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Ein Text von Detlef Giese

AN DER SPITZE DES STAATSOPERN CHORES

TEXT VON DETLEF GIESE

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DETLEF STEFFEN, EBERHARD FRIEDRICH & MARTIN WRIGHT IM PORTRAIT

E

Ein Chor ist eine Einheit und setzt sich doch aus vielen Individuen zusammen. Ein komplexes Gebilde ist er, ein Kosmos geradezu, zumal wenn es sich um ein Ensemble an einem großen Opernhaus handelt, das seinerseits schon vielschichtig genug ist. Gut und klar geordnet stellt sich der Staatsopernchor dar, in die vier Hauptstimmlagen der Damen und Herren gegliedert, dann noch einmal innerhalb der Soprane, Alti, Tenöre und Bässe in zwei Gruppen aufgeteilt. Jede und Jeder verfügt über einen festen Platz, damit ein homogenes Ganzes entstehen kann. Um die Arbeit eines Chores von über 80 Personen zu organisieren, sind weitere Personen vonnöten, sowohl für das Tagesgeschäft wie für Perspektivisches. So sorgt etwa die Chorinspizienz dafür, dass jede Chorsänger:in – ungeachtet der ihnen nicht abzunehmenden Eigenverantwortlichkeit – über alle Proben und Vorstellungen Bescheid weiß, kontrolliert An- und notiert Abwesenheiten und begleitet auch sonst alle Aktivitäten des Ensembles. Im Chorbüro laufen die Informationsflüsse zusammen, gerade auch im engen Austausch mit den künstlerisch Verantwortlichen. Und diesen wiederum ist es in die Hand gegeben, den Chor umfassend zu betreuen und beständig weiterzuentwickeln, ihn auch nach innen wie nach außen zu repräsentieren. Mit dreien von ihnen, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten an der Spitze des Staatsopernchors standen bzw. in leitender Funktion aktiv waren, haben wir gesprochen, mit den beiden Chordirektoren Eberhard Friedrich und Martin Wright sowie mit dem langjährigen Chorassistenten Detlef Steffen. Gegeben haben sie uns Einblicke in ihre Arbeit, die oft im Verborgenen stattfindet und doch für den Opernbetrieb von so entscheidender Bedeutung ist.

1968

1968 kam Detlef Steffen an das Haus Unter den Linden. Der gebürtige Potsdamer hatte eine fundierte pianistische Ausbildung erhalten, in der Klasse von Dieter Zechlin an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«. Obwohl eine Laufbahn als Konzertpianist durchaus denkbar erschien, entschied er sich für das Fach Chor- und Ensembleleitung, aus innerer Neigung heraus. Schon während des Studiums erhielt er Gelegenheit, mit der erst vor kurzem gegründeten Berliner Singakademie zu arbeiten. 1963 war sie an der Staatsoper ins Leben gerufen worden, von Anfang an hatte Detlef Steffen an der Entwicklung dieser Vereinigung aus gesanglich ambitionierten Laien teil – und über sie ergaben sich auch die ersten Kontakte zur Staatsoper. Direkt nach dem Abschluss seines Studiums, im Alter von erst 24 Jahren, spielte er Chordirektor Siegfried Völkel vor, für die neu geschaffene Stelle eines Assistenten für Chor-Repetition. Der Stellvertretende Chordirektor Christian Weber und der Chorrepetitor Konrad Wendland komplettierten das künstlerische Leitungsteam des Staatsopernchors, der seinerzeit rund 100 Mitglieder umfasste. Die erste Premiere, die Detlef Steffen am Haus erlebte, war gleich eine besondere, auch wenn man damals noch nicht ahnen konnte, dass Rossinis »Barbier von Sevilla« in der Inszenierung von Ruth Berghaus und in der Ausstattung von Achim Freyer zu einer legendären Produktion der Staatsoper werden sollte, die nach weit über 300 Vorstellungen immer noch auf dem Spielplan steht, seit über einem halben Jahrhundert. Die Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus hat Detlef Steffen als inspirierend empfunden, aber auch an die Inszenierungen von Harry Kupfer ab den 1970er Jahren und dann verstärkt in den 1990ern im

