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Tafeln helfen Menschen

Tafeln Menschen helfen

Die Idee hinter „Taf eln“ stamm t aus Amerika und wurde vor Ja hrzehnten nach Europa tra nsf eriert. Da s Konzept erf üllt mehrere

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Aufga ben zugleich: Food Wa ste wird vermieden, CO 2 gespa rt und Menschen geholf en.

Alexa ndra Gruber

Mehr als 20 Jahre ist es her, dass Martin Haiderer mit drei Studienkolleginnen und -kollegen der Sozialakademie aus einer Idee einen Verein machte und das Konzept der amerikanischen ,,Foodbanks‘‘, das zu diesem Zeitpunkt etwa 30 Jahre existierte, nach dem Hamburger Vorbild nach Wien brachte. Tafeln retten noch genusstaugliche Lebensmittel aus (Groß-)handel, Produktion, Landwirtschaft und der Gemeinschaftsverpflegung und versorgen damit armutsbetroffene Menschen. Die Weitergabe der geretteten Lebensmittel ist kostenfrei bzw. erfolgt gegen einen symbolischen Beitrag. Die Tafelarbeit wird zum überwiegenden Anteil (66–100 %) von ehrenamtlicher Mitarbeit getragen und wäre ohne das große zivilgesellschaftliche Engagement tausender Menschen in Österreich nicht möglich. Tafeln sind großteils spendenfinanziert. Mit einem Euro versorgen Tafeln 10 Armutsbetroffene mit einer Mahlzeit. Heute finden sich österreichweit Tafeln in allen Bundesländern, darüber hinaus gibt es einen Dachverband „Die Tafeln“, der Interessen auch gegenüber der Politik sowie den Austausch zwischen den einzelnen Tafeln koordiniert. Die Wiener Tafel ist mit 20 Jahren die älteste Tafelorganisation in Österreich. Auf europäischer Ebene bietet die European Food Banks Federation 1 (FEBA) Raum, sich regelmäßig über Chancen und He

rausforderungen im großen Tafelnetzwerk mit über 420 Tafelorganisationen auf europäischer Ebene auszutauschen.

Tafeln – mehr als Lebensmittel

rettung Seit mittlerweile mehr als 20 Jahren steht neben dem angewandten, praktischen Tun die bewusstseinsbildende Arbeit ganz oben auf der Agenda der Wiener Tafel. Damit soll sowohl ein wertschätzender Umgang mit Lebensmitteln als auch ein konstruktiver Diskurs über die Zusammenhänge von Armut und Ernährung forciert werden. Dementsprechend breit und vielfältig sind die Projekte der Wiener Tafel, die auch teilweise von den Mitgliedstafeln im Verband der österreichischen Tafeln in ganz Österreich verbreitet werden: Von der „Suppe mit Sinn 2 “ und der „Marmelade mit Sinn 3 “, der „TafelBox 4 “ über das „Sensorik Labor mit Sinn“ für Kinder und Jugendliche bis hin zu den inklusiven Kochworkshops – Aspekte von Inklusion, Bewusstseinsbildung und dadurch bedingte Änderungen gewisser Denkmuster verbinden sich, um so eine ganzheitliche gesellschaftliche Aufarbeitung der Thematik zu ermöglichen. In den letzten Jahren hat sich darüber hinaus das Bild der Tafeln über die Rettung und Weitergabe von Lebensmitteln weiter entwickelt. Sie sind ein Ort der Begegnung, aber auch ein Ort, an dem gegen ungerechte Ressourcenverteilung in einer Gesellschaft gearbeitet wird. Weltweit werden jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen der Lebensmittel, die für den menschlichen Verbrauch gedacht sind, trotz Genussfähigkeit weggeworfen 5 . Ein Viertel davon würde reichen, um die 821 Millionen hungernden Menschen © P e t e r L e skovar Alexandra Gruber

