Nicolaas Teeuwisse · Ausgewählte Handzeichnungen · Selected Drawings VI
Nicolaas Teeuwisse
Ausgewählte Handzeichnungen Selected Drawings VI Nicolaas Teeuwisse OHG · Erdener Str. 5a · 14193 Berlin
2008 Ausgewählte Handzeichnungen Selected Drawings VI
Nicolaas Teeuwisse OHG · Erdener Str. 5a · D-14193 Berlin-Grunewald Telephone: +49 30 893 80 29 19, +49 30 890 48 791 · Telefax: +49 30 891 80 25 Email: n.teeuwisse@t–online.de
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vorwort Der zeitliche Rahmen dieses Katalogs umfaßt etwas mehr als drei Jahrhunderte europäischer Zeichenkunst und reicht von der Periode des niederländischen Manierismus bis zu einer bravourösen Figurenstudie Otto Greiners aus dem Jahre 1894. Mit Freude stelle ich in diesem Kontext eine bedeutende Neuentdeckung vor: eine Kabinettminiatur Joris Hoefnagels, die der Künstler 1589 seiner Mutter widmete. Die wundervolle, symbolträchtige Darstellung eines Blumenstraußes – wohl die erste Arbeit dieser Art, die der Künstler geschaffen hat – überstand die Jahrhunderte unbeschadet im Privatbesitz und wurde erst in jüngster Zeit entdeckt. Stilistisch bildet dieses verfeinerte Preziosum der Rudolphinischen Epoche den Gegenpol zu Dirck Barendsz.’ Ölskizze der Zurschaustellung Christi, einem ebenso raren und erlesenen Kunstwerk, das in seinem virtuosen und schwungvollen Duktus den Einfluß Tizians und Tintorettos verrät. Somit sind zwei Strömungen aus dem sehr abwechslungsreichen Spektrum der nordeuropäischen Zeichenkunst des ausgehenden 16. Jahrhunderts würdigst vertreten. Die venezianische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts ist durch Fontebassos Sintflut machtvoll repräsentiert. Es handelt sich gleichsam um eine Apotheose ihrer langen und glorreichen Geschichte, um ein letztes Aufbäumen ihrer schöpferischen Energie, bevor der Funke der Inspiration mit dem Fall der Serenissima (1797) für immer erlischt. Fontebassos Bildregie mit ihren lebhaft gestikulierenden, dramatisch verkürzten Gestalten erzeugt eine zwingende szenische Wirkung und ist von tiefem Pathos erfüllt.
Zweitens bietet dieser Abschnitt der deutschen Kunstgeschichte den Vorteil, daß verhältnismäßig viele qualitätsvolle Werke erhalten geblieben und in deutschen Privatsammlungen verwahrt sind. Gültige Beispiele hierfür sind das faszinierende Männerbildnis des Georg Friedrich Schmidt, ein bedeutendes und sehr originelles Zeugnis der Berliner Zeichenkunst des friderizianischen Zeitalters, sowie Christoph Nathes Wasserfall bei Langhennersdorf, um 1795 entstanden und eines der wenigen Aquarelle im zeichnerischen Œuvre dieses lange unterschätzten Künstlers. Beide Werke befanden sich seit Jahrzehnten in privater Hand. Einen wahrhaftigen Kontrapunkt zur gefühlvollen Naturbetrachtung und Kontemplation der deutschen Kunst um 1800 bildet Ademollos grandios und opernhaft inszeniertes Spektakelstück Marcus Attilius Regulus und die Karthager Geiseln aus dem Jahre 1790. Ademollo verbindet ein ausgeprägtes Gespür für Drama mit großer zeichnerischer Verve, so daß eine Bildregie entsteht, die den Betrachter unweigerlich in ihren Bann zieht. Tommaso Minardis Horatius Cocles dagegen überzeugt durch die kühle Noblesse der Ausführung. Im Vergleich zum Himmelsstürmer Ademollo wirkt der wenig ältere Antonio Canova in seiner Studie eines männlichen Aktes fast blass und befangen und von seinen eigenen kunsttheoretischen Überlegungen gehemmt. Dennoch ist auch diese Zeichnung in ihrer puristischen Kargheit ein gültiger Ausdruck seines Zeitgeistes und beleuchtet exemplarisch einen weiteren Aspekt dieser so fesselnden und facettenreichen Epoche.
Einen breiten Raum nimmt die deutsche Zeichenkunst des 18. und 19. Jahrhunderts ein. Dies hat einerseits mit einer ständig wachsenden Wertschätzung dieser Epoche zu tun, eine Entwicklung, die in jüngster Zeit von renommierten Museen im Inund Ausland tatkräftig gefördert wurde. Namentlich in den beiden vergangenen Jahrzehnten hat die kunsthistorische Forschung eine große Zahl von sorgfältig recherchierten Monographien und Ausstellungskatalogen auf diesem Gebiet hervorgebracht.
Mein Dank gilt folgenden Personen, die mir mit wichtigen Anregungen und Informationen behilflich gewesen sind: Marina Aarts, Anke Fröhlich, Hélène Bonafous-Murat, Maxime Préaud. Ruth Baljöhr, Sandra Espig und Robert Oberdorfer sei für ihre unentbehrliche Hilfe bei der Redaktion des Kataloges gedankt. Die englische Übersetzung wurde von Robert Bryce besorgt. Nicolaas Teeuwisse
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introduction The time frame covered by this catalogue extends over rather more than three centuries of European drawing, ranging from the period of Dutch Mannerism to a brilliant figure study by Otto Greiner dating 1894. In this context I have pleasure in introducing an important new discovery: a cabinet miniature by Joris Hoefnagel, which the artist dedicated to his mother in 1589. The wonderful, highly symbolic portrayal of a bunch of flowers – probably the artist’s first work of this kind – survived the centuries unharmed in private hands and came to light only recently. Stylistically this little gem from the reign of Rudolf II forms the antithesis to Dirck Barendsz.’s oil sketch Ecce Homo, an equally rare and exquisite work of art, whose masterly dramatic style betrays the influence of Titian and Tintoretto. Thus two currents of the very wide spectrum of northern European drawing at the close of the 16th century are worthily represented. A very characteristic example of the Venetian School of the 18th century is Francesco Fontebasso’s Flood, which may be seen as an apotheosis of a long and glorious history, a final upsurge of creative energy before the spark of inspiration was for ever extinguished with the fall of the Serenissima in 1797. The way in which Fontebasso populates his composition with agitatedly gesticulating and dramatically foreshortened figures creates a striking scenic effect and evokes profound pathos.
large number of high-quality works have been preserved and kept in German private collections. Valid examples of these are the fascinating Portrait of a Man by Georg Friedrich Schmidt, a significant and very original testimonial to draughtmanship in Berlin during the reign of Frederick the Great, and Christoph Nathe’s Waterfall at Langhennersdorf, done ca. 1795 and one of the few watercolours in the graphic œuvre of this long underestimated artist. Both drawings were in private hands for decades. A true counterpoint to the sensitive contemplation of nature that characterized German art around 1800 is provided by Ademollo’s grandiose and operatically spectacular Marcus Attilius Regulus and the Carthaginian Hostages from the year 1790. Ademollo combines a keen sense of drama with great technical verve to create a scene that casts an irresistible spell on the spectator. Tommaso Minardi’s Horatius Cocles, on the other hand, is convincing by virtue of the serene dignity of the execution. In comparison to Ademollo’s heroics, the only slightly older Antonio Canova in his Study of a Male Nude makes an almost wan and diffident impression, as if he were held back by his own artistic theories. Yet in its purist austerity this drawing is also a valid expression of its zeitgeist, illuminating and exemplifying another aspect of an absorbing and multifaceted epoch.
Much space has been devoted to German drawing of the 18th and 19th centuries. This is due, firstly, to the increasing importance being attached to this epoch, a trend that in recent times has been energetically promoted by major museums in Germany and abroad. In the past two decades, in particular, art historians have produced a large number of carefully researched monographs and exhibition catalogues in this field. Secondly, this period in German art history offers the advantage that a relatively
I owe special thanks to following persons, who have kindly provided me with invaluable information and suggestions: Marina Aarts, Anke Fröhlich, Hélène Bonafous-Murat and Maxime Préaud. I am extremely grateful to my colleagues, Ruth Baljöhr, Sandra Espig and Robert Oberdorfer, for their indispensable assistance in the editing of this catalogue. Robert Bryce supplied the English translation. Nicolaas Teeuwisse
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dirck barendsz. (1534–1592, Amsterdam)
Die Zurschaustellung Christi (Johannes, Kap. 19,5). Öl auf Papier. 25,3 x 20,7 cm. Monogrammiert: Th.B.
vierundzwanzig Ölstudien des Zyklus nachweisen, die sich heute vorwiegend in namhaften musealen Sammlungen befinden (Netherlandish Drawings of the Fifteenth and Sixteenth Centuries and Flemish Drawings of the Seventeenth and Eighteenth Centuries in the Pierpont Morgan Library, New York 1991, S. 16–17, Nr. 28). Bis zum heutigen Tag sind – die vorliegende Neuentdeckung inbegriffen – siebenundzwanzig Ölskizzen bekannt (siehe Marijn Schapelhouman in: Netherlandish Art in the Rijksmuseum 1400– 1600, Amsterdam 2000, S. 209, Nr. 89).
Allein die Tatsache, daß Dirck Barendsz. zwischen 1555–1562 in Venedig bei keinem Geringeren als Tizian arbeitete, macht ihn zu einer herausragenden Gestalt im Spektrum der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts! Wir verdanken diese Erkenntnis Carel van Mander, der auch auf die enge Beziehung zwischen Lehrmeister und Schüler hinwies. Nach seiner Rückkehr aus Italien begann Barendsz. in Amsterdam eine schöpferische Tätigkeit, und seine venezianischen Erfahrungen dürften sein Prestige in der Geburtsstadt wesentlich gestärkt haben. Die zeitgenössischen Quellen schildern Barendsz. als eine vermögende und vielseitig gebildete Persönlichkeit, die mit herausragenden Geistern seiner Epoche verkehrte, so mit dem Dichter und Staatsmann Marnix van Sint Aldegonde und dem etwa gleichaltrigen Humanisten Domenicus Lampsonius.
Die Zurschaustellung Christi demonstriert die technische Meisterschaft Barendsz.’ und die Verve seines Stils auf grandiose Weise. Auf einem schmalen Podest, das hinten von einer antiken Architekturkulisse begrenzt wird, steht der Schmerzensmann mit Dornenkrone und Rute und wird von zwei Soldaten dem tobenden Volk vorgeführt. In der rechten Bildhälfte gewahrt man eine Tempelfassade, die an die venezianischen Sakralbauten Palladios erinnert. Zwei lebhaft gestikulierende Rückenfiguren, die auf einem Treppengeländer sitzen, dienen als Repoussoirfiguren und verleihen der sehr kompakt und konzentriert aufgebauten Komposition räumliche Tiefe. Barendsz.’ Malstil ist meisterhaft synthetisch und verkürzend und von großer Individualität. Mit wenigen, treffsicheren Pinselstrichen gelingt es dem Künstler, ein komplexes Figurengeflecht plastisch und räumlich überzeugend darzustellen. Das flackernde, gespenstische Licht erinnert an den reifen Tizian und an die Kunst Tintorettos. In dieser Hinsicht ist Barendsz. einzigartig in dem künstlerischen Milieu seiner Zeit! Wer noch von seinen holländischen Zeitgenossen wäre imstande gewesen, auf kleinem Format ein derartiges Maß an Pathos und schwungvoller Bewegtheit zu suggerieren? Die monochrome, wundervoll abgestufte Farbigkeit ist der Dramatik der Handlung angemessen und belebt die plastische Wirkung des Chiaroscuros. Das Ergebnis ist ein Andachtsbild von großer emotionaler Intensität.
Trotz Barendsz’ reichen Wirkens hat sich nur ein verschwindend kleiner Teil seiner Gemälde erhalten. Die wenigen bekannten Werke weisen ihn als einen bedeutenden Vermittler zwischen der italienischen und der nordischen Tradition aus. Einige seiner Kompositionen sind durch Kupferstiche von Johannes Sadeler und Hendrick Goltzius überliefert, die somit zur Rekonstruktion des Œuvres beitragen. Von eminenter Bedeutung für ein besseres Verständnis seines Malstils ist dann auch die vorliegende, virtuos ausgeführte Ölskizze, die einer Gruppe von wohl vierzig, allesamt in dieser Technik behandelten Werken zur Passionsgeschichte angehört. Die Folge wurde zuerst im 18. Jahrhundert von Pierre-Jean Mariette in dem Abécédario beschrieben und mit Johannes Sadeler I. in Verbindung gebracht, der fünf Kupferstiche nach diesen modelli anfertigte (Hollstein 201–205). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war der Zyklus noch geschlossen erhalten, als sie dem Pariser Louvre zum Ankauf angeboten wurde. Die Transaktion scheiterte jedoch und die Folge wurde aufgelöst. Erst 1978 veröffentlichten Jacques Foucart und Pierre Rosenberg sieben Werke aus der Passionsfolge („Some ‚Modelli‘ of Religious Scenes by Dirck Barendsz.“, Burlington Magazine, CXX, 1978, S. 198–204). Felice Stampfle konnte 1991 insgesamt
Die Skizze ist, abgesehen von leichten Gebrauchsspuren, vorzüglich erhalten und auf einem Papieruntersatz des 19. Jahrhunderts montiert, der verso eine schwer leserliche Bezeichnung in Feder trägt: „..d’un Album disposé par Charles Quint...“.
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dirck barendsz. (1534–1592, Amsterdam)
Ecce Homo (John, 19:5). Oil on paper. 25.3 x 20.7 cm. Monogrammed: Th.B.
a total of twenty-four oil studies of this cycle, which are now to be found mainly in well-known museum collections (Netherlandish Drawings of the Fifteenth and Sixteenth Centuries and Flemish Drawings of the Seventeenth and Eighteenth Centuries in the Pierpont Morgan Library, New York 1991, pp. 16–17, no. 28). At the time of writing, twenty-seven oil sketches, including the present new discovery, are known to be in existence (see Marijn Schapelhouman in: Netherlandish Art in the Rijksmuseum 1400–1600, Amsterdam 2000, p. 209, no. 89).
The very fact that Dirck Barendsz. worked in Venice between 1555 and 1562 under none other than Titian makes him an outstanding figure in the spectrum of 16th century Dutch art. We owe this knowledge to Carel van Mander, who also pointed out the close relationship between master and pupil. Following his return from Italy, Barendsz. began his creative career in Amsterdam, where his Venetian experiences must have considerably enhanced his prestige in his home town. Contemporary sources depict Barendsz. as a wealthy and widely educated man who associated with some of the outstanding minds of his epoch, such as the poet and statesman Marnix van Sint Aldegonde and the humanist Domenicus Lampsonius, his approximate coeval.
The present Ecce Homo magnificently demonstrates Barendsz.’ technical mastery and stylistic verve. On a narrow platform protruding from some ancient edifice stands the figure of Christ with a crown of thorns, bearing a rod and being presented by two soldiers to the baying crowd. In the right half of the picture we see a temple façade reminiscent of Palladio’s sacred Venetian buildings. Two animatedly gesticulating rear-view figures sitting on a flight of steps serve as a repoussoir and lend depth and space to the very compact and concentrated composition. Barendsz.’ highly individual painting style shows synthetic mastery and spareness. With a few accurate brush strokes the artist succeeds in presenting a complex of figures in a convincing three-dimensional manner. The eerie, flickering light is reminiscent of the mature Titian and the art of Tintoretto. In this respect Barendsz. is unique in the artistic milieu of his day. Who else among his Dutch contemporaries would have been capable of suggesting such a degree of pathos and sweeping movement on such a small format? The delicate monochrome gradations of the brush are appropriate to the drama of the scene and enhance the threedimensional chiaroscuro effect. The result is a devotional picture of great emotional intensity.