Zuge des zehnteiligen Wagner-Zyklus denkt er besonders gern zurück. Vor allem aber war es Erhard Fischer, der über viele Jahre hinweg tätige Chefregisseur des Hauses, der aus dem Staatsopernchor ein sehr spielfreudiges und engagiertes Ensemble gemacht hat. Besonders prägend war natürlich die enge und intensive Kooperation mit Chordirektor Ernst Stoy, dem Nachfolger Siegfried Völkels, von 1973 bis zu seiner Pensionierung 1998 im Amt. Als »Ästheten« habe er ihn erlebt, so Detlef Steffen, als einen fachlich exzellenten und dabei sehr sensiblen Künstler. Als Assistent und Repetitor war es seine Aufgabe, den Chordirektor umfassend zu unterstützen – und doch hatte er Gelegenheit, eigenverantwortlich zu arbeiten. Mit rund einem Dutzend Einstudierungen ist er betraut worden, hinzu kam die Betreuung des laufenden Repertoires, das in den 1970er und 1980er Jahren immerhin mehr als 40 verschiedene Stücke umfasste. Chorsaalproben und Nachstudien waren abzuhalten, nahezu täglich war der Chor auch an szenischen Proben sowie Vorstellungen beteiligt, die zu Zeiten eines dicht getakteten Repertoirebetriebes zahlreicher waren als heute. Gerade die verantwortungsvolle Pflege der vielgespielten Werke hat Detlef Steffen als wesentliches Moment seiner Tätigkeit an der Staatsoper empfunden – jeden Abend sollte dem Publikum eine Aufführung von höchster künstlerischer Qualität geboten werden. Dass Werke von Mozart und Wagner, Verdi und Puccini oft gespielt wurden und entsprechend stark den Choralltag bestimmten, lag auf der Hand, besonders in Erinnerung geblieben ist Detlef Steffen aber ein dezidiert »modernes« Werk, die Aufführung von Krzysztof Pendereckis »Die Teufel von Loudun« in der Regie von Erhard Fischer, dirigiert von Wolfgang Rennert, 1975 in der Staatsoper. Ein ganzes Jahr wurde für die musikalische Einstudierung benötigt; die Stimmen des Chores waren so schwierig zu koordinieren, dass die Chorassisten-

ten aus den Seitenlogen heraus die Einsätze gaben und das Klanggeschehen organisierten. Eine der größten musikalischen Herausforderungen seiner Karriere sei dies gewesen, so Detlef Steffen. Zusätzlich zum Staatsopernchor arbeitete er noch mit dem unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vom damaligen Chordirektor Karl Schmidt gegründeten Konzertchor. Diese Vereinigung von Laiensänger:innen wurde bei besonders großbesetzten Werken, etwa bei Wagners »Meistersingern« oder Verdis »Aida«, eingesetzt, veranstaltete aber auch eigene Konzerte. 1974 dirigierte Detlef Steffen erstmals das Mozart-Requiem mit diesem Chor, mit einem Solistenquartett der Staatsoper sowie der Staatskapelle, Aufführungsort war die benachbarte Hedwigskathedrale. Über mehrere Jahrzehnte hinweg, bis 2010, folgten zahlreiche Auftritte, mit einschlägigen chorsinfonischen Werken von Bach und Händel, Brahms und Verdi, auch mit Orffs »Carmina burana« – ein besonders produktives Kapitel im Berufsleben von Detlef Steffen. Zentral blieb jedoch immer der Staatsopernchor, seine »große Liebe«. Über die mehr als 40 Jahre am Haus, in nahezu täglicher Arbeit mit dem Chor, sei ein Gefühl von Zusammenhalt und Gemeinschaft entstanden.

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Nicht nur war Detlef Steffen über viele Jahre hinweg Mitarbeiter von Chordirektor Ernst Stoy, auch dessen Nachfolger Eberhard Friedrich stand er zuverlässig zur Seite. Als »hervorragenden Assistenten« bezeichnet er ihn, außerordentlich kompetent, zudem als Menschen mit gutem Humor. Die ersten Kontakte zu dem Haus, wo er 15 Jahre als Chordirektor tätig sein sollte, ergaben sich für Eberhard

Die Herren des Staatsopernchores in der ersten Szene von Rossinis »Barbier von Sevilla«, inszeniert von Ruth Berghaus, 1968

Die Damen des Staatsopernchores in der Produktion von Hans Pfitzners »Palestrina«, inszeniert von Erhard Fischer, 1983

62 Der Staatsopernchor probt im alten Chorsaal des Intendanzgebäudes Unter den Linden, angeleitet von Eberhard Friedrich, mit Detlef Steffen am Klavier