ausreichend zu versorgen. Diese Zahlen wirken zu groß, zu mächtig, um sie sich tatsächlich vorstellen zu können. So mächtig, dass man sich selbst ohnmächtig fühlt, an ihnen etwas zu ändern. Es ist jedoch unleugbar, dass der verschwenderische Umgang mit Lebensmitteln als Ressource nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem darstellt und dass jeder Einzelne und jede Einzelne etwas dagegen tun kann. Der Bereich zwischen nahrhafter Sättigung und Verhungern ist facettenreich. Es wird zunächst bei der Qualität der Ernährung gespart und bei der Häufigkeit der Mahlzeiten. Begleitet werden diese Vorgänge von Ängsten, die den gesamten Alltag überschatten und sich als psychische Belastung manifestieren. In Österreich sind etwa 6,6 % der Bevölkerung von mittlerer oder schwerer Nahrungsunsicherheit betroffen: 483.000 Personen 6 . Erneut eine Zahl, die unser Vorstellungsvermögen gerade in einem so reichen Land wie Österreich herausfordert. Armutsgefährdete Menschen erfahren Ernährung neben Wohnen und Energie als größte Belastung in ihrem Alltag. Diese wird vor allem prekär, wenn Menschen ihr Obdach verlieren. Der allgemeine Gesundheitszustand von Familien unter der Armutsgrenze ist dreimal schlechter als bei solchen mit hohem Einkommen, der Zugang zu gesunder und ausgewogener Ernährung ist hierbei ein entscheidender Faktor. Ernährungssicherheit ist ein Faktor von vielen, um ein selbstermächtigtes Handeln von Menschen zu ermöglichen und damit weitere begleitende Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zu unterstützen. Um die Brücke zwischen Überfluss und Bedarf zu schlagen, bedarf es des praktischen Aspekts der Abholung und Lagerung von Lebensmitteln sowie deren Weiterleitung an Sozialeinrichtungen. Das stellt die Tafeln in Österreich zu

© Peter Leskovar

nehmend vor strukturelle Herausforderungen. Lager-, Kühl- und Transportmöglichkeiten sind die zentralen Hebel und gleichzeitig die kostenintensivsten. Ein wichtiger Meilenstein in diesem Zusammenhang war für die Wiener Tafel die Eröffnung des Kleinen TafelHauses 7 , dem ersten Lebensmittelsortier- und Verteilzentrum am Großmarkt Wien im Jahr 2017. Im heurigen Jahr steht eine Expansion ins „Große TafelHaus“ am Großmarkt Wien bevor, um zukünftig noch mehr Lebensmittel zu retten. Das Große TafelHaus wird auch die Vereinszentrale der Tafeln werden.

Welche Rahmenbedingungen braucht

Tafel-Arbeit? Die Vereinten Nationen verfolgen das Ziel, bis 2030 die Lebens mittelverschwendung weltweit um die Hälfte zu verringern 8 . In den meisten europäischen Ländern bekommen die Tafeln Unterstützung von der öffentlichen Hand zur Erreichung von SDG-Zielen – Reduktion der Treibhausgase, Beseiti gung sozialer Ungleichheit, ausgewogene Ernährung für alle. Anlässlich ihres 20-jährigen Bestehens forderte die Wiener Tafel 9 im September letzten Jahres die politische Neubewertung der sozialen Transferarbeit, eine Reform der gesetzlichen Handhabe für die Weitergabe von Lebensmitteln für karitative Organisationen und die Förderung durch die öffentliche Hand, damit adäquate Lagerstrukturen für gerettete Lebensmittel geschaffen werden können. Tafeln brauchen mehr Unterstützung – und zwar von Stakeholdern aus allen Bereichen und entlang der gesamten Wertschöpfungskette, um in fünf Jahren an die Spitze der Lebensmittelrettung in Europa zu kommen. Dazu zählt die Teilnahme der Tafeln an EU-Programmen zur Lebensmittelrettung in großem Stil nach internatio

© Peter Leskovar

nalem Vorbild, die Unterstützung der öffentlichen Hand und die Beseitigung bürokratischer Hürden bei der Weitergabe von geretteten Lebensmitteln an karitative Organisationen. Schließlich übernehmen Tafeln nicht nur eine wichtige Rolle gegen Lebensmittelverschwendung und zur Linderung von Armut, sondern auch in der CO2-Reduktion. Gemäß des aktuellen IPCC Reports 10 kann alleine die Vermeidung von Lebensmittelverlusten bis zu zehn Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen helfen. Für jedes CO2-Äquivalent, das die Tafeln ausstoßen, werden gleichzeitig 27 CO2-Äquivalente eingespart 11 .

