Hand zittert.
• Das Pferd vergisst nie, wer ihm in bedrohlicher Situation geholfen hat, aber auch nie, wer es verletzt hat.
• Das Pferd hat Lust auf Leistung, aber nicht, wenn es dazu
gezwungen wird.
• Das Pferd lässt sich von einem Menschen führen, aber nur, wenn
es Zeit hatte, mit ihm vertraut zu werden.
• Das Pferd schafft unglaubliche Leistungen, aber nur, wenn es
seinem Reiter vertraut. Es geht sogar für ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, durchs Feuer. Ohne ihn geriete es dabei in Panik.«
Was hier für das Pferd beschrieben wird, lässt sich zwanglos auf uns Menschen übertragen. Im Übrigen wird mit der Entwicklung und Pflege des Führungspersonals oft die unterste Führungsschicht vergessen, obwohl sie mitunter noch am wenigsten zur Führung geeignet ist. Die unterste Führungsschicht ist aber diejenige, die mit dem Gros der Mitarbeiter umgeht.
Zum Thema Wertorientierung.
Nachhaltiges und moralisch einwandfreies Verhalten wird auch gefördert durch eine langfristige Wertorientierung. Bei der Betonung der Wertorientierung müssen wir uns natürlich auch die Frage stellen: Welche Werte meinen wir? Das erfordert zunächst eine Rückbesinnung auf die Hauptwurzeln unserer Werte, nämlich die christlich-jüdischen und die griechisch-römischen Entwicklungen. Schließlich kommen mit dem Beginn der Neuzeit und der Renaissance Ergänzungen zu diesen Werten bis zur Entwicklung des Materialismus, des Individualismus, von Demokratie und Menschenrechten usw. Wir müssen natürlich als Führungskräfte und Manager darüber etwas wissen, um selbst unseren Unternehmen Orientierung geben zu können. Schließlich gilt es bei der Wertorientierung ständig vier Güter gegeneinander abzuwägen, die von unterschiedlichen Menschen, Gesellschaftsformen und Zeiten unterschiedlich gewichtet und beurteilt werden, nämlich: Liberty (Freiheit), Equality (Gleichheit), Efficiency (Effizienz) und Community (Solidarität und soziales Verhalten). Je nach Gewichtung dieser vier Aspekte haben wir unterschiedliche gesellschaftspolitische Lösungen, Verfassungen, politische Programme und Ge88 | 89
setzgebungen und schließlich dann auch unterschiedliche wertorientierte Führungssysteme. Im Übrigen kann werteorientierte Führung nicht losgelöst sein von der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation, von dem jetzigen Meinungsspektrum und vom Zeitgeist. Anderseits soll Wertorientierung aber auch nicht nur den Zeitgeist reflektieren, sondern Werteorientierung geht über den jetzigen Zeitgeist hinaus. Irgendwie liegt also Führung immer zwischen der Notwendigkeit von Toleranz einerseits und der Ausübung von Autorität und Orientierung andererseits. In den modernen und entwickelten Gesellschaften, ganz besonders auch in Deutschland, müssen wir uns natürlich auch ständig den Fragen stellen: Wie gehen wir mit der Mitbestimmung um, mit der Mitwirkung der Arbeitnehmer und mit deren Rechten? Bei aller Berechtigung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in einer modernen Industriegesellschaft glaube ich doch, dass wir in unserem Lande etwas übertrieben haben. Wir haben in keinem anderen europäischen Land so weitgehende Reglementierungen und Mitbestimmungsrechte. Natürlich müssen wir auch in vielen anderen Fragen wissen, welche Werte wir meinen. Ich nenne einige Beispiele: Vergütung mehr nach Leistungen oder geringere Differenzierung der Lohnstufen und mehr Gleichheit? Förderung der Leistungsträger oder mehr Mühe darauf verwenden, die weniger Guten nachzuziehen? Sich ausschließlich um die aktiven Mitarbeiter kümmern oder auch um die Pensionäre und somit das Alter und die Verdienste ehren? Hier kommt auch eine unterschiedliche Wertschätzung von Jung und Alt zum Tragen. Berücksichtigung von Dienstjahren und Treue oder mehr die aktuelle Leistungsfähigkeit? Sind wir mehr für einen kooperativen Führungsstil, Kollegialität bis zum Coaching oder eine stärkere Betonung von Führung (Team mit Spitze)?