Friedrich am Rande der Bayreuther Festspiele. Es muss wohl 1993 gewesen sein, als ein erstes Gespräch mit Daniel Barenboim stattfand, der damals auf dem Grünen Hügel die Neuinszenierung von »Tristan und Isolde« in der Regie von Heiner Müller dirigierte. Der noch nicht allzu lang Unter den Linden amtierende GMD Barenboim war perspektivisch auf der Suche nach einem neuen Chordirektor für »sein« Haus – der langjährige Bayreuther Chordirektor Norbert Balatsch empfahl ihm Eberhard Friedrich, der damals den Opernchor in Wiesbaden leitete. Auf das sommerliche erste Kennenlernen mit Daniel Barenboim folgte ein winterliches Vordirigat beim Staatsopernchor, im Folgejahr 1994, bei dem Eberhard Friedrich ausgewählte Passagen aus »Lohengrin«, »Fidelio« sowie »La traviata« mit dem Chor musikalisch arbeitete. Mit Chordirektor Ernst Stoy und dem Chorvorstand einigte man sich darauf, Eberhard Friedrich eine komplette Gasteinstudierung anzuvertrauen, um zu sehen, ob sich ein dauerhaftes Engagement an der Staatsoper begründen ließ. Für einen Opernchor war es ein eher ungewöhnliches Projekt: Bachs »Weihnachtsoratorium«, die Kantaten I bis III, sollten zur Aufführung kommen, unter der musikalischen Leitung von Peter Schreier Ende 1995 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Das Konzert wurde zum Erfolg, auch dank der Leistungen des Chores – die Entscheidung für Eberhard Friedrich war gefallen, in Nachfolge von Ernst Stoy, mit dessen Gesundheit es nicht zum Besten stand, sollte er neuer Chordirektor der Staatsoper werden. Zunächst aber lernte er als Gast den Chor immer besser kennen. 1996 übernahm er die Einstudierung der beiden Verismo-Klassiker »I pagliacci« und »Cavalleria rusticana«, die Antonio Pappano in der Regie von Keith Warner dirigierte. Eberhard Friedrich erinnert sich noch gut an diese anregende Arbeit mit dem Dirigenten und dem Regisseur, ebenso wie an die Neuproduktion von Wagners

»Meistersingern« zu den Staatsopern-FESTTAGEN 1998 mit Daniel Barenboim und Harry Kupfer. Zweifellos zählt dieses Werk zu den großen Herausforderungen eines jeden Opernchors – und trotz der Bayreuth-Erfahrungen war es für Eberhard Friedrich eine spannende Angelegenheit, an einem Haus wie der Staatsoper mit seiner langen und reichen Wagner-Tradition für das gesamte chorische Ensemble (Staatsopernchor samt Extrachor) verantwortlich zu sein. Das nächste Großprojekt sollte nur wenige Monate später anstehen, die Aufführung von Darius Milhauds »Christoph Kolumbus« (ein Werk, das 1930 an der Staatsoper unter Erich Kleiber uraufgeführt worden war) in der Regie von Peter Greenaway, musikalisch geleitet vom jungen, hochbegabten Philippe Jordan. Erstmals war Eberhard Friedrich als »offizieller« Chordirektor daran beteiligt, bei diesem nach eigenen Aussagen »riesigen Stück mit großen Chorszenen, die aber nicht immer wirklich chorfreundlich inszeniert waren«. Fragt man Eberhard Friedrich nach den Opern und Konzerten, die während seiner Chordirektorenzeit seine persönlichen Favoriten waren, so nennt er zwei von Michael Gielen dirigierte und von Peter Mussbach inszenierte Produktionen, Verdis »Macbeth« und Schrekers »Der ferne Klang«. Besonders anspruchsvoll und fordernd aber, geradezu ein »Non plus ultra« für den Chor, war die Arbeit an Schönbergs »Moses und Aron«, mit der Premiere zu den FESTTAGEN 2004 unter der Leitung von Daniel Barenboim. Viel Zeit ist für die Einstudierung eingeplant worden, so wie es notwendig schien und auch notwendig war. Eberhard Friedrich lud Daniel Barenboim schon weit im Vorfeld der Aufführungen für musikalische Proben ein – und zweimal kam er auch in den Chorsaal, um interessiert zuzuhören, aber kaum einmal in den Prozess einzugreifen. Als ausgesprochen »angenehm und entspannt« hat Eberhard Friedrich das empfunden, auch als Vertrauensbeweis, dass er und