Despite Barendsz.’ prolific creativity only few of his paintings have been preserved. The rare known works show him to have been an important intermediary between the Italian and Nordic traditions. Some of his compositions have survived in the form of engravings by Johannes Sadeler and Hendrick Goltzius, which has aided the reconstruction of his œuvre. Of eminent importance for a better understanding of his style of painting is this brilliantly executed oil sketch belonging to a group of about forty works on the Passion of Christ, all done in this technique. The cycle was first described in the 18th century by Pierre-Jean Mariette in the Abécédario, where it was associated with Johannes Sadeler I, who made five engravings after these modelli (Hollstein 201–205). The cycle was still preserved in its entirety around the middle of the 19th century, when the Louvre in Paris was invited to purchase it. The transaction fell through, however, and the series was dispersed. It was not until 1978 that Jacques Foucart and Pierre Rosenberg published seven works from the Passion series (“Some ‘Modelli’ of Religious Scenes by Dirck Barendsz.”, Burlington Magazine, CXX, 1978, pp. 198– 204). In 1991 Felice Stampfle was able to prove the existence of
Apart from minor aging the sketch is excellently preserved and mounted on a 19th century paper backing with a barely legible inscription written in pen and ink on the verso: “..d’un Album disposé par Charles Quint...”.
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joris hoefnagel (1542 Antwerpen – 1600 Wien)
Amoris Monumentum Matri Chariss(imae). Aquarellund Deckfarben auf Pergament, mit einer vergoldeten Einfassungslinie sowie einer späteren Einfassungslinie in schwarzer Tinte, auf einer Montierung aus blauem Papier des 18. Jahrhunderts. 11,7 x 9,3 cm. Signiert und datiert: Georgius Hoefnaglius. D. Ao. 89.
von Braun und Hogenberg verlegten Städtewerk Civitates orbis terrarum zu Grunde liegen. Nach der Plünderung Antwerpens durch die Spanier im Jahre 1576 mußte Hoefnagel, der sich zum Calvinismus bekannt hatte, die Stadt mittellos verlassen und traf nach einem Aufenthalt in Augsburg, wo er für die FuggerFamilie tätig war, und einer Italienreise 1578 in München ein. Seine Fama verbreitete sich schnell, denn Hoefnagel arbeitete nicht nur für den bayrischen Herzog Albrecht V. und dessen Nachfolger Wilhelm V., sondern schuf gleichzeitig im Auftrag des Erzherzogs Ferdinand von Tirol in den Jahren 1581–90 eines seiner Hauptwerke, das prachtvolle und aufwendig illustrierte Missale Romanum (Wien, Österreichische Nationalbibliothek). Diese künstlerische Ruhmestat führte zu seiner Berufung an den Kaiserlichen Hof in Wien und Prag, wo er für Rudolph II. in den 1590er Jahren weitere Meisterwerke wie das Schriftmusterbuch von Georg Bocskay (Wien, Kunsthistorisches Museum, Schatzkammer) und ein vierteiliges naturwissenschaftliches Miniaturenwerk mit Tierdarstellungen (Die Vier Elemente) schuf, das heute in Washington (The National Gallery of Art, Department of Prints and Drawings) aufbewahrt wird.
Thea Vignau-Wilberg hat in einem neulich erschienenen Aufsatz in Master Drawings die kunsthistorische Bedeutung dieses intimen und sehr persönlichen künstlerischen Zeugnisses des Joris Hoefnagel einleuchtend und klar geschildert („Flowers for His Mother: An Unknown Cabinet Miniature by Joris Hoefnagel“, Master Drawings vol. 45, no. 4, 2007, S. 522–525). Die Übersetzung der anrührenden Inschrift: „Meiner geliebten Mutter gewidmet als ein Andenken meiner Liebe“ sagt alles aus über den Stellenwert dieses kostbaren und einzigartigen Kunstwerkes. In Anbetracht der Verbundenheit Hoefnagels zu seiner Familie, insbesondere des innigen Verhältnisses zur Mutter, Elisabeth Veselaers, muß der Künstler mit ganz besonderer Aufmerksamkeit und Ehrgeiz vorgegangen sein, als er 1589 diese Miniatur schuf.
Hoefnagels Blumenstrauß für die Mutter ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich! Im Gegensatz zu vielen anderen Miniaturen des Künstlers ist das Blatt vollkommen farbfrisch und unversehrt erhalten geblieben. Das Format ist kleiner als andere Werke dieser Art und es dürfte sich daher, wie Vignau-Wilberg ausführt, um das früheste Kabinettstück handeln, das der Künstler geschaffen hat. Die sehr persönliche Widmung betont den strikt privaten Charakter dieser Schöpfung. Entsprechend subtil ist denn auch die Ikonographie der Darstellung. Ein kleines Gefäß mit kostbaren goldenen Henkeln dient als Behälter für eine wundervoll sanft und delikat wiedergegebene Rose, Rosenknospen, einzelne Vergissmeinnichtblüten und eine Trollblume, eine lokale Pflanze, die auf alpenländischen Bergwiesen gedeiht. Ein Schmetterling oder eine Kornmotte hat sich auf der Wandung der Vase niedergelassen und betastet mit ihren Fühlern die weichen Blätter der Rose. Weitere Insekten, darunter zwei kleine
Hoefnagel, dessen facettenreiche Biographie einen fesselnden Blick auf die europäische Kunst- und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirft, arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Miniaturmaler am Hofe des Herzogs Wilhelm V. von Bayern und stand in hohem Ansehen; die Adressatin des kleinen Stillebens, seine Mutter Elisabeth, befand sich damals bereits in der Emigration in Deutschland und lebte mit ihrer 1561 geborenen Tochter Susanna zuerst in Hamburg und dann in der norddeutschen Stadt Stade. Joris Hoefnagel muß eine weltläufige und vielseitig gebildete Persönlichkeit gewesen sein. Er entstammte einer wohlhabenden Antwerpener Familie und hatte in den Jahrzehnten vor seiner Ankunft in München Reisen nach Frankreich, Spanien und wohl auch nach England unternommen. Die auf seiner Wanderschaft gesammelten Zeichnungen und Skizzen sollten später dem zwischen 1572–1618 in Köln
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Schmetterlinge, eine Libelle, zwei Raupen und eine Schnecke beleben die Darstellung und fungieren gleichzeitig als tiefgründige Symbolträger. Der symmetrische Bildaufbau und vergleichbare kompositorische Elemente kehren auf späteren, zwischen 1592–94 entstandenen Miniaturen des Künstlers wieder (Siehe Vignau-Wilberg, S. 524–525). Hoefnagel war berühmt für die feinsinnig verschlüsselte Symbolik seiner Miniaturen und erweist sich damit als ein legitimer Nachfolger der flämischen Tradition des 15. Jahrhunderts. So dienen die Blumen in profanem Kontext als Sinnbild der Liebe und des Frühlings und sind gleichzeitig eng mit der überlieferten Ikonographie Mariae, Mutter Gottes, verbunden. Die Schmetterlinge symbolisieren die Erlösung der Gläubigen, während die auf der Erde kriechenden Raupen die sündige Menschheit sinnbildlich darstellen. Schließlich verkörpert die Schnecke als Schädling den Vanitas-Gedanken und weist mahnend daraufhin, daß alle irdischen Dinge dem Verfall unterliegen. Auf diese Weise ist Hoefnagels Miniatur – die wohl erste, die er mit einer persönlichen Widmung versah – nicht nur die Ehrerbietung eines auf dem Zenith seines Ruhmes stehenden Meisters an die eigene, hochbejahrte Mutter, son-
dern auch gleichzeitig ein zutiefst religiös geprägtes Andachtsbild, dessen eigentliches Leitmotiv die Endlichkeit der irdischen Existenz und die Hoffnung auf Erlösung ist. Nicht weniger beachtlich ist der weitere Werdegang dieses kleinen Meisterwerkes der rudolphinischen Epoche. Das genaue Todesdatum der Elisabeth Hoefnagel ist nicht bekannt; sie verstarb in den 1590er Jahren in Den Haag in Holland, wohin sie ihrer Tochter Susanna aus dem deutschen Exil gefolgt war. Diese hatte sich 1592 mit dem holländischen Staatsmann Christiaan Huyghens vermählt, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Miniatur nach dem Tod der Mutter in den Besitz der Tochter und somit in die berühmte Kunstsammlung der HuyghensFamilie überging. Der holländische Dichter, Diplomat, Gelehrte und Mäzen Constantijn Huyghens, das Universalgenie des holländischen „Goldenen Jahrhunderts“, war der zweitgeborene Sohn, der aus dieser Ehe hervorging. Hoefnagels Blumenstrauß überstand die Jahrhunderte unbeschadet und gelangte durch Erbschaft in den Besitz einer adligen niederländischen Familie, wo er jetzt entdeckt wurde.
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joris hoefnagel (1542 Antwerp – 1600 Vienna)
Amoris Monumentum Matri Chariss(imae). Watercolour and gouache on parchment, with a gilt framing line and a later borderline in pen and black ink, on an 18th century blue paper mount. 11.7 x 9.3 cm. Signed and dated: Georgius Hoefnaglius. D. Ao. 89.
Hoefnagel’s bunch of flowers for his mother is extraordinary in every respect. Unlike many other miniatures by the artist, the piece has been perfectly preserved with its colours fresh and intact. The format is smaller than that of other works of this kind, so it may be the artist’s earliest cabinet miniature, as VignauWilberg asserts. The very personal dedication stresses the strictly private character of the work. The iconography of the image is correspondingly subtle. A small vessel with costly gold handles serves as a container for a wonderfully soft and delicately rendered rose, rosebuds, some forget-me-nots and a globe flower, a local plant that flourishes on alpine meadows. A butterfly or corn moth has alighted on the side of the vase and is touching the soft leaves of the rose with its feelers. Other insects, including two small butterflies, a dragonfly, two caterpillars and a snail, enliven the portrayal and provide a deeper symbolism. The symmetrical structure of the picture and comparable compositional elements recur in later miniatures produced by the artist between 1592 and 1594 (see Vignau-Wilberg, p. 524–525). Hoefnagel was famous for the subtly coded symbolism of his miniatures, thus proving to be a legitimate successor of the 15th century Flemish tradition. In a profane context the flowers serve as symbols of love and spring, while at the same time being closely related to the traditional iconography of Mary, the Mother of God. The butterflies symbolize the redemption of the faithful, whereas the caterpillars that are destined to crawl on the ground symbolize sinful humanity. Finally, the snail, as a pest, embodies the vice of vanity and is a warning indication that all earthly things are subject to decay. This makes Hoefnagel’s miniature – probably the first to bear his personal dedication – not only the homage of a master at the height of his fame to his aged mother, but also a deeply religious devotional work, whose real leitmotiv is the finiteness of earthly existence and the hope of redemption.
In a recent essay in Master Drawings Thea Vignau-Wilberg has offered an enlightening explanation of the historical significance of this intimate and very personal artistic testimonial from Joris Hoefnagel (see „Flowers for His Mother: An Unknown Cabinet Miniature by Joris Hoefnagel“, Master Drawings vol. 45, no. 4, 2007, p. 522–525). The translation of the touching inscription: “Dedicated to my dearest mother as a token of my love” says everything about the status of this precious and unique work of art. In view of Hoefnagel’s attachment to his family, especially his close relationship with his mother, Elisabeth Veselaers, the artist must have proceeded with the greatest concentration and ambition when creating this miniature in 1589. Hoefnagel, whose eventful biography casts a fascinating light on the history of European art and culture in the second half of the 16th century, was employed at the time as a miniature painter at the court of Duke Wilhelm V of Bavaria, where he was held in high esteem. The recipient of this little still life, his mother Elisabeth, had earlier emigrated to Germany, where she lived with her daughter Susanna (born 1561), first in Hamburg and later in the North German town of Stade. Joris Hoefnagel must have been a cosmopolitan and widely educated person. He came from a prosperous Antwerp family and in the decades before his arrival in Munich had undertaken trips to France, Spain and, probably, England as well. The drawings and sketches accumulated during his travels were later to form the basis of the urban chronicle Civitates orbis terrarum published by Braun and Hogenberg in Cologne between 1572 and 1618. Following the sack of Antwerp by the Spaniards in 1576 Hoefnagel, who had embraced Calvinism, was forced to leave the town penniless. After a stay in Augsburg, where he worked for the Fugger family, and a trip to Italy he finally arrived in Munich in 1578. His fame spread quickly, for Hoefnagel not only worked for Duke Albrecht V of Bavaria and his successor Wilhelm V, but also created one of his main works, the sumptuous and lavishly illustrated Missale Romanum (Vienna, Österreichische Nationalbibliothek), as a commission for Archduke Ferdinand of Tyrol between 1581 and 1590. This artistic feat led to his appointment to the Imperial Court in Vienna and Prague, where in the 1590s he produced further masterpieces for Rudolph II such as the Schriftmusterbuch von Georg Bocskay (Vienna, Kunsthistorisches Museum, Schatzkammer) and a four-part scientific miniature work containing animal portrayals (The Four Elements), which is now to be found in Washington D.C. (National Gallery of Art, Department of Prints and Drawings).
No less remarkable is the later career of this little masterpiece of the Rudolphine epoch. The exact date of Elisabeth Hoefnagel’s death is not known. She died some time in the 1590s at The Hague in Holland, whither she had followed her daughter Susanna from her German exile. The latter married the Dutch statesman Christiaan Huyghens in 1592 and it is more than likely that after the death of the mother the miniature passed into the possession of the daughter and hence into the famous art collection of the Huyghens family. The Dutch poet, diplomat, scholar and patron of the arts, Constantijn Huyghens, the universal genius of the Dutch “Golden Age”, was the second son of this marriage. Hoefnagel’s bunch of flowers survived the centuries unharmed and came through inheritance into the possession of a noble Dutch family, where it was recently discovered.
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3. jurriaan andriessen
3. jurriaan andriessen
(1742–1819, Amsterdam)
(1742–1819, Amsterdam)
Arkadische Landschaft mit figürlicher Staffage. Schwarze und weiße Kreide, sowie in Leinöl getränkte Holzkohle auf blauem Papier; Einfassungslinie in schwarzer Feder. 26,6 x 20,6 cm. Verso signiert: J. Andriessen inv.
Arcadian Landscape with Staffage. Black and white chalk, charcoal soaked in linseed oil on blue paper; black ink framing line. 26.6 x 20.6 cm. Verso signed: J. Andriessen inv.
Die künstlerische Laufbahn des Malers und Zeichners Jurriaan Andriessen spiegelt die Beschaulichkeit des Amsterdamer Kunstlebens während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wider. Der Künstler ging in Amsterdam bei Anthony Elliger und Jan Maurits Quinkhard in die Lehre und war seit 1760 Mitglied der dortigen Zeichenakademie, zu deren Direktor er 1794 ernannt wurde. Andriessen spezialisierte sich in den 1760er Jahren auf Entwürfe für Tapeten und dekorativen Wandschmuck und fertigte auch Landschaften mit figürlicher Staffage an. Vor allem als Lehrer hat sich Andriessen großen Verdienst erworben. Seit 1805 leitete der Künstler eine Privatakademie für Aktzeichnen, die in seinem Haus an der Amstel untergebracht war. Andriessen hatte eine umfangreiche Schülerschar, zu denen bekannte Namen wie Daniel Dupré, Jean Grandjean, Wouter Johannes van Troostwijk und Hendrik Voogt zählen.