Zur Wertorientierung gehört auch die Behandlung von Lieferanten. Ich habe meinen Mitarbeitern immer gesagt: „Geht mit unseren Lieferanten so um, wie Ihr von Euren Kunden behandelt werden wollt.“ Wir müssen also immer abwägen und die richtige Balance finden. Mit Fundamentalismus oder moralischem Rigorismus kann man nicht leiten. Max Weber hat schon gesagt, „wir müssen unterscheiden zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.“ Als Verantwortungsethiker bezeichnete Weber denjenigen, der bei seinem Handeln die Gesamtheit der Folgen seines Handelns bedenkt und der die Bewertung dieser Folgen zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Gesinnungsethiker nannte er denjenigen, der bestimmte Handlungen kontextunabhängig als moralisch oder unmoralisch qualifiziert, also ohne Rücksicht auf die Folgen bestimmter Handlungen oder Unterlassungen das tut, was er für das sittlich Gebotene hält. Gesinnungsethik kann man sich leisten, wenn man selbst keine Verantwortung trägt.
Schlussbemerkungen.
Damit, meine Damen und Herren, komme ich zum Schluss und möchte meine Bemerkungen wie folgt zusammenfassen: Moralisches Verhalten in dem von mir definierten Sinn ist nicht nur eine Frage von Ethik und Sittlichkeit im Sinne unserer allgemeinen Auffassungen und Grundwerte und eventueller religiöser Anschauungen, sondern leistet einen wichtigen Beitrag zum nachhaltigen Unternehmenserfolg. Schon Epiktet hat mit seinem „Utilitarismus“ darauf hingewiesen, dass ethisches Verhalten im Interesse des Unternehmers liegt. Ohnehin bin ich der Meinung, dass Moral an sich wichtig ist, unabhängig von der Auswirkung 90 | 91
auf das Unternehmensinteresse. Und auch der Ökonom Wilhelm Röpke hat ein Buch geschrieben über das Thema „jenseits von Angebot und Nachfrage“. Lassen Sie mich am Schluss die Kardinaltugenden von Aristoteles erwähnen, die mich als Richtschnur in meinem ganzen Leben begleitet haben, sie lauten:
Tapferkeit
Weisheit
Mäßigung und Bescheidenheit
und Gerechtigkeit.
Und ganz am Schluss lassen Sie mich drei Dinge erwähnen, die ich letztlich als Essenz der notwendigen Führungseigenschaften für nachhaltigen Erfolg und moralisches Verhalten betrachte:
Herz und Verstand
Mens sana in corpore sano
(„Gesunder Geist in einem gesunden Körper“)
und die Verhaltensrichtlinie aus einem alten deutschen Sprichwort:
„Tue recht und scheue niemand“.
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Festessen
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WorldcafĂŠ
Die Art und Weise, wie ausnahmslos alle Teilnehmer des Symposiums eingebunden wurden in eine hochkonzerntrierte, interaktive Relfexion und Aufarbeitung des Themas, war sicherlich ein, im Hinblick auf zukĂźnftige Bayreuther Dialoge, zukunftsweisender Erfolg.
Dialoge leben von interessanten und interessierten Dialogpartnern, die sich einbringen. Bereits in den vergangen Jahren wurde deutlich, dass die Bayreuther Dialoge offenbar Treffpunkt für Dialogpartner dieser Couleur geworden sind. Um für den intensiven Austausch unter den Teilnehmenden eine Zeit und einen Raum zu schaffen, wurde das Programm der V. Bayreuther Dialoge 2008 erstmalig um ein World Café erweitert. World Café ist ein innovatives Dialogverfahren für große Gruppen. Es ermöglicht, deren „kollektive Intelligenz“ zielgerichtet in die Veranstaltung einfließen zu lassen und einen wahrhaften Dialog zwischen allen Teilnehmenden zu stimulieren. Durch das außergewöhnliche Format wird ein Austausch über die verschiedenen Erfahrungshintergründe zur und Perspektiven auf die Moralisierung der Märkte angeregt. Die durch die bisherigen Vorträge und Workshops eingeleiteten Diskussionen, werden weitergeführt und vertieft. Als simultane Übersetzung des Gespräches in Bilder und Grafiken macht Graphic Recording den Dialog sichtbar. Es dient einerseits der Reflexion und damit der Vertiefung des Dialogprozesses, andererseits der Dokumentation und Ergebnissicherung.