der Chor durchaus in der Lage waren, ein solch großes und anerkannt schwieriges Werk zu meistern. Auf die Berliner Aufführungsserie folgte ein Japan-Gastspiel, das zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten wurde, vor allem auch für den Staatsopernchor. In Japan kam es auch zu Aufführungen eines Werkes, das im Zentrum der Konzertaktivitäten des Chores stand und steht: Brahms’ »Ein deutsches Requiem«. In allen seinen sieben Sätzen ist der Chor präsent, aufgrund der in der Komposition unmittelbar verankerten Klangintensität und -flexibilität kann ein Opernchor hier in besonderer Weise seine Stärken ausspielen. Im Rahmen »normaler« Abonnementkonzerte der Staatskapelle, aber auch zu den FESTTAGEN oder bei anderen Sonderkonzerten erklang das Brahms-Requiem mit dem Staatsopernchor, auch die Mahler-Sinfonien, die, sofern sie einen Chor verlangen, bei Eberhard Friedrich immer in guten Händen waren. In Erinnerung bleibt eine Reihe von Aufführungen der Sinfonien Nr. 2 und 3, vornehmlich aber der monumentalen Nr. 8, der »Sinfonie der Tausend«. Pierre Boulez, in Eberhard Friedrichs Worten »ein großartiger Musiker und Mensch«, hat sie mehrfach mit der Staatskapelle und dem Staatsopernchor aufgeführt, beim zehnteiligen Mahler-Zyklus der FESTTAGE 2007 in der Philharmonie etwa, aber auch bei einer nachfolgenden CD-Aufnahme. Auch – und vor allem – mit Daniel Barenboim gab es da eine Reihe von künstlerisch gelungenen Projekten, gleichsam von Ewigkeitswert. So hat Eberhard Friedrich den Staatsopernchor für die Studioproduktionen von Beethovens »Fidelio« und den drei romantischen Opern Wagners, »Der fliegende Holländer«, »Tannhäuser« und »Lohengrin« einstudiert, bekanntermaßen große Aufgaben. Mit besonderer Freude denkt Eberhard Friedrich an die Aufnahme des »Tannhäuser« 2001 im Funkhaus an der Nalepastraße zurück, bei der er für den exzellenten Chorklang viel Lob

erhielt – auf die nachmalige Auszeichnung dieser CD-Produktion mit einem »Grammy« können er und der Chor zu Recht stolz sein. Wenn man Eberhard Friedrich fragt, was er denn als eine besondere Qualität des Staatsopernchors ansieht, so lautet die Antwort: »Es ist die Bereitschaft Vieler, sich auf neue Dinge einzulassen.« Nicht nur Wagner, Verdi & Co. zu singen, sondern auch die Neugier auf Unbekanntes und Ungewohntes mitzubringen, ist eine schätzenswerte Eigenschaft. Konkret nennt er die Arbeit mit René Jacobs, der seit den 1990er Jahren zahlreiche gefeierte Produktionen von Werken aus Barock und Frühklassik an der Staatsoper verwirklicht hat und dabei zunehmend auf die Mitwirkung des Staatsopernchors setzte. Mochte die »Antigona« von Tommaso Traetta noch auf vergleichsweise vertrautem musikalischem Terrain spielen, so war Emilio de’ Cavalieris »Rappresentatione di Anima et di Corpo« ein anderer Fall. In diesem sehr frühen Musiktheaterwerk, im Jahr 1600 erstmals aufgeführt, sang nur eine kleinere Gruppe des Chores – und das in mitteltöniger Stimmung. Das erforderte eine spürbare Umstellung, vor allem eine neue Art des Aufeinanderhörens und des Sicheinfügens in den musikalischen Zusammenhang, sowie eine Ensemblekultur, die deutlich verschieden von dem war, was üblicherweise im klassisch-romantischen Opernrepertoire verlangt wird. Die beteiligten Sänger:innen hatten neue Erfahrungen gewonnen, zudem beflügelt durch den Erfolg der Aufführungen im Schiller Theater, auf Gastspielreise sowie durch eine vielbeachtete CD-Produktion. Auf der anderen Seite stehen Projekte mit zeitgenössischer Musik, ebenso wichtig und entwicklungsfördernd für den Chor. Eberhard Friedrich nennt in diesem Zusammenhang die Uraufführung von Harrison Birtwistles »The Last Supper« 2000 in der Staatsoper, aber auch die von Claus Guth 2013 konzipierte und inszenierte Pre-