The artistic career of the painter and draughtsman Jurriaan Andriessen reflects the contemplative nature of the Amsterdam art scene during the second half of the 18th century. The artist served his apprenticeship under Anthony Elliger and Jan Maurits Quinkhard in Amsterdam, becoming a member of the drawing academy there in 1760 and its director in 1794. In the 1760s Andriessen specialized in designs for wallpaper and wall decorations and also made landscapes with accessory figures. However, it is for his achievements as a teacher that he is mainly remembered. Starting in 1805, the artist ran a private academy for nude drawing in his house on the Amstel. The roll of Andriessen’s pupils is long and features such well-known names as Daniel Dupré, Jean Grandjean, Wouter Johannes van Troostwijk and Hendrik Voogt. The Rijksprentenkabinet in Amsterdam keeps about two hundred of his designs for wall hangings and interior decorations. They consist mainly of drawings in pen and wash, which are executed in a dynamic and free style and mostly comprise idealized southern landscapes matching the taste of the time. Stylistic influences of such 17th century Dutch masters as Jan Wijnants and Adam Pynacker are unmistakable. The present, very hastily sketched drawing occupies a special place in Andriessen’s œuvre. This may well be the only preserved specimen on blue paper and it reveals a technique which also points to 17th century Dutch predecessors. The combination of chalk and charcoal soaked in linseed oil was often used by such artists as Anthonie Waterloo and Simon de Vlieger. Andriessen’s method of drawing is terse and incisive. With just a few strokes he is able to convincingly integrate the staffage figures into the Arcadian landscape. In front of a tall, leafy tree in the background we glimpse sketchily outlined figures standing around a fountain. With great economy of means Andriessen has managed to create an atmospheric and convincingly dimensioned scene from nature.
Das Rijksprentenkabinet in Amsterdam verwahrt etwa zweihundert seiner Entwurfszeichnungen für Wandtapeten und Innenraumdekorationen. Es handelt sich vorwiegend um lavierte Federzeichnungen, die in einem dynamischen und lockeren Duktus ausgeführt sind und im Einklang mit dem Zeitgeschmack vor allem südliche Ideallandschaften darstellen. Stilistische Anregungen durch niederländische Meister des 17. Jahrhunderts wie Jan Wijnants und Adam Pynacker sind unübersehbar. Die vorliegende, sehr rasch skizzierte Zeichnung nimmt eine Sonderstellung im Œuvre ein. Es dürfte sich um das einzig bekannte Blatt auf blauem Papier handeln, dessen Technik ebenfalls auf niederländische Vorgänger des 17. Jahrhunderts verweist. Die Kombination von Kreide und in Leinöl getränkter Holzkohle wurde oft von Künstlern wie Anthonie Waterloo und Simon de Vlieger angewendet. Andriessens Zeichenstil ist stark abkürzend und pointiert. Mit nur wenigen Strichen gelingt es ihm, die Staffagefiguren überzeugend in die arkadische Landschaft zu integrieren. Vor einem hohen, üppigen Baum im Hintergrund gewahren wir umrißhaft angedeutete Gestalten, die um einen Springbrunnen stehen. Mit großer Ökonomie der Mittel gelingt es Andriessen, einen atmosphärisch und räumlich überzeugenden Naturausschnitt zu gestalten.
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4. louis carmontelle
4. louis carmontelle
(eigentlich Carrogis, 1717–1806, Paris)
(or Carrogis, 1717–1806, Paris)
Bildnis der Marie Louise Petit, im Alter von 105 Jahren. Bleistift, schwarze und rote Kreide, Aquarell. 27,2 x 19,9 cm. Auf der Originalmontierung bezeichnet und datiert: Marie Louise Petit, Agée de 105 Ans. Dessinée à Villiers-Coterest le 6 juillet 1765.
Portrait of Marie Louise Petit, at the age of 105. Pencil, black and red chalk, watercolour. 27.2 x 19.9 cm. Inscribed and dated on the original mount: Marie Louise Petit, Agée de 105 Ans. Dessinée à VilliersCoterest le 6 juillet 1765.
Carmontelle schildert auf dieser Zeichnung ein einfühlsames und anrührendes Abbild des Alters. In dem kargen Raum eines Hospizes sitzt eine alte, hagere Frau auf einem Lehnstuhl. Weiße Vorhänge verhüllen die Schlafstätten der Bewohner des Altenheimes, die offenbar auf engem Raum zusammenleben. Die Dargestellte, Madame Petit genannt, trägt ein langes, blaues Kleid und eine Spitzenhaube und blickt uns direkt in die Augen. Ihre Haltung mit den auf dem Schoß zusammengefalteten Händen symbolisiert das lange Warten auf den Tod; ein neben ihr liegendes Buch bietet offenbar die einzige Zerstreuung. Meisterlich und mit hintergründiger Pointe hat Carmontelle den Gegensatz zwischen der uralten Frau – als sie geboren wurde, lebten Rembrandt und Poussin noch! – und der jungen Nonne dargestellt, die in der Blüte ihrer Jugend ist. Ihr frisches, fülliges Gesicht wird großenteils von einer weißen Haube verdeckt; sie schaut den Betrachter scheu, aber auch neugierig und fast kokett an. So entsteht ein spannungsvoller Gegensatz zwischen jugendlicher Lebenskraft und resignierendem Greisentum.
In this drawing Carmontelle has given us a sensitive and thoughtful study of old age. A gaunt old woman sits on an easy chair in the sparsely appointed room of a hospice. White curtains screen off the sleeping places of the other residents of the home, whose living space is evidently cramped. The subject of the portrait, a certain Madame Petit, wears a long, blue dress and a lace bonnet and looks us directly in the eye. Her posture, with her hands folded on her lap, symbolizes the long wait for death, while a book evidently provides her sole distraction. With masterful subtlety Carmontelle has brought out the contrast between the aged woman (who was born when Rembrandt and Poussin were still alive!) and the young nun, who is in the bloom of her youth. Her fresh, full face is largely concealed by a white bonnet, and she looks at the beholder shyly, but with curiosity and almost coquettishly. The result is a striking contrast between the vigour of youth and the resignation of old age. Louis Carmontelle, a highly gifted chronicler of his epoch, was the son of a cobbler and self-taught as an artist. Although his natural talent gained him access to the highest circles of French society, the beginnings of his artistic career are only very fragmentarily documented. In the years 1757–58 Carmontelle began to draw portraits with great intensity and extraordinary facility. In 1763, when he entered the service of the House of Orléans, his portrait gallery had assumed considerable dimensions. By the time he died the artist had painted portraits of the personalities in his private circle, noble patrons and visitors to the court of Orléans, including such renowned guests as Voltaire, Benjamin Franklin and the young Mozart. His masterly and never banal portrait drawings convey an unusually vivid picture of daily life in pre-revolutionary France, offering a visual crosssection of the various social strata of the Ancien Régime.
Louis Carmontelle, hochbegabter Chronist seiner Epoche, war Sohn eines Schusters und als Künstler Autodidakt. Auf Grund seines Naturtalentes gelang ihm der Sprung in die höchsten Kreise der französischen Gesellschaft, doch sind die Anfänge seiner künstlerischen Laufbahn nur sehr lückenhaft dokumentiert. Seit 1757/58 begann Carmontelle intensiv und mit erstaunlicher Gewandtheit, Bildnisse zu zeichnen. Als er 1763 in den Dienst des Hauses Orléans trat, hatte seine Porträtgalerie bereits erheblichen Umfang angenommen. Bis zu seinem Tod sollte der Künstler Persönlichkeiten aus seinem privaten Umfeld, adelige Gönner und Besucher am Hofe von Orléans porträtieren, unter ihnen berühmte Gäste wie Voltaire, Benjamin Franklin und den jungen Mozart. Seine meisterhaften, niemals banalen Porträtzeichnungen vermitteln ein ungewöhnlich lebendiges Bild vom täglichen Leben im vorrevolutionären Frankreich und bieten einen visuellen Querschnitt unterschiedlichster Gesellschaftsschichten des Ancien Régime.
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5. francesco fontebasso (1707–1769, Venedig)
Die Sintflut. Federzeichnung in Braun über Bleistift, auf einer Montierung des 18. Jahrhunderts. 47,4 x 33,7 cm.
dem Alten und Neuen Testament und Heiligenleben, die nahezu die gleiche Größe besitzen wie Die Sintflut, sind vielleicht das herausragendste Beispiel von Fontebassos Zeichenkunst (siehe F. Pedrocco, C. Tonini, Francesco Fontebasso 1707– 1769. L’album dei disegni, Venedig 2006/07). Diesen Zeichnungen und unserem Blatt gemeinsam ist eine vergleichbare kompositorische Konzentration und Intensität. Trotz ähnlicher Bewegungsmotive (beispielsweise Pedrocco,Tonini, op. cit., S. 26, 2.11; 2.12) sind die Zeichnungen des Cini-Albums jedoch offener und transparenter gehalten und dank ihrer Lavierung flüssiger im Duktus. Unser Blatt unterscheidet sich dagegen durch die ungeheure Dichte der Federführung; die detaillierte und präzise Ausführung deutet darauf hin, daß die Zeichnung als autonomes Kunstwerk gedacht war.
Francesco Fontebasso brillierte Zeit seines Lebens nicht nur als einer der gefragtesten Maler der venezianischen nobiltà, er war auch ein hochbegabter und vielseitiger Zeichner, dessen Werke eine große stilistische Vielfalt vorweisen. Souverän wandte der Künstler unterschiedlichste Techniken an, von der rasch hingeworfenen Federskizze bis hin zu großformatigen, bildmäßig ausgeführten Zeichnungen, die als autonome Kunstwerke galten. Fontebassos Stilsprache, die ihre wesentlichen Impulse der Kunst Sebastiano Riccis und Giovanni Battista Tiepolos verdankt, gelangte in den 1740er Jahren zu künstlerischer Vollendung und schöpferischer Größe. Die vorliegende wahrhaft magistrale Zeichnung dürfte dieser reifen Schaffensphase zuzuordnen sein und offenbart alle Vorzüge von Fontebassos Zeichenkunst. Ungeheure Dramatik der Handlung verbindet sich mit einer atemberaubenden technischen Perfektion. Fontebassos Federtechnik ist äußerst differenziert und beweglich. Ein nach Stärke und Farbintensität variierendes, dichtes Netz von Schraffuren überzieht die ganze Darstellung und läßt sie in einem klaren Licht vibrieren. Die Virtuosität der Federführung und die ornamentale Qualität der Schraffurmuster erinnern entfernt an die „Federkunststücke“ von so unterschiedlichen Künstlern wie Hendrick Goltzius oder Bartolomeo Passarotti. Mannigfaltig und unübersehbar sind die stilistischen Parallelen mit autographen Zeichnungen des Künstlers. Die kühne Perspektivität – man betrachte die jäh verkürzte, in der Unteransicht wiedergegebene liegende Gestalt rechts –, die ungestüme Dynamik der Bewegungsmotive und das ungeheure Pathos der Inszenierung, das alles sind Topoi, denen wir vielfach in Fontebassos Schaffen der Jahrhundertmitte begegnen (vgl. beispielsweise James Byam Shaw, The Italian Drawings of the Frits Lugt Collection, Paris 1983, Bd. 1, S. 306 ff, Nr. 295; Bd. III, Tafel 348). Auch die Figuren mit ihrer kraftvollen, prononcierten Muskulatur und der typischen breiten Kopfform mit niedriger Stirn sind charakteristisch für den Meister. Es liegt daher nahe, unsere Zeichnung mit dem berühmten Cini-Album zu vergleichen (Museo Correr, Gabinetto Disegni e Stampe, Venedig). Die achtundzwanzig Blätter mit Darstellungen von Szenen aus
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5. francesco fontebasso (1707–1769, Venice)
The Flood. Pen and two shades of brown ink over black chalk, on a contemporary mount. 47.4 x 33.7 cm.
Saints, which are almost as large as The Flood, are perhaps the most outstanding example of Fontebasso’s style of drawing (see F. Pedrocco, C. Tonini, Francesco Fontebasso 1707–1769. L’album dei disegni, Venice 2006/07). What these drawings have in common with the present one is a comparable compositional concentration and intensity. Despite similar movement motifs (for example Pedrocco, Tonini, op. cit., p. 26, 2.11; 2.12) the drawings of the Cini Album show a more open and transparent handling and, by the use of wash, reveal a more elegant, fluid style. Our drawing, on the other hand, differs from them in the extreme density of the penwork, while the highly detailed and precise execution suggests that the drawing should be regarded as an autonomous work of art.
All his life Francesco Fontebasso was not only one of the most brilliant and sought-after painters of the Venetian nobiltà, but also a very gifted and versatile draughtsman whose works show a great stylistic diversity. With supreme mastery the artist employed a wide variety of techniques, from pen sketches hastily committed to paper to large, highly finished drawings that counted as works of art in their own right. In the 1740s Fontebasso’s style, which was profoundly indebted to the art of Sebastiano Ricci and Giovanni Battista Tiepolo, reached its artistic and creative culmination. This truly astonishing drawing is probably attributable to his mature period and reveals all the virtues of Fontebasso’s draughtsmanship, A powerful dramatic narrative is combined with breathtaking technical perfection. Fontebasso’s pen technique is extremely nimble and differentiated. A close network of hatching and cross-hatching varying in strength and density covers the whole scene, making it vibrate in a clear light. The virtuosity of the penmanship and the ornamental quality of the hatching patterns are faintly reminiscent of the „Federkunststücke“, or drawings imitating engravings, produced by such different artists as Hendrick Goltzius and Bartolomeo Passarotti. The stylistic parallels with autograph drawings by Fontebasso are many and unmistakable. The bold use of perspective – observe for instance the sharply foreshortened, recumbent figure seen from an upside-down angle in the lower right-hand corner –, the strong dynamism of movement and the awesome pathos of the unfolding drama are all topoi that we often encounter in Fontebasso’s work around 1750 (cf. for example James Byam Shaw, The Italian Drawings of the Frits Lugt Collection, Paris 1983, vol. 1, p. 306 ff, no. 295; vol. III, plate 348). The pronounced muscles and the typically broad, low-browed heads of the figures are also characteristic of the master. So it is only appropriate to compare our drawing with the famous Cini Album (Museo Correr, Gabinetto Disegni e Stampe, Venice). The twenty-eight scenes from the Old and New Testament and the Lives of the
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hilaire ledru (1769 Opi b. Douai – 1840 Paris)
Bildnis der Madame Mézières, Comédienne du Roi. Bleistiftzeichnung. 29,4 x 20,8 cm. Bezeichnet unten in brauner Feder: M. Mézières Comédienne du Roi. Jouant les 1ers rôles.
Leben –, starb Hilaire Ledru völlig verarmt und vergessen. Wieviele begabte aber mittellose Künstler müssen damals in der Metropole Paris, die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits eine Million Einwohner zählte, ein dürftiges Dasein gefristet haben? Ein Szenario à la Balzac!