Eines der Ziele: Vereinfachung der

Lebensmittelweitergabe In diesem Zusammenhang wurde auch vor kurzem ein Gutachten zur Vereinfachung der Lebensmittelweitergabe 12 gemeinsam mit einem BOKU-Institut (DI Gudrun Obersteiner) und SAICON sowie den österreichischen Tafeln – gefördert von der VKS – fertiggestellt. Der Weitergabe von geretteten Lebensmitteln kommt aufgrund der Vielzahl der entlang der Wertschöpfungskette weggeworfenen Lebensmittel und aufgrund des steigenden Bedarfs von Armutsbetroffenen an Lebensmittelspenden im internationalen und nationalen Kontext immer größer werdende Bedeutung zu. Dies zeigt auch die im Jahr 2018 von der EU herausgegebene Leitlinie zur Vereinfachung der Weitergabe von geretteten Lebensmitteln an soziale Einrichtungen 13 . So ist die Grundstruktur des in Österreich vom Institut für Abfallwirtschaft erstellten „Leitfaden zur Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen“ 14 mittlerweile über 10 Jahre alt und für die konkreten Herausforderungen und Fragestellungen von heute trotz der

Neuauflage 2015 zum weiteren Ausbau der Weitergabe von geretteten Lebensmitteln nur mehr bedingt einsetzbar. Projektziel des vorliegenden Projekts war die Erarbeitung eines adaptierten Konzepts zur vereinfachten Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrich tungen, basierend auf einer gutachterlichen lebensmittelrechtlich-technischen Analyse, internationalen und nationalen Best-Practice-Beispielen und der Evaluie rung inkl. Betrachtung möglicher Effekte. So setzen internationale Best-Practice-Beispiele im Bereich der Lebensmittelweitergabe auf Freiwilligkeit. Aus Sicht der Tafeln scheint ein ähnlicher Weg wie in Italien mit einer gesetzlichen Verschlankung (Gadda Law 166/2016) und Vereinfachung der Lebensmittelweitergabe (Good Samaritan Law 155/2003) sowie mit Anreizmodellen wie Steuererleichterungen und gezielten bewusstseinsbildenden Programmen zur Tafelarbeit die größten Erfolge bei der Ret tung von Lebensmitteln zu bringen. In eine ähnliche Richtung geht das kürzlich veröf fentlichte Gutachten von Andreas Schmölzer, Sachverständiger für Lebensmittelhygiene und Ernährungswissenschafter, das für eine Neubewertung von unternehmerischer und privater Lebensmittelinverkehrset zung eintritt. Gesetzliche Regelungen wie in Frankreich und Tschechien haben sich dagegen in weiten Bereichen als ineffizient und kontraproduktiv herausgestellt: Le bensmitteleinzelhändler werden unter bestimmten Rahmenbedingungen gesetzlich verpflichtet, überlagerte Lebensmittel an karitative Organisationen abzugeben. Was auf den ersten Blick sinnvoll scheint, ist bei näherer Betrachtung ohne gesetzliche Vor gaben für die Schaffung der nötigen Infrastruktur kontraproduktiv. Die mittlerweile vorliegende Zwischenevaluation zum fran zösischen Gesetz bekräftigt diese und weitere Kritikpunkte. Das eben fertiggestellte Gutachten soll dazu dienen, den Weg in Österreich für Warenspender und abholende Organisationen weiter zu stärken. In weiterer Folge soll das Gutachten den zuständigen Behörden zur weiteren Diskussion und nachfolgenden Verabschiedung eines neuen Leitfadens zur Lebensmittelweitergabe vorgelegt werden. Denn unbestritten ist die Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen ein sinnvoller Weg zur Abfallvermeidung, der auch innerhalb der österreichischen Bevölkerung einen immer wichtigeren Stellenwert einnimmt.