Das World Café zur »Moralisierung der Märkte« fand am Vormittag des zweiten Tages der V. Bayreuther Dialoge statt. Drei Stunden standen zur Verfügung, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander zu vernetzen und den Dialog zwischen allen Anwesenden zu vertiefen. Das Ziel bestand darin, die bis dahin entstandenen Gesprächsfäden zu einem Gewebe zu verknüpfen. Dazu sollten weiterführende Fragen identifiziert werden, um weise Entscheidungen in Hinblick auf die Moralisierung der Märkte treffen zu können. Für das Café wurden die gewohnten Stuhlreihen der Vortragsveranstaltungen aufgelöst und die Stühle in Vierer-Gruppen in Kombination mit mobilen Tischen aufgestellt. Etwa 100 Personen nahmen an diesem Dialog teil. Durch das World Café führte Ulrich Soeder von Integral Development. Die Graphic Recordings wurden von Sabine Soeder angefertigt. In drei Gesprächsrunden und zwei Plenumsdiskussionen sind zehn Fragen zur Moralisierung der Märkte gemeinsam erarbeitet worden:
1.
Wie könnte eine werteorientierte Erziehung und Bildung
gestaltet werden?
Welche Verantwortung trage ich bzw. welche Rolle spiele
2.
ich?
3.
Wie weit sind wir bereit, uns zu beschränken?
4.
Gibt es eine Weltmoral für den Weltmarkt?
5.
Wie können wir das Bewusstsein des Konsumenten für
seine Macht auf dem Markt stärken?
Wie kann ich in meinem direkten Umfeld für die
6.
Moralisierung der Märkte sorgen?
7.
Wo endet Verantwortung?
8.
Welchen Rahmen brauche ich, um nach meiner
Wertvorstellung (und nach meinem Moralbegriff) zu
handeln?
9.
Wer macht Moral?
10.
Für welche Werte wollen wir im globalen Markt einstehen? 100 | 101
Nach einer kurzen Einführung in die Gestaltungsprinzipien, Grundannahmen und Anwendungsmöglichkeiten der World Café-Methode und einer kurzen Erläuterung der World Café-Etikette stellten sich die Teilnehmenden zunächst gegenseitig vor. Dazu berichteten Sie von einer Situation, in der sie die Moralisierung der Märkte persönlich erlebt haben. Sehr schnell waren die Anwesenden in angeregte und konzentrierte Gespräche vertieft. Der Dialog konzentrierte sich im Anschluss auf ethische Kriterien des persönlichen Handelns: An welchen ethischen Kriterien orientieren Sie sich als Konsument/in bzw. Akteur/in des Marktes? Antworten auf diese Frage wurden im Plenum ausgetauscht und in einem Graphic Recording festgehalten. Nach einem ersten Wechsel der Gesprächspartner wurden im anschließenden Hauptteil des World Cafés zunächst Themenbereiche für die Moralisierung der Märkte identifiziert: Über welche Themen müssen wir sprechen, um weise Entscheidungen in Hinblick auf die Moralisierung der Märkte treffen zu können? Je Tisch wurden zwei Themenbereiche identifiziert und auf Moderationskarten notiert. Diese Karten wurden eingesammelt, um sie in die Dokumentation des Dialogs integrieren zu können.