Dieses anmutige und intime Bildnis einer Schauspielerin ist künstlerisch ebenso exquisit wie rar. Bereits 1859 als P. Hédouin eine Nekrologie seines Autors, des Malers und Zeichners Hilaire Ledru veröffentlichte, war der Künstler völlig in Vergessenheit geraten (Gazette des Beaux-Arts, 1859, III, S. 230–236). Dabei war Ledru, der aus einem nordfranzösischen Dorf in der Nähe von Douai stammte und in Paris künstlerisch ausgebildet wurde, während der Periode des Directoire ein gefragter Porträtist. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich seine gezeichneten „Pointillé“-Bildnisse, die in ihrer technischen Verfeinerung dem herrschenden Zeitgeschmack entsprachen. Eine enge Freundschaft verband Ledru mit einem anderen begabten chroniqueur der Pariser Gesellschaft, dem genialen Zeichner Louis Leopold Boilly (1761–1845), der etwa gleichaltrig und ebenfalls nordfranzösischer Herkunft war. Ihre Lebensläufe ähneln sich sehr. Beide Künstler bestritten ihren Lebensunterhalt mit kleinformatigen Porträts und arbeiteten in der von Brotneid und Riva lität gekennzeichneten Kunstszene der französischen Hauptstadt unter schwierigen Bedingungen. Während aber Boilly 1833 wenigstens noch die Genugtuung erleben durfte, die Légion d’honneur zu erhalten – die erste und einzige Auszeichnung in seinem
Das Bildnis der Madame Mézières, das in dem Aufsatz Hédouins als Holzstich reproduziert ist, dürfte in den 1790er Jahren entstanden sein. Die in Halbfigur dargestellte junge Frau besticht durch ihre melancholische Schönheit. Sie trägt ein Theaterkostüm mit Pierrotkragen; ein wagemutig konstruierter Federhut schmückt das hübsche Gesicht, das mit dem Anflug eines Lächelns den Betrachter anschaut. In ihrer rechten Hand hält die comédienne den Text, aus dem sie bald vortragen wird. Eine duftige Baumkulisse bildet die hintere Begrenzung des sehr einfühlsam aufgefaßten Porträts. Ledrus Zeichentechnik, die weiche und harte Zeichenstifte gekonnt kombiniert, ist von größter Delikatesse. Der weiche Bleistift erzeugt fabelhaft sanfte Übergänge und modelliert Details des Gesichtes wie Augenbrauen, Nase und Lippen mit zartem Schmelz. Mit einem spitzen, scharfen Stift sind die wundervoll lebhaften Augen und die einzelnen Strähnen des fülligen Haares trefflich charakterisiert, mildes Licht betont die Weichheit des Inkarnats. Es ist eben diese Tradition von zeichnerischer Kultur, die in Frankreich den Boden ebnete für einen späteren Giganten wie Jean-AugusteDominique Ingres.
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hilaire ledru (1769 Opi – 1840 Paris)
Portrait of Madame Mézières, Comédienne du Roi. Pencil with stumping. 29.4 x 20.8 cm. Inscribed below in pen and brown ink: M. Mézières Comédienne du Roi. Jouant les 1ers rôles.
many gifted but impoverished artists must there have been eking out a precarious existence in the Parisian metropolis, which by the mid-19th century already numbered a million inhabitants? A scenario à la Balzac!
This appealing and intimate portrait of an actress is as artistically exquisite as it is rare. By 1859, when P. Hédouin published an obituary of its author, the painter and draughtsman Hilaire Ledru, the artist had fallen completely into oblivion (Gazette des Beaux-Arts, 1859, III, pp. 230–236). And yet Ledru, who came from a village near Douai in northern France and was trained as an artist in Paris, was a sought-after portraitist during the period of the Directory. Especially popular were his “pointillé” portrait drawings, whose technical refinement was in keeping with the prevailing taste of the time. Ledru was a close friend of another gifted chroniqueur of Parisian society, the brilliant draughtsman Louis Leopold Boilly (1761–1845), who was roughly the same age and also hailed from the north of France. Their careers had much in common. Both artists made their living with small-format portraits and worked under difficult conditions amid the envy and rivalries of the French capital’s art scene. But while Boilly at least had the satisfaction of being awarded the Legion of Honour in 1833 – the first and only distinction he was to receive – Hilaire Ledru died destitute and forgotten. How
The Portrait of Madame Mézières, which is reproduced in Hédouin’s essay as a wood engraving, was probably done in the 1790s. The appeal of the young woman, who is shown in halflength, lies in her melancholy beauty. She is wearing a theatrical costume with a Pierrot collar, while a daringly designed plumed hat sets off the pretty face that regards the beholder with the ghost of a smile. In her right hand the comédienne holds the text from which she is about to recite. A hazy row of trees closes off the background of this very sensitively executed portrait. Ledru’s drawing technique, which cleverly combines soft and hard pencils, is of the greatest delicacy. The soft pencil produces amazingly subtle transitions and imbues the details of the face, such as the eyebrows, nose and lips, with a delicate lustre. A sharp pencil has been used to capture the wonderfully lively eyes and the individual strands of the abundant hair, while a mild light is used to bring out the softness of the complexion. It was this tradition of draughtmanship in France that paved the way for such later giants as Jean-Auguste-Dominique Ingres.
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7.
marco marcola
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marco marcola
(um 1740–1793 Verona)
(ca. 1740–1793, Verona)
Zwei antike Feldherren zu Pferde. Feder und Pinsel in Schwarz und mehreren Brauntönen, weiß gehöht, auf graugrün grundiertem Papier. 26,1 x 40,2 cm. Im unteren Rand in Feder bezeichnet: Marco Marcola.
Two Mounted Antique Warriors. Pen and black ink, point of the brush and several shades of brown wash, heightened with white, on greenish-grey prepared paper. 26.1 x 40.2 cm. Inscribed in pen in lower margin: Marco Marcola.
Marco Marcola entstammte einer weitverzweigten Veroneser Malerfamilie und war Schüler seines Vaters Giovanni Battista (1711–1780). Er führte in Verona und dessen Umland eine stattliche Zahl von religiösen Gemälden und Freskendekorationen aus und war auch als Bühnenentwerfer tätig. Marcolas Malerei ist von einem gewissen Provinzialismus gekennzeichnet und leidet bisweilen unter technischen Unzulänglichkeiten. In seinem zeichnerischen Werk offenbart sich dagegen ein freierer und unbefangener Geist. Das vorliegende Blatt ist in einem flüssigen, eleganten Duktus ausgeführt, dessen Beweglichkeit und lebendiges Chiaroscuro an große Veroneser Vorgänger des Cinquecento wie Paolo Farinati erinnern. Diese wie Grisaillen wirkenden Blätter zählen zum Besten was Marcola geschaffen hat, was auch durch den Vergleich unserer Zeichnung mit den Entwürfen für eine Freskendekoration im Palazzo di San Nazaro in Verona belegt wird (Siehe Museo di Castelvecchio Disegni, herausg. von Sergio Marinelli/Giorgio Marini, Mailand 1999, S. 124–125, Nr. 95).
Marco Marcola came from a widely ramified Veronese family of painters and was trained by his father, Giovanni Battista (1711– 1780). He produced a considerable number of religious paintings and fresco decorations in and around Verona and also worked as a stage-designer. At times there is a certain provincialism in Marcola’s painting, which occasionally suffers from technical shortcomings. His graphic work, on the other hand, reveals a freer and less inhibited spirit. The present drawing has been executed in a fluid, elegant style, the deftness and vivid chiaroscuro of which are reminiscent of some of the great Veronese predecessors of the Cinquecento like Paolo Farinati. These grisaillelike works are among the best Marcola ever did, as can be seen by comparing this drawing with the designs for a fresco decoration in the Palazzo di San Nazaro in Verona (see Sergio Marinelli/Giorgio Marini (eds.), Museo di Castelvecchio Disegni, Milan 1999, pp. 124–125, no. 95). From the collection H. W. Campe (Lugt 1391).
Aus der Sammlung H. W. Campe (Lugt 1391).
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8. christoph nathe (1753 Nieder-Bielau, Kreis Görlitz – 1806 Schadewalde)
Der Wasserfall bei Langhennersdorf an der Gottlaube. Aquarell, Deckfarben und Feder in Schwarzbraun über einer leichten Bleistiftvorzeichnung. 23,7 x 18,8 cm. Um 1795. Fröhlich Z 340.
Nathes Aquarell ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Nicht zuletzt überzeugt die Darstellung durch ihre kompositorische Dichte: Auf kleinem Format ist ein Summum an ungekünstelter, lebendiger Naturbeobachtung und atmosphärischer Frische erzielt worden. Nathe hat den Wasserfall, der an beiden Seiten von Laubbäumen eingefaßt wird, von einem niedrigen Blickwinkel aus beobachtet; das kühle, schäumende Wasser rauscht und plätschert die Kalksteinwand herunter und sucht sich seinen Weg über Felsenblöcke und Äste. Der präzise, fast andächtige Zeichenstil zeugt von der reflektierten Weise, mit der Nathe immer zu Werke ging. Trotz großer Spontaneität ist nichts dem Zufall überlassen, jede genrehafte Zutat fehlt. Wie so oft in seinem Werk ist die Natur menschenverlassen, wodurch eine besinnliche und melancholische Tonlage entsteht. Die subtil wiedergegebene herbstliche Farbigkeit steigert den romantischen Stimmungsgehalt. Während das sprudelnde Wasser ungestüme Lebenskraft suggeriert, zeugt der herbstliche Wald von der Vergänglichkeit des Lebens. Nathes Naturbeobachtung geht über die bloße Erfassung der sichtbaren Wirklichkeit hinaus. In seiner hintergründigen und empfindsamen Erfassung der Natur, die sich bereits im Frühwerk offenbart, war Nathe seiner Zeit um einiges voraus. Caspar David Friedrich und andere Künstler der deutschen Frühromantik sollten wenig später ähnliche Wege beschreiten.
Nathe hat lange zu den mehr oder wenig verkannten Begabungen der deutschen Zeichenkunst der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört. Erst in jüngster Zeit wächst das Interesse für diesen bedeutenden und sympathischen Künstler, der Zeit seines Lebens in selbstgewählter Abgeschiedenheit lebte und arbeitete und ein Wegbereiter der deutschen Romantik war. Einen wichtigen Beitrag zur besseren Wertschätzung Nathes liefert die sorgfältig recherchierte Monographie Anke Fröhlichs: „Einer der denkendsten Künstler unserer Zeit“. Der Landschaftszeichner Christoph Nathe (1753–1806) – Monographie und Werkverzeichnis der Handzeichnungen und Druckgraphik, Bautzen 2008 (im Druck). Unsere Ansicht des Wasserfalls bei Langhennersdorf nimmt eine absolute Sonderstellung im zeichnerischen Œuvre des Künstlers ein. Derartig detailliert durchgeführte und koloristisch anspruchsvolle Aquarelle kennt man von Nathe kaum und aus diesem Grunde besitzt die intime und duftig behandelte Naturstudie größten Seltenheitswert. Das Aquarell dürfte um 1795 entstanden sein; eine genauere zeitliche Eingrenzung erweist sich als schwierig, da Nathe seine Arbeiten nur selten datierte. Der malerische Wasserfall von Langhennersdorf befindet sich südöstlich von der sächsischen Stadt Pirna im Elbsandsteingebirge, einer Region, die Nathe wiederholt besuchte.
Aus der Sammlung Strähnz, Leipzig.
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8. christoph nathe (1753 Nieder-Bielau near Görlitz – 1806 Schadewalde)
The Waterfall at Langhennersdorf on the Gottlaube. Watercolour, gouache and pen and dark brown ink over a light preliminary drawing in pencil. 23.7 x 18.8 cm. Ca.1795. Fröhlich Z 340.
Nathe’s watercolour is remarkable in many ways, not least for its compositional density. On a small format a maximum of spontaneous, lively observation of nature is combined with atmospheric freshness. Nathe has viewed the waterfall, which is enclosed on both sides by leafy trees, from a low angle, showing the cool, foaming water rushing and splashing down the limestone wall as it seeks a way for itself over boulders and branches. The precise, almost reverential style of drawing testifies to the reflective manner in which Nathe always approached his work. For all the spontaneity nothing is left to chance and there is no hint of any genre elements. As so often in his work, nature is devoid of human presence, which induces a sense of pensive melancholy. The subtly rendered, autumnal colours enhance the romantic mood. While the bubbling water suggests impetuous vitality, the autumnal wood reminds us of the transience of life. Nathe’s observation goes beyond the mere registration of visible reality. His enigmatic and sensitive view of nature, which is already present in his early work, was ahead of its time. It would not be long before Caspar David Friedrich and other early German Romantic artists were to tread similar paths.
For a long time Nathe was one of the more or less neglected talents of German drawing in the second half of the 18th century. Only recently has there been a growth of interest in this distinguished and sympathetic artist, who spent all his life working in self-imposed seclusion and was a pioneer of the German Romantic movement. An important contribution to a better understanding of Nathe has been made by the carefully researched monograph by Anke Fröhlich, “Einer der denkendsten Künstler unserer Zeit”. Der Landschaftszeichner Christoph Nathe (1753– 1806) – Monographie und Werkverzeichnis der Handzeichnungen und Druckgraphik, Bautzen 2008 (to appear in print). The View of the Waterfall at Langhennersdorf occupies a very special place in the artist’s graphic œuvre. As Nathe is not exactly known for such delicately executed watercolours, this intimate and enchanting nature study is of great rarity. The sheet was probably executed about 1795, the exact year being hard to pinpoint, as Nathe rarely dated his works. The picturesque waterfall of Langhennersdorf is located to the south-east of the Saxon town of Pirna in the Elbe Sandstone Mountains, a region that Nathe often visited.
From the Strähnz Collection, Leipzig.
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9. jean françois pierre peyron
9. jean françois pierre peyron
(1744 Aix – 1814 Paris)
(1744 Aix – 1814 Paris)
Sokrates hält Alkibiades von der Wollust ab. 2 Federzeichnungen über Bleistift, grau laviert, auf einem Bogen; mit einer zweifachen Einfassungslinie. 21,7 x 15,1 cm. Signiert: Peyron.
Socrates Tears Alcibiades from the Embrace of Sensual Pleasure. Two drawings in pen and black ink over graphite, grey wash, on a single sheet within a double framingline. 21.7 x 15.1 cm. Signed: Peyron.
Pierre Peyron wurde von Louis Lagrenée an der Pariser Académie Royale ausgebildet. Er galt als sehr begabt und zählte zusammen mit Vien zu den ersten Künstlern, die sich im vorrevolutionären Frankreich vom tonangebenden Rokoko-Geschmack abwandten und eine neoklassizistische Stilsprache einführten. 1773 gewann Peyron den renommierten „Prix de Rome“, unter den Mitbewerbern war auch Jacques Louis David. In den Jahren 1775 bis 1782 lebte und arbeitete der Künstler als Pensionnaire der Académie de France in Rom. Nach seiner Rückkehr nach Paris wurde Peyrons künstlerische Tätigkeit völlig von dem eklatanten Ruhm des nur geringfügig jüngeren David überschattet. Peyron, der 1787 zum Direktor der Gobelin-Manufaktur ernannt worden war, trat zusehends in den Hintergrund und war nach 1789 nicht mehr künstlerisch tätig. Dennoch hat der Künstler Zeit seines Lebens wesentlichen Einfluß auf Jacques Louis David ausgeübt; Letzterer soll anläßlich des Todes Peyrons den folgenden geflügelten Satz gesprochen haben: „Il m’a ouvert les yeux!“
Pierre Peyron was trained by Louis Lagrenée at the Académie Royale in Paris, where he was considered very gifted and, together with Vien, was one of the first artists in pre-revolutionary France to abandon the prevailing taste for Rococo and introduce a Neoclassicist vocabulary. In 1773 Peyron won the prestigious “Prix de Rome”, one of the contenders for which was Jacques Louis David. In the years 1775 to 1782 the artist lived and worked as a pensionnaire of the Académie de France in Rome. After his return to Paris Peyron’s artistic activity was completely overshadowed by the spectacular fame of the only slightly younger David. Peyron, who had been appointed director of the Gobelin manufactory in 1787, receded increasingly into the background and ceased to work as an artist after 1789. Yet all his life he exercised an important influence on Jacques Louis David who, upon hearing of the death of Peyron, is reported to have uttered the oft-quoted words: “Il m’a ouvert les yeux!” The two present works are preliminary drawings for the painting Socrate détachant Alcibiade des charmes de la volupté done in 1782 (see Pierre Rosenberg, Udolpho van de Sandt, Pierre Peyron 1744–1814, Neuilly-sur-Seine 1983, p.102 ff).
Die beiden vorliegenden Zeichnungen entstanden als Vorzeichnungen zu dem 1782 vollendeten Gemälde Socrate détachant Alcibiade des charmes de la volupté (siehe Pierre Rosenberg, Udolpho van de Sandt, Pierre Peyron 1744–1814, Neuilly-sur-Seine 1983, S.102 ff).