Der Staatsopernchor im Apollosaal der Staatsoper, mit Chordirektor Eberhard Friedrich, 2007

Eine besondere Herausforderung für den Staatsopernchor: Arnold Schönbergs »Moses und Aron«, 2004 in der Regie von Peter Mussbach auf die Bühne gekommen und mit der Auszeichnung als »Chor des Jahres« bedacht

Der Staatsopernchor in Harry Kupfers Inszenierung von Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«, 1998

miere von »AscheMOND oder The Fairy Queen«, bei der Musik von Helmut Oehring mit barocken Klängen von Henry Purcell zusammenkam. Der Chor hatte beides zu singen, das Alte wie das Neue, dazu war er auch szenisch sehr präsent eingesetzt. Zuweilen mussten die Sänger:innen ihre Töne mit Hilfe der Stimmgabel finden, ansonsten war eine Orientierung im Klangraum kaum möglich gewesen – auch das eine eher ungewohnte, nicht alltägliche Praxis.

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Für den Nachfolger von Eberhard Friedrich im Amt des Chordirektors, Martin Wright, war eine solche »big challenge« der bis dahin noch nicht unternommene Ausflug in die französische Barockoper. Als für die ersten BAROCKTAGE der Staatsoper 2018 eine Neuproduktion von Jean-Philippe Rameaus Tragédie lyrique »Hippolyte et Aricie« geplant wurde, stand, auch bedingt durch die inzwischen erworbenen Kompetenzen im Bereich der Alten Musik, nicht mehr zur Debatte, ein Spezialensemble zu engagieren – und der Staatsopernchor sollte sich dieser Aufgabe auch gewachsen zeigen, wie das im Jahr zuvor schon bei Purcells »King Arthur« der Fall gewesen war. Trotzdem war für das Werk des französischen Opernmeisters ein neues Klangbild zu entwickeln, um dem besonderen Stil gerecht zu werden. Die Wiederaufnahme von »Hippolyte et Aricie«, dirigiert von Simon Rattle am Pult des Freiburger Barockorchesters im Jubiläumsjahr des Chores 2021, hat einmal mehr gezeigt, wie flexibel die Sänger:innen musikalisch agieren können – auch das Publikum in der Pariser Philharmonie, wo eine konzertante Aufführung stattfand, war davon begeistert. Spricht man Martin Wright auf die Lieblingsprojekte seiner bisherigen Arbeit mit dem Staatsopernchor

an, so nennt er diese Produktion, aber auch die neuen »Meistersinger«, die 2015 im Schiller Theater in Szene gingen, aber auch schon im grundsanierten Haus Unter den Linden gespielt wurden, jeweils von Daniel Barenboim dirigiert. In der Inszenierung von Andrea Moses tritt Martin Wright auch auf der Bühne in Erscheinung (üblicherweise bleibt ein Chordirektor ja hinter den Kulissen): Am Beginn der Oper, gleich nach dem instrumentalen Vorspiel, dirigiert er, unverkennbar als Martin Luther kostümiert und charakterisiert, die versammelte Gemeinde. Das Dirigieren ist nur eine der Tätigkeiten, die Martin Wright im Laufe seiner Musikerkarriere ausübt. Begonnen hat der aus dem nordwestlichen US-Bundesstaat Idaho stammende Künstler als Pianist und Sänger. Chordirektorenposten hatte er sowohl in Amerika (San Diego und Chicago) als auch in Europa inne (Nederlandse Opera Amsterdam), hinzu kam eine regelmäßige Arbeit mit Rundfunkchören, ebenfalls in den Niederlanden, aber auch in Deutschland beim BR, WDR und NDR sowie mit dem Rundfunkchor Berlin. Sein erstes Projekt mit dem Staatsopernchor bestand in einer Einstudierung von »Il trovatore«, im Herbst 2013 im Verdi-Jahr neu auf die Bühne des Schiller Theaters gebracht. Daniel Barenboim dirigierte, mit Anna Netrebko und Plácido Domingo war die Produktion prominent besetzt. Nach der erfolgreichen Premiere, bei der auch der Chor viel Applaus erhielt, wurde Martin Wright zum neuen Chordirektor berufen. Gleich in der ersten Saison stand eine Reihe von Wiederaufnahmen an, u. a. von Wagners »Der fliegende Holländer« und Puccinis »La Bohème«, dazu mit dem Requiem von Max Reger ein nur selten aufgeführtes Konzertwerk. Seither lagen die Choreinstudierungen aller großen Produktionen in den Händen von Martin Wright, ob nun von Glucks »Orfeo ed Euridice«, Wagners »Parsifal«, Berlioz’ »La damnation de Faust«, Bizets »Les pêcheurs de