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Nach einem weiteren Tischwechsel wurden diese Themenbereiche unmittelbar in Fragen übersetzt: Welche Fragen müssen wir stellen und beantworten, um weise Entscheidungen in Hinblick auf die Moralisierung der Märkte treffen zu können? An jedem Tisch wurden die beiden wichtigsten Fragen auf Moderationskarten notiert und anschließend dem Plenum vorgestellt. In einem letzten Schritt wurden die Fragen von allen Teilnehmern mit folgender Frage gewichtet: Welche dieser Fragen haben Ihrer Meinung nach die größtmögliche Wirkung für das Ganze? Dazu hatte jeder drei Stimmen, die er in Form von Klebepunkten den Fragen auf den Karten zuordnen konnte. Den Abschluss des Dialogs bildete eine (sehr kurze) Metareflexion im Plenum. Das Gespräch bot über die Durchmischung der Teilnehmer Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen und neue Ideen kennen zu lernen, um darauf aufzubauen. Durch die schrittweise Vertiefung sei eine hohe Komplexität des Dialogs möglich geworden. Was kann ich / was können wir zur Beantwortung dieser Fragen am besten beitragen? Mit diesem Ausblick auf die ermittelten zehn Fragen wurde das World Café zur Moralisierung der Märkte beendet.
Wer bringt die Moral zur체ck in die M채rkte? Podiumsdiskussion
„Wer bringt die Moral zurück in die Märkte?“ Die Fragestellung der abschließenden Podiumsdiskussion erwies sich – über das allgemeine Interesse an dem Spannungsfeld zwischen Wirtschaften und Werten hinaus – als hochgradig aktuell. Die gerade an ihrem medialen Höhepunkt angelangte Subprime-Krise erschien wohl vielen der rund hundert Zuhörern in der Bayreuther Stadthalle als augenscheinlicher Präzedenzfall dafür, dass das ungezügelte ökonomische Streben nach Mehr einer moralischen Gängelung bedarf. Erfrischend querdenkerisch aber auch provozierend trumpfte somit die These des diesjährigen Essay-Preisträgers der Veranstaltung Christopher Parets auf. Der Philosophie-Student aus Tvübingen, u.a. Gewinner des mit 20.000 € datierten St. Gallen Wings of Excellence Awards, verteidigte gegenüber den drei weiteren Diskussionsteilnehmern seine Theorie, dass das Unterfangen einer Moralisierung der Märkte ein von wenig Hoffnung auf Erfolg geprägtes sein müsste. Der Konsument sei gegen jegliches Argument, auch ethischer Art, völlig immun. Als homo ludens ganz und gar im spielerischen Kaufrausch vertieft, könne man ihm, ähnlich einem in die Welt von Räubern, Gandarmen und Puppenhaus entrückten Kind, mit keinem vernünftigen Grund zur Rückkehr und zum Handeln nach anderen Regeln als denen des Spiels bewegen. Da Können stets Sollen impliziert, wäre nach dieser Analyse die Frage danach, wer nun der Akteur einer ethischen Transformation des Marktes sein solle, hinfällig. Weniger pessimistisch, aber dafür umso skeptischer, ob der Ruf nach dem Staat die Antwort auf die Finanzkrise und Moraldefizite in Marktwirtschaften im allgemeinen ist, positionierte sich Stefan Napel, Professor für Mikroökonomie an der Universität Bayreuth. Da ein umfassender gesellschaftlicher Konsens darüber, was ethisch korrektes Handeln darstelle,
nicht gegeben sei, wäre die direkte Forderung nach Moralisierung zu überstürzt. Aus wissenschaftlicher Perspektive sei ökonomisches Agieren zunächst ein rein deskriptiv zu beschreibendes Phänomen. Es bedürfe sicherlich gesetzlicher Einschränkungen, diese seien in der Bundesrepublik insgesamt aber durchaus gegeben, was die Auswirkungen der Hypotheken-Krise abgeschwächter habe ausfallen lassen als etwa in den deregulierten USA. Über den rein juristischen Aspekt weit hinausgehend argumentierte der Werbegestalter und Unternehmensberater Martin Sambauer für einen umgreifenden gesellschaftlichen Wandels. Wirtschaftliches Fehlverhalten wurzele im Wesentlichen darin, dass Unternehmen es versäumten, sich öffentlichen Diskussionen und der Kritik von Arbeitnehmern und anderer gesellschaftlicher Akteure zu stellen. Er forderte die Installation kommunikativer Plattformen in Betrieben und politischer Alltagskultur, um die Privatwirtschaft für gesellschaftlich relevante Aspekte zu sensibilisieren. Zu einem gewissen Grade existiere die Offenheit von Unternehmen für die moralisch motivierten Wünsche ihrer Kunden bereits. Darauf machte zumindest der vierte Diskutant, Patrick Fruth, aufmerksam. Der Werkstattkette Auto-Teile-Unger, für die er als Leiter des Bereiches „customer’s excellence“ tätig ist, sei derartig gestaltete Kundenansprüche durchaus wichtig. Unumwunden gestand er jedoch auch ein, dass solches Handeln nicht genuin moralisch, sondern vielmehr eigeninteressiert seien. Heterogenität und Lebendigkeit prägte diese Podiumsdiskussion und spiegelte damit, so fassten es die Moderatoren Yannik Bendel und Sebastian Becker in ihrem abschließenden Fazit zusammen, den Stand der Debatte um Märkte und Moral wieder: Interesse an den Fragestellungen im Zentrum und an der Peripherie des Themas besteht gesellschaftlich übergreifend aus den verschiedensten Blickwinkel; die Standpunkte zu diesen sind jedoch ebenso divergent.