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10. georg friedrich schmidt (1712 Schönerlinde – 1775 Berlin)
Brustbildnis eines jungen Mannes mit Federhut und langen, wallenden Haaren. Schwarze Kreide und Rötel, grau laviert. 25,2 x 19,8 cm. Bezeichnet in schwarzer Feder: Schmidt del.
Zeichnungen wie das vorliegende Blatt waren zweifellos als autonome Kunstwerke gedacht. Schmidt fertigte mehrere dieser sensibel beobachteten Porträts an, deren Ziel es offenbar war, den Charakter oder die Gemütsverfassung der Dargestellten so lebensnah wie möglich zu erfassen (vgl. H. Tietze, E. TietzeConrat, Otto Benesch u.a., Beschreibender Katalog der Handzeichnungen in der Graphischen Sammlung der Albertina. Die Zeichnungen der deutschen Schulen bis zum Beginn des Klassizismus. Wien 1934, Bd. IV, S. 145, Nr. 1774; Bd. V, Tafel 271, Nr. 1774 (siehe Abb. S. 37); Deutsche Zeichnungen des 18. Jahrhunderts zwischen Tradition und Aufklärung, bearb. von T. Gaethgens, V. Manuth, B. Paul, Berlin 1987, S. 83, Nr. 37). Schmidts Interesse für Charakterdarstellungen war gewiß auch von den kunsttheoretischen Überlegungen seiner Epoche angeregt. Auch in der feinsinnig kombinierten Kreidetechnik zeigt der Künstler sich von zeitgenössischen französischen Vorbildern beeinflußt. Schmidt hatte von 1737 bis 1743 in Paris gelebt und gearbeitet und dort mit Künstlern wie Nicolas de Larmessin und Hyacinthe Rigaud verkehrt. Eine Freundschaft verband ihn mit Johann Georg Wille, dessen Stil er sich in manchen seiner Porträtzeichnungen deutlich annähert. Auf königlichem Befehl wurde Schmidt sogar im Mai 1742 trotz seiner protestantischen Herkunft zur Académie Royale zugelassen. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in St. Petersburg sollte Georg Friedrich Schmidt den Rest seines Lebens in Berlin tätig sein.
Der junge Mann mit den langen wirren Haaren und dem neckischen kleinen Federhut macht einen fast skurrilen Eindruck, eine Beobachtung, die auch durch die hochgezogenen Schultern verstärkt wird. Sein Mund ist halb geöffnet, die Augen blicken überrascht, fast erschrocken; der nach links gewandte Kopf wirkt überdimensioniert groß im Vergleich zu dem schmächtigen, leicht gedrehten Oberkörper. Die rasch und treffsicher skizzierte Zeichnung gibt die Persönlichkeit des dargestellten Mannes überzeugend wieder und besticht durch ihre Unmittelbarkeit und Wirklichkeitsnähe. Schmidt erregt die Neugierde des Betrachters, man möchte mehr über diesen rätselhaften und unbekannten Menschen wissen. In der sehr subjektiven und intimen Erfassung des Dargestellten zeigt Schmidt sich von großen Vorgängern wie Castiglione und vor allem Rembrandt angeregt, zu dessen Kunst er sich besonders hingezogen fühlte. Hinter der scheinbaren Spontaneität des Porträts verbirgt sich großes zeichnerisches Können. Die Details von Kleidung und Haaren sind in schwarzer Kreide sparsam angedeutet und erhalten durch die weiche Lavierung größere Stofflichkeit. Kraftvolle, großflächig geführte Schraffuren beleben den Hintergrund. In effektvollem Kontrast dazu hat Schmidt das Gesicht, das sich plastisch von dem dunklen Fond abhebt, detailliert ausgearbeitet; die rote Kreide verleiht dem Inkarnat eine fast pulsierende Wärme. Helle Lichtflecke auf der Nasenspitze und um den Mund des Mannes, die durch eine geschickte Aussparung des weißen Papiertons erzeugt werden, intensivieren die Lebendigkeit dieser bemerkenswerten Porträtdarstellung.
Auf einer Montierung des 18. Jahrhunderts. Bezeichnet in Bleistift: „Schmidt aus Börners Nachlaß“ (Johann Andreas Boerner, 1785–1862, Nürnberg; Lugt 269–270). Die Zeichnung ist ein bedeutendes und rares Zeugnis der Berliner Zeichenkunst der friderizianischen Epoche.
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10. georg friedrich schmidt (1712 Schönerlinde – 1775 Berlin)
Half-length Portrait of a Young Man with Plumed Hat and Long, Flowing Hair. Black and red chalk, grey wash. 25.2 x 19.8 cm. Inscribed in pen and black ink: Schmidt del.
French models. From 1737 to 1743 Schmidt had lived and worked in Paris, where he associated with such artists as Nicolas de Larmessin and Hyacinthe Rigaud. He was a friend of Johann Georg Wille, whose style he emulated in quite a few of his portrait drawings. Despite his Protestant origins Schmidt was even admitted to the Académie Royale by royal command in May 1742. After spending several years in St. Petersburg, Georg Friedrich Schmidt lived the rest of his life in Berlin.
The young man with the long tangled hair and the jaunty little plumed hat makes an almost droll impression that is reinforced by the hunched shoulders. His mouth is half open, his eyes have a surprised, almost startled look, while his head, which is turned to the left, seems disproportionately large in comparison to the slender, slightly twisted torso. This swiftly and accurately sketched drawing convincingly renders the personality of the man portrayed and owes its appeal to its immediacy and lifelike character. Schmidt arouses the curiosity of the beholder, stirring a wish to know more about this enigmatic person. In his very subjective and intimate rendering of the subject Schmidt reveals the depth of his inspiration by such great predecessors as Castiglione and, above all, Rembrandt, to whose art he felt particularly drawn. The apparent spontaneity of the portrait conceals an accomplished draughtsman. The details of the clothing and hair are sparingly indicated in black chalk while the soft wash enhances the texture of the fabrics. Powerful, sweeping cross-hatching enlivens the background. In an effective contrast Schmidt has minutely detailed the face, which stands out starkly against the dark background, the red chalk giving its complexion an almost vibrant warmth. Bright patches of light on the tip of the man’s nose and around his mouth, which are achieved by a skilful use of the white paper tone, intensify the liveliness of this evocative portrait.
On an 18th century mount. Inscribed in pencil: “Schmidt aus Börners Nachlaß” (Johann Andreas Boerner, 1785–1862, Nuremberg; Lugt 269–270). The drawing is a significant and rare testimonial to German drawing in the age of Frederick the Great.
Drawings like this were doubtless intended as works of art in their own right. Schmidt made several of these sensitively observed portraits with the evident aim of capturing the character or mood of the subjects in as lifelike a manner as possible (cf. H. Tietze, E. Tietze-Conrat, Otto Benesch et al., Beschreibender Katalog der Handzeichnungen in der Graphischen Sammlung der Albertina. Die Zeichnungen der deutschen Schulen bis zum Beginn des Klassizismus. Vienna 1934, vol. IV, p. 145, no. 1774; vol. V, plate 271, no. 1774; T. Gaethgens, V. Manuth, B. Paul (eds.), Deutsche Zeichnungen des 18. Jahrhunderts zwischen Tradition und Aufklärung, Berlin 1987, p. 83, no. 37). Schmidt’s interest in character portrayals was doubtless also inspired by the art theories of his day. The artist’s refined combination of different coloured chalks betrays the influence of contemporary
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Georg Friedrich Schmidt. Portrait of a Young Man. Red chalk. 22.6 x 19.9 cm. Vienna, Graphische Sammlung Albertina.
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luigi ademollo (1764 Mailand – 1849 Florenz)
„Li ostaggi cartaginesi“ (Die Einschiffung der Karthager Geiseln unter Anführung von Marcus Attilius Regulus). Federzeichnung in Graubraun über Bleistift und Tuschpinsel in mehreren Brauntönen, weiß gehöht. 94 x 123 cm. Signiert und datiert: Luigi Ademollo Milanese inven. 1790.
Ademollo hat das heroische Thema spannungsvoll und mit großer Aufmerksamkeit für die Wiedergabe menschlicher Regungen inszeniert. Wir befinden uns im Hafen von Ostia, wo sich der Konsul und seine römischen Legionäre von ihren Angehörigen verabschieden, um die Reise in die Gefangenschaft anzutreten. Der Hauptdarsteller Attilius Regulus steht etwas rechts von der Mitte, während er letzte Worte zu einem Senator spricht; eine junge Frau hat sich wehklagend zu seinen Füßen geworfen. Es ist ein atemberaubendes, lautes und pulsierendes Treiben, das Ademollo uns schildert. Frauen umarmen die Geiseln zum Abschied oder brechen vor Schmerz zusammen; die Männer verhalten sich stoisch und schauen schweigsam zu. Auf dem hoch aufragenden Podest des Tempels im Hintergrund beobachten unzählige Zuschauer das turbulente Geschehen. In der großen, anonymen Menge hat Ademollo einzelne Physiognomien hervorgehoben und individuell charakterisiert; die Gesichter zeigen eine breite Skala von Gemütsregungen, die von tiefer Verzweiflung bis zur stummen Resignation reicht. Eine Schlüsselrolle kommt der einfühlsam beobachteten Szene im Vordergrund rechts zu: eine junge Römerin ist vor Schmerz überwältigt unter einem von Trophäen geschmückten Siegesdenkmal zusammengesunken; ein junger Mann beugt sich fürsorglich zu ihr herunter, während ein alter, bärtiger Mann mit erhobenem Finger einem Knaben die Moral der Geschichte erklärt.
Dieses Bravourstück Luigi Ademollos trägt das signifikante Datum 1790. Im Jahr zuvor war in Paris die Bastille gestürmt worden und das Ancien Regime eilte seiner blutigen Apotheose entgegen. Entsprechend himmelstürmerisch und von revolutionärem Geiste geprägt ist denn auch die künstlerische Gesinnung, die aus diesem Werk des jungen Ademollo spricht. Das wahrhaft monumentale Format der Zeichnung und die geistreich arrangierte, von unzähligen Staffagefiguren belebte Komposition liefern einen schlagenden Beweis für die grinta, das kühne Selbstbewußtsein, des aufstrebenden Künstlers. Ademollo hatte im Jahr zuvor den Wettbewerb für die Ausschmückung des Teatro alla Pergola in Florenz gewonnen. Es ist, als wolle er mit dieser anspruchsvollen Masseninszenierung erneut sein Können unter Beweis stellen. Jedenfalls könnte das imposante Format der Zeichnung ein Indiz dafür sein, daß sie als Entwurf oder Präsentationszeichnung für eine Monumentalmalerei gedacht war. In Anbetracht des Entstehungsdatums der Zeichnung ist es nicht verwunderlich, daß Ademollo sich gerade für dieses Thema aus der republikanischen Ära Roms interessierte. Die dramatische Geschichte des römischen Konsuls Marcus Attilius Regulus galt als ein Musterbeispiel stoischer Tugend und entsprach den revolutionären Idealen des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts. Regulus hatte den Karthagern im 1. Punischen Krieg zuerst eine vernichtende Niederlage zugefügt, wurde dann aber im Jahre 255 v. Chr. selbst von diesen besiegt und gefangen genommen. Er wurde als Gesandter zu Friedensgesprächen nach Rom geschickt, unter der Bedingung zurückzukehren, falls die Verhandlungen scheitern sollten. In Rom angekommen forderte er den Senat uneigennützig auf, den Krieg fortzusetzen, kehrte nach Karthago zurück und starb dort den Foltertod. Die Geschichte des Regulus wurde von mehreren römischen Autoren wie Horaz, Cicero und Livius besungen; der Konsul galt als die ideale Verkörperung klassischer Römertugend, da er die Staatsraison über sein persönliches Wohlergehen gestellt hatte.
In der wagemütigen kompositorischen Struktur offenbart sich Ademollos Schulung als Bühnenmaler. Die schräg in die Tiefe führende Tempelarchitektur vermittelt ein atemberaubendes Raumerlebnis. Große Aufmerksamkeit ist auch den archäologischen Details gewidmet, die der Darstellung historische Authentizität verleihen sollen. Die breite und großflächig angewandte Lavierung erzeugt eine ungemein dramatische Helldunkelwirkung. Während sich die Silhouette des kolossalen Tempels düster im Hintergrund erhebt, wird die Menschenmenge vorne von einem unruhig flackernden Licht beleuchtet, das die Dramatik der Handlung intensiviert. Die Zeichnung nimmt auf Grund ihrer künstlerischen Konzentration und ihres Formats eine Sonderstellung im Œuvre ein. Ademollo schuf außerdem eine Aquatintaradierung zum gleichen Thema (siehe Meyer, Allgem. Künstler-Lexikon, Bd. I, 81, 2).
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Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside
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luigi ademollo (1764 Milan – 1849 Florence)
“Gli ostaggi cartaginesi” (The Embarkation of the Carthaginian Hostages led by Marcus Attilius Regulus). Pen and greyish-brown ink over pencil, point of the brush and several shades of brown wash, heightened with white. 94 x 123 cm. Signed and dated: Luigi Ademollo Milanese inven. 1790.
Ademollo has taken full advantage of the dramatic potential of his heroic theme, paying great attention to the rendering of human emotions. The place is the port of Ostia, where the consul and his Roman legionaries are taking leave of their families before setting off on their journey back into captivity. The main protagonist, Attilius Regulus, is standing somewhat right of centre, addressing some final words to a senator, while a young woman has thrown herself, wailing, at his feet. It is a bustling, noisy and jostling scene that Ademollo shows us. Women are giving the hostages a farewell embrace or lying prostrate with grief, while the men conduct themselves more and look on in silence. Countless onlookers observe the turbulent proceedings from the lofty vantage point of the temple in the background. In the vast, anonymous crowd Ademollo has picked out particular faces and given them individual characteristics. These faces show a wide variety of emotions, ranging from despair to silent resignation. Our sympathy is particularly aroused by a scene in the right foreground, where a young Roman girl, overcome by grief, has collapsed at the foot of a victory monument adorned with trophies. A young man bends over her solicitously, while a bearded old man with raised finger explains the moral of the story to a boy.
This tour de force by Luigi Ademollo significantly bears the date 1790. The previous year the Bastille in Paris had been stormed, sending the Ancien Regime hurtling towards its bloody apotheosis. The artistic attitude emanated by this work of the young Ademollo is appropriately heaven-storming and redolent of revolutionary spirit. The truly monumental format of the drawing and the ingeniously arranged composition, enlivened by numerous staffage figures, provide striking proof of the grinta, the bold self-confidence of the up-and-coming artist. The previous year Ademollo had won the competition for the decoration of the Teatro alla Pergola in Florence. It is as though he wanted to use this ambitious crowd scene to give another demonstration of his skill. In any case the imposing format of the drawing could be an indication that it was intended as a design or presentation drawing for a monumental painting. Given the date of the drawing, it is not surprising that Ademollo was interested in this theme from the days of the Roman Republic. The dramatic story of the Roman consul, Marcus Attilius Regulus, was considered a classic example of stoic virtue and was in keeping with the revolutionary ideals of the last decade of the 18th century. In the First Punic War Regulus had initially dealt the Carthaginians a crushing defeat before himself being beaten by them in 255 B.C.and taken prisoner. He was sent as an envoy to Rome to engage in peace talks, provided he returned if the negotiations fell through. Once in Rome he selflessly called upon the Senate to continue the war and returned to Carthage, where he was tortured to death. The story of Regulus was celebrated by several Roman authors, including Horace, Cicero and Livy, the consul being considered the ideal embodiment of classical Roman virtue, as he had placed the interests of his country over his personal welfare.
