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Anthropos Antigone
ANTIGONE KÄMPFT oder: Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht
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von Alexander Eisenach
Über Jahrhunderte sind wir davon ausgegangen, dass die Zivilisationen, welche von der europäischen Aufklärung und dem Humanismus geprägt sind und welche eine Demokratie auf der Grundlage dieser Werte erschaffen haben, die Speerspitze der menschlichen Entwicklung und des zivilisatorischen Fortschritts sind. Eine Prämisse, die immer dann sichtbar wird, wenn es im öffentlichen Diskurs um die so genannten „westlichen Werte“ geht, welche wahlweise „verteidigt“, „in Stellung gebracht“ oder „vermittelt“ werden müssen. Selbstkontrolle, soziale Integration, Gleichberechtigung, Interessenausgleich, politischer Diskurs und die Anerkennung der Menschenwürde sollen unser Selbstbild prägen, während wir geflissentlich die Gewalt ignorieren, die seit Anbeginn im Herzen unserer Zivilisation wohnt. Die externalisierte Gewalt vom Kolonialismus bis zu den sklavenähnlichen Produktionsbedingungen globaler Wertschöpfungsketten der Gegenwart und die internalisierte Gewalt der Ausbeutung der unteren Klassen zu Gunsten der Kapitalvermehrung sind für die westlich-nördliche Welt ebenso konstituierend wie Demokratie und Bürgerrechte. Eine gewaltige Verdrängung wohnt im Inneren unseres Selbstbildes und mittels einer gewaltigen Autosuggestion aus politischen Gewissheiten, konsumeristischer public relation und individualistischer selfcare gelingt es uns tatsächlich die meiste Zeit den gewalttätigen Kern unserer Existenz abzukoppeln von unseren alltäglichen Handlungen, die auf verschlungenen Pfaden jede für sich zu jenem gewalttätigen Kern führen. In der Antigone des Sophokles stellt sich die Tochter des Ödipus gegen das Gesetz des neuen Königs Kreon. Dieses Gesetz übersteige seine Herrschaft, da es ältere, göttliche Gesetze gebe, die das Begräbnis fordern. Durch diese Kompetenzüberschreitung weckt er den zivilen Ungehorsam der Antigone, welche ihm vorwirft seine Herrschaft zu missbrauchen und sie nicht im Dienst der Stadt zu verwenden.
sagt Antigone im berühmten
Prolog zu ihrer Schwester Ismene. Sie beruft sich also auf ein anderes Zeitregime. Sie betrachtet sich und ihre Rolle im Staat im Maßstab der Ewigkeit. Und meint, wenn der Staat nicht mehr Träger des – hier göttlichen – Wertekanons ist, so gelten auch die Gesetze des Staates nicht mehr für sie. Widerstand gegen den Staat ist dann die Pflicht des Einzelnen. Können wir nicht in unserer Zeit Varianten dieses Musters wiederkennen? Wir sehen sie in der vulgären Staats- und Gesellschaftsfeindlichkeit, in den Gewaltexzessen und der regressiven Entzivilisierung. Die Gesetze des Staates verlieren für den Einzelnen ihre Gültigkeit, wo sie ihr Fundament aus Werten und Prinzipen verlieren bzw. dieses Fundament nicht mehr sichtbar ist. Wir sehen den zivilen Ungehorsam und bewussten Rechtsbruch auch bei klimaaktivistischen Gruppen wie der „Letzten Generation“. Diese verweisen auf den Rechtsbruch des Staats, der seiner Verantwortung im Maßstab der Ewigkeit und der Zukunft nicht gerecht wird. Der Seher Teiresias weist Kreon gegen Ende des Stückes darauf hin, dass es einen objektiven Sinn der göttlichen Gesetze gibt: Begräbt man einen Toten nicht, breiten sich Krankheiten aus. Die Frage nach der Legitimität der Gewalt koppelt sich an die Legitimität der Motive. Anhand der attische Tragödie als Form wird klar, dass sich Gewalt und Konflikt nicht als singuläre Ereignisse betrachten, bekämpfen und beruhigen lassen, sondern dass sie das Symptom einer tief wurzelnden Verletzung existenzieller Prinzipien sind. Prinzipien, die stets die legitimatorische Grundlage von Politik, von Polis, von Staat, von Herrschaft waren.
Autor und Regisseur, Alexander Eisenach, geboren 1984 in Ostberlin, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Paris. Er war Mitglied des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt, 2014 wurde dort sein erstes Theaterstück Das Leben des Joyless Pleasure uraufgeführt. Seitdem arbeitet er als freier Regisseur und Autor unter anderem am Schauspiel Hannover (Hausregisseur 2014 – 2016), Schauspiel Graz, Düsseldorfer Schauspielhaus, Volksbühne Berlin, Deutschen Theater Berlin, Berliner Ensemble und am Residenztheater München.