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Die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums und die Bürde der Moral Christoph M. Paret
Die standardmäßige Kulturkritik konnte sich die Tatsache, dass sich das kapitalistische System bester Gesundheit erfreut, nur dadurch erklären, dass sie seine Teilnehmer als verblendete, hohle Masse abqualifizierte
Die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums und die Bürde der Moral
„Wenn die Menschen nur einkaufen gehen würden, weil sie etwas brauchen, und wenn sie nur kaufen würden, was sie brauchen, wäre die kapitalistische Wirtschaft längst zusammengebrochen“1
hat der Medienwissenschaftler Norbert Bolz einmal formuliert. Angesichts eines solchen schwerelosen Konsumierens jenseits handfester Bedürftigkeit bringt die Moralisierung des Konsumenten einen ungewohnt ernsten Ton ins Spiel. Aus dem Konsumakt wird plötzlich eine ethische Entscheidung. Dass der Konsument als Adressat moralischer Forderungen entdeckt wird, ist nun allerdings nicht weiter verwunderlich. Wo die moralischen Anforderungen der Politiker in Form von rechtlichen Auflagen und die moralischen Anforderungen der kritischen Massenmedien in Form von Skandalisierungen den Unternehmen regelmäßig nur Gewinnausfälle bescheren, treten in Gestalt des Kunden dem Unternehmen moralische Anforderungen nicht als Kosten, sondern als Gewinnaussichten entgegen. Und auch liberale Ethiker dürften zufrieden sein: Plötzlich erscheint Ethik nicht mehr in der problematischen Form staatlicher Freiheitseinschränkungen (wie etwa beim Korrekturmechanismus des Sozialstaats), sondern ist mit freien Kaufentscheidungen kompatibel. Bevor man aber allzu große Hoffnungen in eine Moralisierung des Konsumierens steckt, sollte man sich Gedanken über das Rätsel des Konsumierens machen. Dieses Rätsel stellt den blinden Fleck der liberalen Weltsicht dar. Die liberale Ethik hat über der Frage warum was gekauft wird, mit dem dezenten Hinweis auf den drohenden Paternalismus ein Schweigegebot verhängt: Was
Konsumenten kaufen, das soll allein ihre Sache sein. Und die liberale Wirtschaftstheorie bewegt sich nun schon seit über hundert Jahren munter in dem Zirkel, der da besagt: „Nutzen ist diejenige Eigenschaft der Güter, die den Individuen ihren Erwerb wünschenswert erscheinen lässt, und die Tatsache, dass die Individuen Güter zu kaufen wünschen, zeigt wiederum, dass sie Nutzen haben.“ 2
Wenn man also fragt: Warum die Menschen dies und jenes konsumieren, bekommt man zur Antwort: Weil es ihnen Nutzen bringt. Will man dann weiterhin wissen, warum es ihnen Nutzen bringt, wird einem beschieden: Sonst hätten sie es ja nicht gekauft! Gegenüber solchen normativen und theoretischen Blockaden einer Theorie des Konsums kommt es zunächst einmal darauf an, einen Sinn zu gewinnen für die Frage nach der Motivlage des Konsumenten. Diese Frage gewinnt umso mehr an Brisanz, wenn man eine Beobachtung berücksichtigt, die der Soziologe Niklas Luhmann über einen Unterschied moderner zu vormodernen Gesellschaften gemacht hat. Gerade in vormodernen Gesellschaften kann man „für Geld so gut wie alles kaufen (…): auch Freunde und Frauen, auch Seelenheil und politischen Einfluss und sogar Staaten, auch Steuereinnahmen, Kanzleitaxen, Adelstitel usw.“3