The daring composition betrays Ademollo’s training as a stagedesigner. The obliquely receding temple architecture conveys an awesome sense of space. Great attention has also been paid to the archaeological details, which are intended to lend historical authenticity to the scene. The broad and sweeping use of wash produces dramatic chiaroscuro effects. While the silhouette of the colossal temple rises sombrely in the background, the crowd in the foreground is illuminated by a restlessly flickering light that intensifies the drama of the proceedings. The artistic intensity of the drawing and its unusually large format give the work a special place within the artist’s œuvre. Ademollo also executed an aquatint etching on the same theme, Meyer, Allgem. Künstler-Lexikon, vol. I, 81, 2.
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karl blechen (1798 Cottbus – 1840 Berlin)
Eine gotische Klosterhalle mit zwei Mönchen vor einem Kruzifix. Aquarell und Deckfarben. Verso: Ein Gänsekiel mit einem farbigen Billet. Aquarell. 23,9 x 17 cm. Um 1824–27. Paul Ortwin Rave, Karl Blechen, Leben, Würdigungen, Werk, Berlin 1940, No. 418.
breitet wurden. So ist beispielsweise Blechens Bühnenentwurf eines Gotischen Gewölbes mit Grabmonument (Rave 427) die genaue Nachbildung einer um 1820 entstandenen Lithographie von de Pian (Schwarz 5). Unser Blatt ist ein reizvolles und vollkommen farbfrisch erhaltenes Zeugnis von Blechens Tätigkeit als Bühnenmaler. Entsprechend ihrer Funktion als Theaterdekoration ist die Darstellung von einer wirkungsvollen Untenansicht aus komponiert, welche das räumliche Ausmaß und die vertikale Ausrichtung der riesigen Klosterhalle steigert. Warmes, klares Sonnenlicht fällt von links in den Raum hinein und erhellt ein Kruzifix an der Wand des Kirchenschiffes und die winzigen Gestalten von zwei Mönchen, die verloren wirken unter dem mächtigen Portikus. Hinter der Klostermauer gewahrt der Betrachter das duftige Grün von Laubbäumen und einen unbewölkten Sommerhimmel. Der Grundtenor der Darstellung ist bemerkenswert heiter und unbeschwert und noch nicht von der düsteren Vergänglichkeitsthematik beherrscht, welche die späteren Werke des Künstlers kennzeichnet.
Das interessante und stimmungsvolle Aquarell stammt aus der Frühzeit des Künstlers. Nach seiner Ausbildung an der Berliner Akademie in den Jahren 1822–24 und einem Aufenthalt in Dresden im Sommer 1823, wo der junge Künstler Johann Christian Clausen Dahl und vermutlich auch Caspar David Friedrich begegnete, war Blechen 1824 auf Fürsprache von Karl Friedrich Schinkel als Bühnenmaler an das Königstädtische Theater in Berlin berufen worden. Bis zum Jahre 1827, als Blechen sich für eine Laufbahn als freischaffender Maler entschloß, sollte er Bühnenbilder und Szenendekorationen für dieses Theater gestalten. Als Dekorationsmaler war Blechen vielfachen stilistischen Anregungen ausgesetzt. Ein prägender Einfluß ist gewiß von Schinkels romantischer Dekorationsmalerei ausgegangen. Weitere stilistische und ikonographische Impulse vermittelten zeitgenössische Theatermaler wie die Mitglieder der QuaglioFamilie in München oder der in Wien tätige Antonio de Pian, deren Entwürfe durch lithographische Nachbildungen ver-
Provenienz: Sammlung C. Brose, Berlin; Auktionskatalog Sammlung C. Brose Berlin, Kunstauktion XL, Hollstein & Puppel, Berlin, 8.–10. November 1928, Nr. 26.
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karl blechen (1798 Cottbus – 1840 Berlin)
A Gothic Portico with two Monks before a Crucifix. Watercolour and gouache. Verso: A Goose-quill with a Coloured Billet. Watercolour. 23.9 x 17 cm. Ca. 1824– 27. Paul Ortwin Rave, Karl Blechen, Leben, Würdigungen, Werk, Berlin 1940, No. 418.
family in Munich and the Vienna-based Antonio de Pian, whose designs were also disseminated by lithographs. Thus Blechen’s design for a theatre set of a Gothic Vault with Tomb (Rave 427), for example, is an exact copy of a lithograph by de Pian dating from about 1820 (Schwarz 5).
This interesting and atmospheric watercolour dates from the artist’s early period. After training at the Berlin Academy in the years 1822–24 and a stay in Dresden in the summer of 1823, where the young artist met Johan Christian Clausen Dahl and probably Caspar David Friedrich as well, Blechen was appointed – on the recommendation of Karl Friedrich Schinkel – as stage-designer at the Königstädtisches Theater in Berlin in 1824. Up until 1827, when Blechen embarked on a career as a freelance painter, he was to design sets and scenery for this theatre.
The present sheet is a delightful and perfectly preserved testimony to Blechen’s activity as a stage-designer. In keeping with its function as theatre decor, the scene is shown from a low angle, which enhances the vastness and verticality of the rendered architecture. Warm, clear sunlight falls into the Gothic hall from the left, illuminating a crucifix on the wall of the nave and the tiny figures of two monks, who are dwarfed by the huge portico. Behind the wall of the monastery the viewer can make out the fluffy green foliage of trees and a cloudless summer sky. The underlying tenor of the scene is remarkably serene and carefree and not yet dominated by the sombre theme of transience, which marks the artist’s later works.
As a stage-designer and decorative painter Blechen was exposed to a great diversity of stylistic impulses. The major impact was undoubtedly exerted by Schinkel’s Romantic stage designs. Other stylistic and iconographical influences came from contemporary set-designers, such as the members of the Quaglio
Provenance: C. Brose Collection, Berlin; his sale, Kunstauktion XL, Hollstein & Puppel, Berlin, 8–10 November 1928, no. 26.
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13. antonio canova
13. antonio canova
(1757 Possagno – 1822 Venice)
(1757 Possagno – 1822 Venedig)
Stehender männlicher Akt im Profil, nach links gewandt. Federzeichnung in Braun über Bleistift. 49 x 33,5 cm. Um 1800.
Standing Male Nude in Left Profile. Pen and brown ink over graphite. 49 x 33.5 cm. Ca. 1800.
Das Blatt ist stilistisch eng verwandt mit einer Gruppe von Aktzeichnungen, die Canova zwischen 1793 und 1807 geschaffen hat. Zu einem Album gebunden – dem sogenannten Album D 1 – werden sie heute im Museo Civico in Bassano aufbewahrt (siehe Katalog Il Museo Civico di Bassano / I Disegni di Antonio Canova, bearb. von Elena Bassi, Venedig 1959, S. 71 ff.). Unsere Zeichnung gehört einer kleinen, bisher unbekannten Gruppe von Studien an, die aus einem verlorengegangenen Skizzenbuch stammen dürften. Alle Blätter tragen in der linken oberen Ecke eine Numerierung in Feder. Die männlichen Figuren sind in dem gleichen schematischen und linearen Zeichenstil behandelt; die Details der Muskulatur und die plastischen Volumina der Körper sind summarisch durch Bleistiftstriche oder einfache Schraffurmuster angedeutet. Es handelt sich um Bildhauerzeichnungen im wahrsten Sinne des Wortes. Viele der Studien entstanden nicht nach dem lebendigen Modell, sondern wurden von Canova aus dem Gedächtnis gezeichnet; oft geben sie antike Skulpturen wieder, die der Künstler in Rom gesehen hatte. Die Autorschaft Canovas wurde durch Professor David Bindman, University College, London bestätigt. Ein Gutachten vom 6. September 2007 liegt bei.
Stylistically this drawing is closely akin to a set of nudes drawn by Canova between 1793 and 1807. Bound in an album – known as Album D 1 – they are now kept in the Museo Civico in Bassano (see Elena Bassi (ed.), Catalogue Il Museo Civico di Bassano / I Disegni di Antonio Canova, Venice 1959, p. 71 ff.). Our drawing belongs to a small, hitherto unknown set of studies probably taken from a lost sketchbook. All the sheets are numbered in pen and ink in the top left-hand corner. The male figures are treated in the same schematic and linear graphic style, while the details of the musculature and the surfaces of the body are summarily indicated by pencil strokes or simple hatching patterns. These are sculptor’s drawings in the truest sense of the word. Many of the studies were not done by Canova after nature, but working from his memory. They often reproduce ancient sculptures the artist had seen in Rome. Canova’s authorship has been confirmed by Professor David Bindman of the University College, London (written statement of September 6, 2007).
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cantius dillis (1779 Gmain – 1854 München)
Ein herbstlicher Wald mit Rotwild. Schwarze Kreide, Aquarell und Deckfarben, weiß gehöht, auf bräunlichem Velin; Einfassungslinie in schwarzer Kreide. 26,8 x 33,7 cm. Signiert: C. Dillis f., verso signiert, bezeichnet und datiert: Waitforst in Helfendorf 17.t. Septbr. 1838 / Cantius Dillis f. Das prächtige und vorzüglich erhaltene Blatt illustriert die zeichnerische und koloristische Begabung des Cantius Dillis auf anschauliche Weise. Cantius war um eine Generation jünger als sein Bruder Johann Georg (1759–1841) und wurde von ihm zum Zeichner und Landschaftsmaler ausgebildet. Im Alter von nur zehn Jahren wurde der frühbegabte Cantius von seinem Bruder nach München geholt; Cantius und Johann Georg muss eine innige Zuneigung verbunden haben, denn sie bildeten eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die bis zum Tode des älteren Bruders währen sollte. Die stimmungsvolle und sensibel erfaßte Naturimpression stammt aus der reifen Schaffensphase des Cantius und war sicherlich als selbständiges Kunstwerk gedacht. In der souveränen Zeichentechnik offenbart sich das prägende Beispiel des älteren und zeichnerisch hochtalentierten Bruders. Bäume und Sträucher sind mit kräftigen, treffsicheren Strichen definiert. Die fein abgestufte, auf wenige Braun- und Grüntöne reduzierte Farbgebung, die an mancher Stelle wirkungsvoll von hellen weißen und blauen Farbtupfern aufgelockert wird, schafft ein hohes Maß an atmosphärischer Dichte. Mildes Licht streicht über die Vegetation des herbstlichen Waldes und läßt im Hintergrund das frische Grün einer Waldwiese aufleuchten. Ein Rehbock verharrt reglos im Schutz der Bäume, während ein Reh mit ihrem Kitz auf der Wiese äst. Die gekonnt charakterisierten Tiere bilden eine wirkungsvolle Staffage, die den romantischen Stimmungsgehalt der Darstellung erhöht. Mit großer Ökonomie der künstlerischen Ausdrucksmittel ist Cantius ein intimer und wunderbar lebendiger Naturausschnitt gelungen.
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cantius dillis (1779 Gmain – 1854 Munich)
An Autumnal Forest with Red Deer. Black chalk, watercolour and gouache, heightened with white, on brownish wove paper; framing line in black chalk. 26.8 x 33.7 cm. Signed: C. Dillis f., verso signed, inscribed and dated: Waitforst in Helfendorf 17.t. Septbr. 1838 / Cantius Dillis f. This very fine and excellently preserved landscape drawing is a convincing proof of Cantius Dillis’ talents as a draughtsman. Cantius was a generation younger than his brother Johann Georg (1759–1841), who trained him as a draughtsman and landscape painter. The precocious Cantius was only ten when his brother brought him to Munich. Cantius and Johann Georg must have had a close affection for each other, as they formed a working and domestic partnership which was to last until the older man’s death. The Autumnal Forest with Red Deer dates from Cantius’ mature phase and was doubtless intended as a work of art in its own right. The confident drawing technique betrays the defining example of the elder and highly gifted brother. Trees and shrubs are indicated with strong, sure lines. The finely gradated colouring, reduced to a few brown and green tones that are effectively relieved in places by bright daubs of white and blue, makes for great atmospheric density. A gentle light streams over the vegetation of the autumnal wood and illuminates the fresh green of a glade in the background. A roebuck stands motionless in the protection of the trees, while a doe and her kid graze in the meadow. The skilfully rendered animals form an effective staffage, which enhances the romantic mood of the landscape. With great economy of means Cantius has succeeded in producing an intimate and wonderfully vivid scene from nature.
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15. tommaso minardi
15. tommaso minardi
(1787 Faenza – 1871 Roma)
(1787 Faenza – 1871 Rome)
Publius Horatius Cocles führt die Römer im Kampf mit den Etruskern. Kreidezeichnung. 51 x 69 cm. Signiert in brauner Feder: T. Minardi disegnò. Um 1810–15.
Publius Horatius Cocles Leads the Romans in Battle against the Etruscans. Black chalk. 51 x 69 cm. Signed in pen and brown ink: T. Minardi disegnò. Ca. 1810–15.
Der aus der Emilia stammende Maler Tommaso Minardi war nach seiner Lehre bei Giuseppe Zauli 1803 nach Rom übergesiedelt, um sich dort künstlerisch weiterzubilden. Er verkehrte hier im Kreis um Felice Giani und Vincenzo Camuccini und wurde in dieser Schaffensphase stilistisch entscheidend vom römischen Neoklassizismus beeinflußt, wie die vorliegende großformatige Zeichnung eindrucksvoll belegt. Später sollte er unter dem Einfluß der Nazarener zu einem Verfechter des sogenannten Purismo werden, einer Kunstrichtung, die sich auf die italienische Malerei des Trecento rückbesann und gegen die klassizistische Tradition, angefangen bei Raphael, aufbegehrte. In Minardis wechselvoller und langer Laufbahn spiegeln sich also die Antagonismen, welche die europäische Malerei zwischen 1800–1850 beherrscht haben.
In 1803, after completing his apprenticeship under Giuseppe Zauli, the painter Tommaso Minardi, a native of Emilia, continued his training as an artist in Rome, where he moved in the circle around Felice Giani and Vincenzo Camuccini. At this stage of his creative career his style was strongly influenced by Roman Neoclassicism, as the present large-format drawing impressively confirms. Later, under the influence of the Nazarenes, Minardi was to become a champion of what was known as Purismo, an art trend inspired by the Italian painting of the Trecento and propelled by opposition to the Classical tradition which reached back as far as Raphael. Minardi’s long and varied career thus mirrors the antagonisms that dominated European painting between 1800 and 1850. This drawing from the artist’s early period reproduces a lost painting by Vincenzo Camuccini that was commissioned around 1810 by Manuel Godoy, a confidant of King Charles IV of Spain. It shows a famous episode from the early history of Rome, whose protagonist is the legendary hero Horatius Cocles, a scion of the Horatii family. When the Etruscan army under Lars Porsena advanced on Rome, he succeeded in holding the numerically superior foe in check while the wooden bridge that led across the Tiber to Rome was demolished behind him. The drawing is executed in a detailed and refined technique largely inspired by the style of Camuccini. Subtle chiaroscuro contrasts are obtained by varying the pressure on the chalk; in some places the chalk has been moistened with the brush to achieve soft, tonal transitions, which lend the work additional appeal. The precision of the cross-hatching patterns and the smooth, highly finished style of drawing suggest that Minardi’s drawing served as a model for the engraving by Domenico Marchetti (1780 – after 1844) (see exhibition catalogue Vincenzo Camuccini (1771– 1844). Bozzetti e disegni dallo studio dell’artista, Rome, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, 1978. pp. 44–45).