perles«, Cherubinis »Medée«, Schumanns »Szenen aus Goethes Faust«, Verdis »Macbeth« und »Falstaff« oder eben auch von Werken der »Early Music« wie »King Arthur« und »Hippolyte et Aricie«. Ein weitgespanntes Repertoire hat Martin Wright zu betreuen, von Barock, Klassik und Romantik bis hin zu Jörg Widmanns »Babylon«-Oper, die in einer neuen Fassung – und in großer Chorbesetzung – 2019 im Haus Unter den Linden eine Art zweite Uraufführung erlebte. Auch das eigene Dirigieren kam nicht zu kurz: Zu Pfingsten 2016 leitete Martin Wright eine Darbietung von Rossinis »Petite Messe solennelle«, zudem stand er beim Eröffnungsfest 2014 im Orchestergraben vor der Staatskapelle, um vor vollem Haus eine Operngala zu dirigieren – und bei »Staatsoper für alle« im Herbst 2021 überließ ihm Daniel Barenboim das Podium, damit er dem Publikum auf dem Bebelplatz eine Folge von »Großen Opernchören« präsentieren konnte. Anlass hierzu war der 200. Geburtstag des Staatsopernchores, der mit diesem Event und dieser Geste gefeiert wurde, eine Fortsetzung findend im Jubiläumskonzert am 13. Dezember 2021 in der Staatsoper. Dass als Chorwerk Bruckners majestätisches »Te Deum« ausgewählt wurde, findet Martin Wright gut und richtig, auch angesichts der immer noch schwierigen Situation für den Chor, dessen Arbeit durch die Corona-Pandemie stark in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Zwar ist dieses »Te Deum« kein »Opus magnum« im eigentlichen Sinne, bietet dem Chor aber eine Menge an Herausforderungen und zugleich die Gelegenheit, ihn in seiner ganzen klanglichen Pracht und Vielfalt des Ausdrucks zu zeigen. Und der offensichtliche Kontrast zu dem anderen Chorstück des Abends, Schuberts »Gesang der Geister über den Wassern« mit seinem kammermusikalischen Charakter, lässt Raum für ein flexibles Arbeiten am Klang. Ohnehin kommt es Martin Wright darauf an, den Chor weiter zu entwickeln und für neue Aufgaben zu

wappnen. In der laufenden Saison 2021/22 stehen mit Schumanns »Das Paradies und die Peri« und mit Mozarts Messe in c-Moll noch zwei größere Chorwerke an, in der jüngeren Vergangenheit waren es Kompositionen wie Debussys »Le martyre de Saint-Sébastien«, Elgars »The Dream of Gerontius« oder Brittens »War Requiem«, die den Chor auch bei Konzertaufführungen in den Mittelpunkt stellten und entsprechend forderten. Stillstand darf es nicht geben, so Martin Wright, die künstlerischen Potentiale sollen sich weiter frei und produktiv entfalten können. Der Staatsopernchor ist jedenfalls in der Lage, ein enorm breites stilistisches Repertoire abzudecken, ob nun im sinfonischen Bereich oder auf dem weiten Feld des Musiktheaters. Flexibel, frisch und gesund soll er klingen, der Staatsopernchor, er soll Freude beim Singen und Spielen ausstrahlen und sich immer wieder von innen heraus erneuern, im Bewusstsein seiner Geschichte, aber doch so, dass man ihm seine 200 Jahre nicht anmerkt.

Szenenbild aus Claus Guths Inszenierung von »AscheMOND oder The Fairy Queen«, 2013

Der Staatsopernchor bei der Uraufführung der Berliner Fassung von Jörg Widmanns »Babylon« (Regie: Andreas Kriegenburg), 2019

Der Staatsopernchor in kleinerer Besetzung bei Purcells »King Arthur«, 2017

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