Warum also kauft und kauft und kauft man, wo doch im Kapitalismus eingestandenermaßen Geld „nicht alles ist“? Die standardmäßige Kulturkritik konnte sich die Tatsache, dass sich das kapitalistische System bester Gesundheit erfreut, nur dadurch erklären, dass sie seine Teilnehmer als verblendete, hohle Masse abqualifizierte. Ihr Rezept (wenn es denn eines gegeben hat) lautete: Aufklärung. Je länger sie aber aufklärte, desto mehr wurde die Kulturkritik sich darüber klar, dass ihre Aufklärung keinen Unterschied machte: Die Leute waren aufgeklärt und – kauften 112 | 113
weiter. Im Konsum scheint sich das Bonmot Oscar Wildes zu materialisieren, dass es nichts Notwendigeres gebe als das Überflüssige. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet: Gibt es Illusionen, die ihre Wirkkraft nicht einbüßen, wenn sie enttarnt werden? Gibt es Phänomene, die ernst werden, obwohl sie niemand ernst nimmt? Ja. Etwa im Spiel, das gut als Erklärungsprinzip des Konsumierens herhalten kann. Seit einigen Jahren wird von Leuten wie Slavoj Zizek4 oder Robert Pfaller5 wieder darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet zu spielen. Zwei Dinge sind dabei besonders interessant. Erstens: Spiel ist ernster als das Leben. Gerade beim Spielen werden Leidenschaften entfesselt, die weit über das alltägliche Normalmaß hinausgehen: Gute Freunde, die sich im Alltag nie streiten würden, geraten sich beim Kartenspielen in die Haare. Renommierte Boxer bringen sich um Titel, Ehre und Preisgeld, wenn sie im Spielrausch anfangen, ihren Kontrahenten die Ohren abzubeißen. Zweitens: Obwohl es doch ernster als das Leben ist, nehmen die Spieler das Spiel gar nicht so ernst. Kein Spieler vergisst, dass es „bloß ein Spiel“ ist. Vom großen Kulturhistoriker Johan Huizinga stammt die Anekdote eines Vaters, der sein 4-jähriges Söhnchen dabei antrifft, wie es auf dem vordersten einer Reihe von Stühlen sitzt und „Eisenbahn“ spielt. Er hätschelt das Kind, dies aber sagt: „Vater, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, es wäre nicht echt.“6
Nicht das Kind ist so blöd sich ernsthaft mit einer Eisenbahn zu verwechseln, die Wagen sind so naiv. Spieler geraten also nicht deshalb in Rage, weil sie für einen Moment den Unernst des Spiels mit dem Ernst des Lebens verwechseln würden – das würde ja auch gar nicht erklären, warum das Spiel einen mehr in Beschlag nehmen kann als das Leben, nein: Spieler sind äußerst aufgeklärte Menschen: sie vergessen nie, dass sie bloß Beteiligte eines blöden Spiels sind, und sind dennoch mit Feuereifer dabei. Robert Pfaller spricht in einer paradoxen Wendung von „Illusionen ohne Subjekt“.