Unsere Zeichnung aus der Frühzeit des Künstlers gibt ein verlorengegangenes Gemälde des Vincenzo Camuccini wieder, das um 1810 von Manuel Godoy, einem Vertrauten vom König Karl IV. von Spanien, in Auftrag gegeben wurde. Dargestellt ist eine berühmte Episode aus der Frühgeschichte Roms, deren Protagonist der legendäre römische Held Horatius Cocles ist, der dem Geschlecht der Horatier entstammte. Während das etruskische Heer unter Porsenna nach Rom vordrang, gelang es ihm, den zahlenmäßig überlegenen Gegner in Schach zu halten, während die Holzbrücke, die über den Tiber nach Rom führte, hinter ihm abgebrochen wurde. Das Blatt ist in einer außerordentlich detaillierten und verfeinerten Zeichentechnik ausgeführt, die wesentlich vom Stil Camuccinis angeregt ist. Durch den unterschiedlichen Druck auf den Kreidestift entstehen subtile Helldunkel-Kontraste; stellenweise ist die Kreide mit dem Pinsel angefeuchtet, wodurch weiche, tonale Übergänge erzielt werden, die dem Blatt zusätzlichen Reiz verleihen. Die Präzision der Schraffurmuster und die zeichnerische Perfektion lassen vermuten, daß Minardis Blatt als Vorlage für den Kupferstich des Domenico Marchetti (1780 – nach 1844) gedient hat (siehe Ausstellungskatalog Vincenzo Camuccini (1771–1844). Bozzetti e disegni dallo studio dell’artista, Rom, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, 1978. S. 44–45).
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16. viktor paul mohn
16. viktor paul mohn
(1842 Meißen – 1911 Berlin)
(1842 Meissen – 1911 Berlin)
Römische Campagnalandschaft mit Blick auf Olevano und Civitella. Öl auf Papier, auf Malpappe aufgezogen. 18,8 x 25 cm.
Roman Campagna Landscape with View of Olevano and Civitella. Oil on paper, mounted on cardboard. 18.8 x 25 cm.
Diese sensibel beobachtete und atmosphärisch dichte Landschaftsstudie steht in einer langen Tradition von deutschen Künstlern, die seit etwa 1800 nach Olevano gewandert waren, als die Ortschaft von Joseph Anton Koch entdeckt wurde. Olevano ist fast während des gesamten 19. Jahrhunderts eine Pilgerstätte unzähliger deutscher Landschafts- und Genremaler gewesen. Künstler wie Koch, Jakob Wilhelm Mechau, Johann Georg von Dillis, Philipp Fohr, Franz Horny, der 1824 in der dortigen Kirche S. Rocco begraben wurde, Ludwig Richter, Julius Schnorr von Carolsfeld und Karl Blechen hielten die rauhe und malerische Schönheit der dortigen Campagnalandschaft in ihren Bildern, Aquarellen und Zeichnungen fest (siehe Domenico Riccardi, Olevano e i suoi Pittori, Rom 2004).
This sensitively observed and densely atmospheric landscape study is one in a long tradition of works by German artists, who had been making their way to Olevano since about 1800, when Joseph Anton Koch visited the village for the first time. For almost the whole of the 19th century Olevano was a place of pilgrimage for countless German landscape and genre painters. Artists like Koch, Jakob Wilhelm Mechau, Johann Georg von Dillis, Philipp Fohr, Franz Horny (who was buried in the local church of S. Rocco in 1824), Ludwig Richter, Julius Schnorr von Carolsfeld and Karl Blechen went there to capture the austere and striking beauty of the Campagna landscape in their pictures, watercolours and drawings (see Domenico Riccardi, Olevano e i suoi Pittori, Rome 2004).
Der Maler und Illustrator Viktor Paul Mohn war Schüler der Dresdner Akademie und bildete sich 1861–66 im Atelier von Ludwig Richter weiter, von dessen Stil er vor allem in seinem zeichnerischen Werk entscheidend geprägt wurde. 1868–69 hielt der Künstler sich in Rom auf, in dieser Periode dürfte die vorliegende Landschaftsstudie entstanden sein. Mohn ist ein typischer Vertreter der Spätromantik und sein Werk ist von einer an den späten Richter erinnernden Vorliebe für das erzählerische, genrehafte Detail gekennzeichnet. Wie bei vielen anderen Künstlern seiner Zeit offenbart sich in dieser kleinen, in der freien Natur entstandenen Studie jedoch eine spontanere und fast intimistische Seite seines Talents. Dem gewählten Landschaftsausschnitt begegnen wir in sehr ähnlicher Form auf einem etwa 1818 entstandenen Aquarell von Franz Horny wieder (Siehe Riccardi, op.cit. S. 95, Abb. 88). Mohns Naturbeobachtung ist erfrischend phrasenlos und unmittelbar. Der Künstler hat auf jedes anekdotische Detail verzichtet. Was bleibt, ist eine Landschaftsimpression von zeitloser Schönheit. Mit breiten, sicheren Pinselstrichen sind die Sträucher und Bäume im Vordergrund angedeutet. Die heisse Mittagssonne wirft dunkle Schatten und läßt die trockene Erde in erbarmungsloser Hitze erglühen. Links am Horizont zeichnet sich die majestätische Silhouette des Bergdorfs Olevano ab.
The painter and illustrator Viktor Paul Mohn studied at the Dresden Academy and from 1861 to 1866 continued his training in the studio of Ludwig Richter, whose style strongly influenced him, especially in his graphic work. The artist spent the years 1868–69 in Rome, to which period the present landscape study probably dates. Mohn is a typical representative of Late Romanticism and his work is characterized by a predilection for the narrative, genre-like detail reminiscent of the late Richter. However, like many other artists of his time, he reveals in this small study done directly from life a more spontaneous and almost intimate side of his talent. The landscape chosen here recurs in very similar form in a watercolour by Franz Horny dating from circa 1818 (see Riccardi, op. cit. p. 95, fig. 88). Mohn’s observation of nature is refreshingly unaffected and direct. The artist has dispensed with any anecdotal detail. What remains is a landscape impression of timeless beauty. Broad, sure brush strokes are used to indicate the shrubs and trees in the foreground. The hot midday sun casts deep shadows and parches the earth with its merciless heat. On the left of the horizon rises the majestic silhouette of the mountain village of Olevano. With the artist’s estate stamp on the verso.
Verso mit dem Nachlaßstempel des Künstlers.
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17. friedrich nerly
17. friedrich nerly
(1807 Erfurt – 1878 Venedig)
(1807 Erfurt – 1878 Venice)
Herbstliche Malvenblüten. Aquarell über Bleistift. 43,7 x 32,4 cm. Signiert, datiert und bezeichnet in brauner Feder: F. Nerlij / 1832 Roma.
Autumn Mallow Flowers. Watercolour over pencil. 43.7 x 32.4 cm. Signed, dated and inscribed in pen and brown ink: F. Nerlij / 1832 Roma.
Neben dem jung verstorbenen Franz Horny ist Friedrich Nerly gewiß die bedeutendste Künstlerpersönlichkeit unter den Schülern des Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843). Nerly war seinem um eine Generation älteren Mentor und Lehrer 1823 in Hamburg begegnet und trat im Frühjahr 1828 mit Rumohr eine Italienreise an. Nach längeren Aufenthalten in Florenz und Siena traf Nerly im Dezember 1828 in Rom ein, wo er bis 1835 leben und arbeiten sollte. Es war nicht die Kunst Italiens, sondern die südliche Landschaft, die zum entscheidenden Erlebnis für den jungen Künstler wurde. Nerly war bei Rumohr frühzeitig und systematisch zum Naturstudium erzogen worden und widmete sich der künstlerischen Erfassung der lichterfüllten mediterranen Landschaft mit Elan und bemerkenswertem Talent. Während der ersten Jahre in Rom erkundete Nerly die Umgebung der Stadt und die römische Campagnalandschaft auf ausgiebigen Wanderungen und verbrachte die Sommermonate in den Sabiner Bergen. Die neuen Eindrücke wurden zuerst vor allem in Zeichnungen, Aquarellen und Ölstudien verarbeitet, die in ihrer Spontaneität und Unmittelbarkeit der Naturerfassung weit über ihre Zeit hinausgreifen. Stimulierend dürfte der Kontakt mit gleichgesinnten deutschen Künstlern gewirkt haben, die Nerly in Rom kennenlernte. Die Nazarener Friedrich Overbeck, Philipp Veit und Peter von Cornelius gehörten zum engeren Freundeskreis, später kamen Friedrich Preller und Erwin Speckter hinzu. Eine besonders enge Beziehung entwickelte sich zu Johann Christian Reinhart (1761– 1847), einem der Hauptmeister der idealisierenden Landschaftsmalerei in Rom und neben Joseph Anton Koch eine Lichtgestalt für die in der Ewigen Stadt lebenden jungen deutschen Künstler.
Together with the prematurely deceased Franz Horny, Friedrich Nerly is undoubtedly the most significant artistic personality among the pupils of Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843). It was in Hamburg in 1823 that Nerly met his mentor and teacher, who was a generation older than he was, and both set off on a tour to Italy in the spring of 1828. In December 1828, after lengthy stays in Florence and Siena, Nerly arrived in Rome, where he was to live and work until 1835. It was not the artistic patrimony of Italy, but the southern landscape that became the decisive experience for the young artist. Nerly had been systematically educated in nature study by Rumohr at an early stage and he devoted himself to capturing the light-filled Mediterranean landscape with bravura and remarkable artistic talent. During his first years in Rome Nerly went on extended walks exploring the environs of the city and the Roman Campagna and spent the summer months in the Sabine Hills. The discovery of the southern landscape was translated into numerous drawings, watercolours and oil studies which have a spontaneity and immediacy in their depiction of nature that is far ahead of their time. Nerly must have been stimulated by his contacts with the like-minded German artists whom he got to know in Rome. The Nazarenes Friedrich Overbeck, Philipp Veit and Peter von Cornelius, belonged to his inner circle of friends, which was later to be joined by Friedrich Preller and Erwin Speckter. He developed a particularly close relationship with Johann Christian Reinhart (1761–1847), one of the leading masters of idealized landscape painting in Rome and, together with Joseph Anton Koch, a beacon for the young German artists living in the Eternal City.
Das Studienblatt mit herbstlichen Malvenblüten ist ein treffliches Zeugnis der außerordentlichen Frische und Phrasenlosigkeit der in der römischen Zeit entstandenen Naturstudien. Die verwelkten Blätter der Malvenstauden sind dank einer pointierten und akkuraten Bleistifttechnik stofflich überzeugend erfasst. Mit wenigen treffsicheren Linien sind die dünnen, biegsamen Stengel der Pflanze skizziert, die der Darstellung einen schwungvollen Rhythmus verleihen. Virtuos beherrscht Nerly die Nuancierung weniger Farben. Das Kolorit ist auf sparsame Grün, Grau- und Brauntöne reduziert, zu denen die rosavioletten Blüten einen stimmigen Kontrast bilden. Die asymmetrische Anordnung der Pflanzenstengel, Blätter und Blüten bewirkt eine lebendige mise-en-page. Nerlys hoch sensible und andächtige Studie geht über die bloße Naturerfassung hinaus: Es ist ein zeitloses Bild des ewigen Kreislaufes von Werden und Vergehen.
This Study of Autumn Mallow Flowers bears eloquent testimony to the remarkable freshness and directness of the nature studies from Nerly’s Roman period. A keen and accurate pencil technique has been employed to convincingly render the texture of the faded leaves on the mallow sprigs. With a few sure lines Nerly has sketched the thin, supple stalks of the plant, thus lending the picture a lively rhythm. Nerly is a master of the use of nuancing to make the most of just a few colours. The colouring has been reduced to sparse green, grey and brown tones, to which the mauve flowers make a subtle contrast. The asymmetrical arrangement of the stalks, leaves and flowers creates a vivid mise-en-page. Nerly’s highly sensitive and pensive study is more than just a portrayal of nature: it is a timeless image of the eternal cycle of rise and fall.
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adrian ludwig richter (1803–1884, Dresden)
Italienische Bauern und ein Jäger in der Gegend am Monte Serrone. Aquarell und Feder in Graubraun über einer leichten Bleistiftvorzeichnung. 16,2 x 24,6 cm. Signiert: L. Richter.
Das vorliegende Aquarell ist ein Musterbeispiel der romantisch verklärten und idyllischen Italien-Rezeption Richters. Dargestellt ist ein idealisiertes Landschaftsmotiv aus der Gegend um den Monte Serrone, unweit von Olevano. In seiner sorgfältigen kompositorischen Struktur ist das Aquarell eng mit dem 1834 entstandenen Gemälde Ave Maria verwandt, das sich in Leipzig befindet (Museum der bildenden Künste). Die von einer Hirtenfamilie und einem Jäger genrehaft belebte Darstellung ist aus mehreren, hintereinander gestaffelten Raumebenen aufgebaut, wodurch ein Gefühl unendlicher Weite entsteht. Mit liebevoller Präzision sind die Details der folkloristischen Kostüme und die Einzelheiten der Vegetation charakterisiert. Das sanfte Kolorit gibt die herbstliche Stimmung der Landschaft meisterlich wieder und verleiht der Szene eine Atmosphäre leiser Melancholie. Auf diese Weise wird die pastorale Szene zur Metapher der eigenen Italiensehnsucht des Künstlers.
Adrian Ludwig Richter traf am 28. September 1823, an seinem zwanzigsten Geburtstag, in Rom ein. Sein italienischer Aufenthalt, der bis zum Frühling 1826 dauern sollte, ist erstaunlich gut dokumentiert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in dem ihm unbekannten Land verfiel der Künstler bald der Faszination der Landschaft und der italienischen Lebensart. Die italienische Reise wurde zu einem Wendepunkt in Richters Leben und zur prägenden Inspirationsquelle für seine so lange und produktive künstlerische Laufbahn. Im Frühling 1824 unternahm Richter mit den Dresdener Studiengenossen Carl Wagner und Ernst Ferdinand Oehme seine erste Wanderung ins Albanergebirge und besuchte Albano und Ariccia. Eine zweite Reise mit Malerkollegen folgte im Sommer des gleichen Jahres, bei der Richter das Aequergebirge durchstreifte und sich unter anderem in Tivoli, Palestrina und Olevano aufhielt. Wie sein Vorbild Joseph Anton Koch, der ihn als Maler wesentlich beeinflußte, betrieb Richter diese Erkundungen der römischen Campagnalandschaft mit großer Intensität; die auf diesen Wanderungen entstandenen Studien bilden das eigentliche Substrat seiner Landschaftskunst.
Wahrscheinlich wurde unser Aquarell in den 1860er Jahren geschaffen, als Richter häufig auf die Arbeiten der italienischen Jahre zurückgriff. Eine damals beabsichtigte Reise nach Italien scheiterte an der Krankheit seiner Frau. In der Hamburger Kunsthalle befindet sich eine nur geringfügig unterschiedliche Variante unseres Aquarells (siehe Ausstellungskatalog Ludwig Richter. Der Maler, herausg. von G. Spitzer, U. Bischoff, DresdenMünchen 2003/04, S. 180, Abb. 3).
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adrian ludwig richter (1803–1884, Dresden)
Italian Peasants and a Hunter in the Surroundings of Monte Serrone. Watercolour and pen and greyishbrown ink over a preliminary drawing in pencil. 16.2 x 24.6 cm. Signed: L. Richter.
The present watercolour is a classic example of Richter’s romantically transfigured and idyllic view of Italy. It shows an idealized landscape motif from the region around Monte Serrone, not far from Olevano. In its careful compositional structure the watercolour is closely related to the painting Ave Maria (1834), which is now in the Museum der bildenden Künste, Leipzig. The scene, enlivened in a genrelike way by a herdsman’s family and a hunter, is constructed out of several ascending planes, which creates a sense of immense distance. The details of the folk costumes and the vegetation are characterized with loving precision. The soft colours vividly evoke the autumnal mood of the landscape, lending the pastoral scene an atmosphere of gentle melancholy and turning it into a metaphor for the artist’s own nostalgia for Italy.