Was bedeutet Covid-19 aktuell für

die Tafel-Arbeit? Aufgrund der Covid-19- Situation wurden Tafeln auf der ganzen Welt von einem auf den anderen Tag dazu gezwungen, ihr bewährtes und über Jahre etabliertes System der Lebensmittelrettung aufzugeben. So stellt die Coronakrise Ta feln vor immense Herausforderungen: Lebensmittel- und Sachspenden gehen zurück, ehrenamtliche Mitarbeiter können nicht mehr mithelfen, da sie altersbedingt zur Risikogruppe gehören, und der gesamte Be trieb muss neu organisiert werden, um die Gesundheit aller zu schützen. Die Wiener Tafel reagierte sehr rasch auf den Ausbruch der Covid-19-Krise und än derte ihr System: Ab Ende März werden Lebensmittel über kontaktlose Warenüber gabe im Kleinen TafelHaus am Großmarkt Wien an soziale Einrichtungen weitergege ben 15 . Denn Lebensmittelspenden für von Armut betroffene Menschen werden in die ser Zeit dringender benötigt denn je. Der in den letzten Wochen entwickelte Prozess der kontaktlosen Lebensmittelweitergabe wurde bereits in ersten Probeläufen erfolgreich getestet. Die Warendistribution – sowohl der Vorgang selbst als auch die Vorbereitung und Umsetzung –

Corona-Nothilfsprogramm —

Jeder Beitrag zählt! Weitere Informationen finden Sie unter www.wienertafel.at und www.dietafeln.at

laufen nach einem strikten Umsetzungsplan inkl. detaillierter Hygienemaßnahmen ab. Dadurch sollen soziale Kontakte minimiert und die Sicherheit bei der Warenübergabe gewährleistet werden. Dazu braucht es mehr denn je die Unterstützung von Unternehmen und Privatpersonen, denn die derzeitige Krise trifft die Schwächsten in unserer Gesellschaft am stärksten. Gerade die Versorgung mit Le bensmitteln zählt zu einem der elementarsten Grundbedürfnisse. Um den gestiegenen Bedarf an Lebensmitteln für Bedürftige zu decken, ist die Wiener Tafel so wie alle Ta feln in Österreich auf die Solidarität aller Menschen angewiesen. Zu diesem Zweck hat die Wiener Tafel ein Corona-Nothilfs programm eingerichtet.

Dr. Alexandra Gruber Geschäftsführerin Wiener Tafel – Verein für sozialen Transfer, Obfrau Verband der österreichischen Tafeln, Wien

Literatur

[1] FEBA: https://www.eurofoodbank.org/ [2] suppemitsinn.at [3] marmelademitsinn.at [4] tafelbox.at [5] FAO: http://www.fao.org/3/mb060e/ mb060e00.pdf [6] Master These: Der Mensch ist, was er isst: Ernährungsarmut und ihre Folgen in

Österreich, L. Miller, 2019 [7] tafelhaus.wienertafel.at [8] https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/ [9] PA: https://wienertafel.at/fileadmin/Presse/Presseaussendung/2019/WienerTafel_

PA_20_Jahre_WienerTafel_2019_09_09.pdf [10] IPCC Report: (https://www.ipcc.ch/report/srccl/) [11] Master`s Thesis: Food waste redistribution in Europe, S. Lehtonen, BOKU, 2018 [12] https://ec.europa.eu/food/sites/food/ files/safety/docs/fw_eu-actions_food-donation_eu-guidelines_en.pdf [13] Vereinfachung der Weitergabe von Lebensmitteln an karitative Einrichtungen – Gutachten und Bewertung – Endbericht, A. Gruber, S. Luck, G. Obersteiner, A.

Schmölzer, M. Wójtowicz, 2020 [14] Leitfaden für die Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen –

Rechtliche Aspekte, F. Schneider, 2009 [15] PA: https://www.wienertafel.at/fileadmin/Presse/Presseaussendung/2020/WienerTafel_PA_2020_30_03_FIN.pdf

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