Kann uns dieses Paradox des Spielens - dass es einerseits Leidenschaften entfesselt, die weit über Sinn und Verstand hinausgehen, dass es aber andererseits selbst nie für voll genommen wird - nicht das Geheimnis des Konsumrausches schlagend erklären? – Konsumfreude ist, so meine These, also sehr wohl kompatibel mit einer distanzierten Einstellung gegenüber dem Konsum. Unter diesem Blickwinkel werden auch erst das ganze Ausmaß und die Begrenztheit der Moralisierung des Konsums deutlich. Dahinter verbirgt sich nämlich der Versuch, dem Konsum seine Schwerelosigkeit in der Schwebe zwischen Ernst und Unernst zu nehmen, indem man aus ihm eine ganz und gar ernste, nämlich eine moralische, Angelegenheit macht. Fraglich ist, ob dieses Unterfangen nicht auf einem Missverständnis der Motivlage beim Konsumieren beruht. - Wollen die Verfechter eines moralischen Konsums einen anderen Konsum oder nicht lieber gar keinen, weil ihnen die Leichtigkeit des Konsums unerträglich ist?
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Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 97. Joan Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft, München 1968, S. 60. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 239. Slavoj Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, Berlin 1991, S. 49 f. Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, Frankfurt am Main 2002. Johan Huizinga, Homo Ludens, Hamburg 1987, S. 17
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Die Partner der Dialoge
Vom Wesen der Verantwortung Dr. Alexandra Hildebrandt
„Verantwortung tragev“ meint die aktive Verantwortung für andere und für die eigene Lebensgestaltung und nicht, in die Verantwortung gezogen werden. Sie kann weder delegiert noch übertragen werden.
Nachhaltige Veranstaltungen wie die Bayreuther Dialoge verweisen auf das, was wir wirklich wollen: „Verantwortung tragen“. Und sie schieben Innovationen an dort, wo es nottut: in Wirtschaft und Bildung. Die Teilnehmer der diesjährigen Bayreuther Dialoge gehörten zu den ersten, die sich zum gleichnamigen Projekt der Arcandor AG bekannten. Die Idee hinter dem Projekt: Menschen auf der ganzen Welt – Prominente, Manager, Künstler, Medienvertreter, Kulturschaffende, Mitarbeiter und Geschäftsführer von NGOs, Sportler, Geistliche und Wissenschaftler – beantworten die Frage, was „Verantwortung tragen“ für sie konkret bedeutet. Damit wird ein allgemeines Thema auf eine Ebene geholt, die einen persönlichen Bezug hat. Denn: „Verantwortung ist immer konkret. Sie hat einen Namen, eine Adresse und eine Hausnummer“, sagte schon der Philosoph Karl Jaspers. So unterschiedliche Menschen wie Graf Faber-Castell, Günther Beckstein, Franz-Theo Gottwald, Franz Ehrnsperger, Gerhard Meir, Oliver Kahn und Günther Netzer, die bereit sind, für andere und für sich Verantwortung zu übernehmen, haben sich bislang an diesem Projekt beteiligt. Ebenso namhafte Aufsichtsräte, Geschäftsführer, Betriebsräte, aber auch Menschen des
Alltags, die auf ihre Weise verantwortlich handeln. Das Projekt selbst ist der Nachhaltigkeit verpflichtet: Es wird finanziert aus den Tantiemen des Buches „Die Andersmacher. Unternehmerische Verantwortung jenseits der Business Class“ (Kamphausen Verlag, Bielefeld 2008), in dem Querdenker und Lebensunternehmer vorgestellt werden, die nachhaltig und verantwortungsbewusst handeln, die für andere da sind und sich selbst nicht verlieren. Auch für das neue Projekt ist es - im wahrsten Sinne des Wortes – entscheidend, „Gesicht(er)“ zu zeigen – Menschen, die bereit sind, in die Verantwortung zu gehen und andere zu motivieren, dies ebenfalls zu tun. Die Studenten der Bayreuther Dialoge gehörten zu den Vorreitern. Da das Projekt regional und global ausgerichtet ist, kam es darauf an, ein Dingsymbol zu finden, das in allen Kulturkreisen bekannt ist und für sich selbst spricht. Der limitierte Sammlerteddy der Hermann Teddy GmbH aus Hirschaid ist solch ein kulturelles Zuwendungsobjekt, das die Rolle eines Freundes einnimmt. Seine Botschaft ist leise und unaufdringlich wie dieses Projekt selbst. Allerdings ist nicht entscheidend, dass allein der Name eines Unternehmens in die Welt getragen wird, sondern der Inhalt einer nachhal120 | 121