Adrian Ludwig Richter arrived in Rome on 28 September 1823, his twentieth birthday. His sojourn in Italy, which was to last until spring 1826, is surprisingly well-documented. After initial difficulties in finding his feet in a strange country, the artist soon succumbed to the fascination of the landscape and the Italian way of life. The Italian journey proved a turning point in Richter’s life and a crucial source of inspiration for his long and productive artistic career. In spring 1824, accompanied by Carl Wagner and Ernst Ferdinand Oehme, two of his former fellow-students from Dresden, Richter undertook his first expedition into the Alban Hills, visiting Albano and Ariccia. A second journey in the company of painter colleagues followed in the summer of the same year, during which Richter trekked through the Sabine Hills, stopping at Tivoli, Palestrina and Olevano, among other places. Like his model Joseph Anton Koch, who greatly influenced him as a painter, Richter undertook these explorations of the Roman Campagna landscape in a very systematic manner and the studies he made during these hikes form the actual substratum of his landscape art.
It is likely that this watercolour was executed in the 1860s, when Richter had frequent recourse to the works of his Italian years. At that time he was contemplating a journey to Italy that had to be abandoned because of his wife’s illness. The Kunsthalle in Hamburg possesses an only slightly different variant of this watercolour (see the exhibition catalogue Ludwig Richter. Der Maler, published by G. Spitzer, U. Bischoff, Dresden-Munich 2003/04, p. 180, fig. 3).
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19. friedrich salathé (1793 Binningen bei Basel – 1858 Paris)
Landschaft mit Hagar und Ismael; der Engel weist Hagar die Quelle. Federzeichnung in Schwarz über Bleistift, braun laviert. 31,5 x 42 cm. Um 1815–18.
Unser wohl am Anfang der römischen Jahre entstandenes Blatt markiert eine kurze Episode in Salathés künstlerischem Werdegang. Wohl unter dem Einfluß Kochs schuf der Künstler einige Zeichnungen, auf denen er eine nach der Natur gezeichnete Landschaftsszenerie mit einem alttestamentlichen Sujet oder einer Hirtenstaffage verband. Es handelt sich um inzidentelle Versuche, denn das biblische Thema spielt eine völlig untergeordnete Rolle in der sorgfältig arrangierten Komposition und seine Protagonisten gehen unter in der wild wuchernden Vegetation, die sie umgibt. In der dichten und reich differenzierten Federtechnik, die über einer flüchtigen Bleistiftvorzeichnung angelegt ist, offenbart sich nicht nur das Beispiel Samuel Birmanns, sondern auch der stilprägende Einfluß der gezeichneten Wald- und Felslandschaften des Johann Christian Reinhart. Im Vordergrund bilden eng geführte, wuchtige Schraffuren ein dichtes und plastisches Vegetationsmuster, das zum Mittelund Hintergrund hin immer feiner und filigraner wird, wodurch eine subtile Transparenz und Leichtigkeit entsteht. Die beiden hochragenden Baumstämme vorne fungieren als ein Fenster, das den Blick des Betrachters wirkungsvoll in die Tiefe führt. Salathés duftige und souverän eingesetzte Lavistechnik erzeugt lebhafte Helldunkel-Kontraste und eine betörende atmosphärische Wirkung. Man spürt gleichsam die Frische der kühlen und schattigen Talsenke. Gekonnt betont der Zeichner den Kontrast zwischen dem summarisch angedeuteten Bodenstreifen vorne und der detailliert wiedergegebenen Ferne. Trotz großer künstlerischer Freiheit gehorcht jedes Element der Komposition einem wohldurchdachten Ordnungsprinzip, welches das Ergebnis eines intensiv betriebenen Naturstudiums ist. Wie wenig andere deutsche Künstler seiner Zeit hat Salathé den Reiz des Unvollendeten zu einem bewußten Stilprinzip seiner Zeichenkunst erhoben.
Die prachtvolle, ungemein konzentrierte Landschaftsdarstellung nimmt eine Sonderstellung im zeichnerischen Œuvre des Friedrich Salathé ein, denn es ist eines der wenigen Blätter mit einem biblischen Sujet. Von Peter Birmann in Basel als Maler ausgebildet, brach der junge Salathé im Spätsommer 1815 nach Rom auf, wo er mit kurzen Unterbrechungen bis zum Jahre 1821 leben und arbeiten sollte. Mit der Zeit intensivierten sich die Beziehungen zu den in Rom seßhaften deutschen und schweizerischen Künstlern. Zu Salathés großem Freundeskreis zählten angesehene ältere Künstler wie Joseph Anton Koch, Johann Martin von Rohden und Johann Christian Reinhart, die bereits im vorhergehenden Jahrhundert nach Italien gekommen waren, sowie altersgleiche Kollegen wie Carl Barth, Samuel Amsler und Joseph Sutter. Durch die Verbindung zu Carl Friedrich von Rumohr unterhielt Salathé auch enge Beziehungen zum Kreis der Nazarener. Trotz der großen Vielfalt der künstlerischen Anregungen, die Salathé in Rom vorfand, ging der Künstler bald eigene Wege. Ähnlich Friedrich Nerly (siehe Kat. Nr. 17), der auch von Rumohr protegiert wurde, galt sein Interesse fast ausschließlich der Landschaft, und es ist dieser Neigung zuzuschreiben, daß Salathé sich anfangs besonders zu älteren Landschaftsmalern wie Koch und Reinhart hingezogen fühlte. Auf Reisen nach Süditalien und auf Wanderungen durch die römische Campagna erkundete Salathé die südliche Landschaft und erlangte mit der Zeit eine immer größere künstlerische Freiheit. Er entwickelte eine dynamische und kernige Federtechnik, die er gekonnt mit Lavierung kombinierte, um die Wirkung von Licht und Atmosphäre wahrhaft und naturgetreu auf das Blatt zu bannen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung fand in den Jahren 1819–21 statt, als Salathé eine Reihe von gezeichneten Landschaftsstudien und kleinen Ölskizzen schuf, die sich durch größte Spontaneität und Frische auszeichnen.
Die Zeichnung ist abgebildet im Ausstellungskatalog Ein Zeichner der Romantik. Friedrich Salathé, bearb. von Y. BoerlinBrodbeck, G.Gerkens, D. Riccardi, Basel-Lübeck-Stuttgart 1988, S. 63, Abb. 23.
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19. friedrich salathé (1793 Binningen near Basel – 1858 Paris)
Landscape with Hagar and Ishmael; the Angel shows Hagar the Spring. Pen and black ink over pencil, brown wash. 31.5 x 42 cm. Ca. 1815–18.
The present drawing, which was probably done early in his Roman period, marks a brief episode in Salathé’s artistic career. Probably under Koch’s influence, the artist did a number of works in which he combined a landscape scene drawn from nature with an Old Testament theme or a pastoral staffage. These are only incidental efforts, as the Biblical theme plays a completely subordinate role in the carefully arranged composition and his protagonists are lost amid the wild and luxuriant vegetation that surrounds them. The concentrated and richly differentiated penwork, which is imposed on a hasty preliminary pencil drawing, reveals not only the example of Samuel Birmann, but also the influence of Johann Christian Reinhart’s landscape drawings. The robust and energetic hatching and cross-hatching in the foreground forms a dense and intricate vegetation pattern that becomes progressively finer and more delicate as it recedes into the middle distance and background, giving rise to a subtle transparency and lightness. The two towering tree trunks in the foreground act as a window that effectively draws in the gaze of the beholder. Salathé’s brilliant use of lavis produces vivid chiaroscuro contrasts and a beguiling atmospheric effect. One can almost scent the freshness of the cool and shady hollow. The draughtsman has skilfully emphasized the contrast between the sketchily indicated terrain in the foreground and the precise rendering of the distant background. Despite its great artistic freedom each element of the composition is subordinated to a rational inner harmony which is the result of a consistent and uncompromising study of nature. Like few other German artists of his day Salathé raised the appeal of the infinito to a deliberate stylistic principle in his graphic work.
This splendid, exceptionally intense landscape occupies a special place in the graphic œuvre of Friedrich Salathé, as it is one of very few works with a Biblical theme. Trained as a painter by Peter Birmann in Basle, the young Salathé set off in the late summer of 1815 for Rome, where he was to live and work with brief interruptions until 1821. He soon de-veloped close relations with the German and Swiss artists who resided in Rome. Salathé’s wide circle of friends included such reputable older artists as Joseph Anton Koch, Johann Martin von Rohden and Johann Christian Reinhart, who had come to Italy in the previous century, as well as colleagues of his own age, like Carl Barth, Samuel Amsler and Joseph Sutter. Through his association with Carl Friedrich von Rumohr, Salathé also maintained close ties with the Nazarenes and their circle. Despite the great variety of artistic influences that Salathé found in Rome the artist soon went his own way. Like Friedrich Nerly (see cat. no.17), who was also a protégé of von Rumohr’s, his interest was almost exclusively devoted to landscapes, which was the reason why Salathé initially felt himself more drawn to such older landscape artists as Koch and Reinhart. Salathé explored the Meditteranean landscape during trips to southern Italy and hikes through the Roman Campagna, gradually gaining an increasing measure of artistic freedom. He developed a dynamic and powerful pen technique, which he skilfully combined with wash in order to capture the effect of light and atmosphere in a manner that was true to nature. This development reached its zenith in the years 1819–21, when Salathé executed a number of landscape studies and oil sketches of the utmost spontaneity and freshness.
The present drawing is illustrated in the exhibition catalogue Ein Zeichner der Romantik. Friedrich Salathé, edited by Y. Boerlin-Brodbeck, G. Gerkens, D. Riccardi, Basel-Lübeck-Stuttgart 1988, p. 63, fig. 23.
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otto greiner (1869 Leipzig – 1916 München)
Zwei Maurer bei der Arbeit. Bleistift, schwarze, rotbraune und weiße Kreide auf braunem Papier, mit Deckweiß gehöht. 45,5 x 30,8 cm. Monogrammiert und datiert: O. Gr. (18)94.
hinten, um zu prüfen, ob die Ladung fest verankert ist, der sehnige, kräftige Arm und die wundervoll charakterisierte knochige Hand lassen auf ein höheres Alter schließen. Mit breiten, flotten Kreidestrichen hat Greiner die beiden Männer zuerst treffsicher in ihren Umrissen und Haltung definiert. Auch Details der Kleidung wie Schuhe und Hosen sind in einer spontanen, summarischen Technik gezeichnet. Für die Wiedergabe von Gesichtern, Gliedmaßen und Faltenwürfen verwendet der Künstler dagegen sehr dünne und spitze Kreidestifte, die eine äußerst feinteilige und detaillierte Zeichentechnik ermöglichen. Die eng geführten Schraffierungen in Weiß heben sich wirkungsvoll von dem dunklen Papiergrund ab und schaffen ein graphisches Muster von größter Delikatesse sowie suggestive Helldunkel-Kontraste. Mit unfehlbarem Gespür für das Wesentliche hat Greiner einen flüchtigen Moment dieses Arbeitsvorganges auf dem Papier fixiert. Der Eindruck von Lebensnähe und Unmittelbarkeit wird auch verstärkt durch die originelle mise-enpage. Die beiden Männergestalten sind aus der Bildmitte gerückt und nehmen den linken oberen Teil des Blattes ein. Der Lastenträger scheint nur einen Moment inne zu halten, um sich dann aus unserem Blickfeld zu entfernen.
Der Maler und Graphiker Otto Greiner zählt zweifellos mit Adolph von Menzel und Max Klinger zu den herausragenden zeichnerischen Begabungen in der deutschen Kunstlandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zuerst als Lithograph und Zeichner in Leipzig ausgebildet, ging Greiner 1891 nach Florenz und Rom, wo er Max Klinger kennenlernte und in seiner weiteren künstlerischen Entwicklung entscheidend von dessen Beispiel beeinflußt wurde. Greiner siedelte 1898 für längere Zeit nach Rom über, pflegte dennoch enge freundschaftliche Beziehungen zu dem älteren Freund und künstlerischen Mentor Klinger. Die vorliegende Zeichnung ist ein überzeugender Beweis von Greiners zeichnerischer Bravour und dürfte direkt nach dem Leben gezeichnet sein. Dargestellt sind zwei Maurer, die sich konzentriert ihrer Arbeit widmen. Ein hochgewachsener junger Mann trägt ein hölzernes Traggestell auf den Schultern, das von einem älteren Kollegen mit Schürze sorgfältig mit Ziegelsteinen beladen wird. Die Pose des jungen Mannes mit den gespreizten Beinen verrät Kraft und körperliche Anstrengung, unter dem Gewicht der Last biegt sich sein muskulöser Oberkörper rückwärts. Meisterhaft ist der konzentrierte Blick des älteren Mannes wiedergegeben. Der Kopf neigt sich etwas nach
Die Zeichnung entstand als Vorstudie für das Diplom für Zimmerobermeister Handwerck in Leipzig, eine Gelegenheitsarbeit aus dem Jahre 1894. Weitere Studien befinden sich in Leipzig (Museum der bildenden Künste, siehe H.W. Singer, Zeichnungen von Otto Greiner, Leipzig 1912, S.13–14).
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otto greiner (1869 Leipzig – 1916 Munich)
Two Masons at Work. Pencil, black, reddish-brown and white chalk on brown paper, heightened with white. 45.5 x 30.8 cm. Monogrammed and dated: O. Gr. (18)94.
With broad, brisk strokes Greiner has accurately captured the outline and posture of the two men. The details of clothing, such as shoes and trousers, have also been drawn in a spontaneous, summary manner. For the rendering of faces, limbs and drapery, on the other hand, the artist uses very thin and sharp chalks that facilitate an extremely subtle and detailed drawing technique. The intricate cross-hatching in white stands out effectively against the dark paper background, creating a graphic pattern of the greatest delicacy as well as suggestive chiaroscuro contrasts. With an unerring eye for the essential, Greiner has captured a fleeting moment of the working process on paper. The impression of lifelikeness and immediacy is reinforced by the original mise-en-page: The two male figures have been moved from the centre of the picture and occupy the upper left part of the sheet. The hod-bearer seems to be pausing only for a moment before vanishing from our field of vision.
Together with Adolph von Menzel and Max Klinger, the painter and graphic artist Otto Greiner was undoubtedly one of the outstanding German draughtsmen of the last decades of the 19th century. In 1891 Greiner, who had initially trained as a lithographer and draughtsman in Leipzig, went to Florence and Rome, where he met Max Klinger, whose example was to exert a decisive influence on his further artistic development. In 1898 Greiner moved to Rome, where he was to remain for a longer period while still maintaining close, friendly relations with his older friend and artistic mentor, Klinger. The present drawing is a convincing proof of Greiner’s graphic bravura and was probably done directly from life. It shows two masons, who are concentrating closely on their work. One is a tall young man who carries on his shoulders a wooden hod, which is being carefully loaded with bricks by an older colleague wearing an apron. The pose of the young man with feet set wide apart betrays strength and physical effort, as his muscular torso is bent back against the weight of the load. The look of concentration on the older man’s face is rendered in masterly fashion. The head is bent slightly backwards to see if the load is held firmly in place, while the strong, sinewy arm and wonderfully drawn bony hand indicate advanced age.
The present drawing is a preparatory study for the Diplom für Zimmerobermeister Handwerck in Leipzig, a drawing in coloured chalks done by the artist in 1894. Other studies are kept in the collection of the Museum der bildenden Künste in Leipzig (see H.W. Singer, Zeichnungen von Otto Greiner, Leipzig 1912, p.13–14).
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künstlerverzeichnis / index of artist names
Ademollo, Luigi Andriessen, Jurriaan Barendsz., Dirck Blechen, Karl Canova, Antonio Carmontelle, Louis Dillis, Cantius Fontebasso, Francesco Greiner, Otto Hoefnagel, Joris Ledru, Hilaire Marcola, Marco Minardi, Tommaso Mohn, Viktor Paul Nathe, Christoph Nerly, Friedrich Peyron, Jean François Pierre Richter, Adrian Ludwig Salathé, Friedrich Schmidt, Georg Friedrich
38 14 6 42 46 16 48 18 66 10 22 26 52 54 28 56 32 58 62 34
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