tigen Aktion, die allen zugute kommt. Deshalb freut es uns um so mehr, dass sich neben Einzelpersonen auch zahlreiche Verbände, Institutionen sowie namhafte Medien angeschlossen haben. Verantwortung tragen meint die aktive Verantwortung für andere und für die eigene Lebensgestaltung und nicht, in die Verantwortung gezogen werden. Sie kann weder delegiert noch übertragen werden. Zuweilen verweisen Menschen darauf, weisungsgebunden zu sein. Die Last der Entscheidung wird dann auf viele Schultern verteilt, um sie in der Unverbindlichkeit der Gruppe bequem abzulegen. Doch das entschuldigt nichts, denn Verantwortung reicht über die eigene Aufgabe hinaus, die einem unmittelbar zugewiesen ist. „Geben wir hingegen schon im Voraus die Verantwortung an die Sache ab, indem wir jede schmerzliche Entscheidung für unethisch halten, schütten wir nicht nur das Kind mit dem Bade aus. Der nahe liegende Kurzschluss, ethisches Handeln sei mit den Anforderungen des Alltags unvereinbar, öffnet die Tür zu resigniertem Umgang mit Ethik und Moral – und lässt die Herzen gefrieren“, schreibt der Autor Hans Jecklin. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, Grande Dame der deutschen Psychoanalyse, ist überzeugt, dass ohne Selbstverantwortung keine Veränderung zum Besseren hin möglich ist. Wer sich seiner Verantwortung bewusst wird und den Mut hat, sich zu bekennen, erfährt sich selbst als Lebensgestalter und nicht Verwalter. „Verantwortung tragen“ ist ein Bekenntnis, aber auch eine Haltung und ein Lebensgefühl: „Ich tue es!“. Es geht um Selbstverantwortung statt passiver Verdrossenheit, darum, das eigene Tun nicht als Last, sondern als Lust zu empfinden. Die Vorträge und Ergebnisse der diesjährigen Bayreuther Dialoge machen Mut und zeigen, dass es klare Anzeichen dafür gibt, dass der Markt jene Menschen und Unternehmen belohnt, die sich auf den Weg machen und nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und ökologische Verantwortung tragen.
Das Team der Bayreuther Dialoge 2008
Projektleitung
Bianca
Fliß
Johannes
Auernheimer
Marc
Phillip Greitens Dokumentation Yannik Bendel Referenten Stephan Gönczöl Leon Jacob Hendryk Suchomski Simon Binder Alexandra Blickling Anna Hofmann Sponsoring & Finanzen Maximilian Schwefer Isabell Jehle Saskia Buskies Johannes Tholl Vedat Bayram Operatives Andreas Eichler Anne Warziniak Esther Meyer Hanna Freudenreich Benny Franke Barbara Faria Marketing Daniel Schubert Svenja Hippel Jennifer Feyer Marlene Röhrken Philip Wallmeier André Schmelzer Tim Winke Julius Habenschuss Philipp Schächtele Inhalt & Konzept Julian Langer Ulrich Bergmann Julian Zuber Kim Hecker Adrian Wenke Alexander Claussen-Eller Gregor Geist
„Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus. [...] Alles Gute aber, das nicht auf moralisch=gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“ Kant
Impressum
Herausgeber
Team der Bayreuther Dialoge 2008
Redaktion
Johannes Auernheimer, Sebastian Becker, Yannik Bendel,
Marc Philip Greitens, Anna Hofmann, Julian Langer
Unterstützt durch:
Bildnachweis
[6, 94, 96, 100, 103, 104, 106, 110, 124, 128]
Bayreuther Dialoge
[20, 38, 52, 74, 78, 120, 121, 123]
Frank Schultze, Copyright: Arcandor AG
[118] Ingo Boddenberg, Copyright Arcandor AG
[5] sxc.hu
[98, 102, 105] Ulrich Soeder, integral development
Gestaltung & Corporate Design w w w. s ol l e n u n d s e i n .d e
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Universität Bayreuth
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