Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.02.2014, Nr. 6, S. V7
Was vom Leben übrig bleibt Das Elternhaus ist verwaist. Doch vor dem Verkauf wartet eine Herkulesaufgabe auf die Erben: Wohin mit dem Tafelsilber, den Büchern, dem Biedermeierschrank und all den Dingen, an denen so viel Erinnerung hängt? VON URSULA KALS UND NADINE OBERHUBER Das Bonner Haus war urgemütlich. Ein bisschen verbaut, aber mit 230 Quadratmetern üppig groß. Und die hatten sich über die Jahre mit allem gefüllt, was eine Familie mit vier Kindern plus Großeltern so ansammeln. Längst war das Haus verwaist, waren Mutter und Großeltern gestorben, die Kinder in verschiedenen Städten und Ländern verstreut. Der Vater ist inzwischen zu einer Tochter gezogen. Bevor die Gutachter kommen, den Wert der Immobilie schätzen und Käufer ihre Gebote abgeben, müssen die Kinder das verwaiste Haus leeren. Eine Herausforderung, weil vom zugepfropften Speicher bis zum vollgestopften Keller jedes Eckchen genutzt worden war. Denn die Familie trägt in sich das Eichhörnchen-Gen. Alles sammeln, bloß nix wegwerfen! Deshalb trieben alle zwei Fragen um: Wer nimmt nun was mit zu sich? Und was machen wir mit dem Rest? Das erste Aussortieren ging rasch. Die zerschlissene Couchgarnitur mit Spuren der Enkelkinder und Katzen landete im Container. Ohne den, das war allen klar, ging es nicht. In ihm endeten auch die ehemals teuren Einbauschränke in Eiche rustikal. Der Student, der zuletzt zur Untermiete im Haus wohnte, nahm Bücherregale, Tisch und Bett mit. Und die Putzfrau freute sich über die Esszimmergarnitur. Doch wohin mit dem prächtigen Biedermeierschrank aus Kirschholz, in dem noch eine Original-Gewehrkugel aus Elsass-Lothringen steckte? Die Eltern hatten ihn vor 19 Jahren von einem Händler für 4000 Mark gekauft. Ein anderer hatte ihnen Jahre später weit mehr als das Doppelte dafür geboten. Damals mochte sich niemand von dem guten Stück trennen. Jetzt aber wurde der Schrank zum Problem, denn für den Koloss mit seiner stattlichen Höhe von 2,20 Metern hatten die Kinder in ihren Wohnungen keinen Platz. Ihn loszuwerden, hatten sich alle einfacher vorgestellt: Biedermeier, bestens erhalten, so ein Stück müssten einem die Händler doch aus den Händen reißen! Nach langen Internetrecherchen fand sich ein Händler, der 3200 Euro für ihn zahlte. Nicht, ohne zu
erwähnen, das sei ein sehr großzügiges Angebot, denn die Preise für Biedermeiermöbel seien drastisch gesunken. Tatsächlich schwanken die Preise alter Möbel stark, bestätigt Antikhändlerin Martina Weiss aus Witten. In den 80er Jahren erzielten Biedermeierstücke noch Rekordpreise, in den 90er Jahren stürzte ihr Wert regelrecht ab. Denn die Moden und Geschmäcker der Sammler ändern sich schnell. "Meist schätzen die Leute den Wert antiker Möbel viel zu hoch ein", warnt Weiss daher, "und viele kommen mit Möbeln, obwohl wir andere Dinge viel besser verkaufen." Wenn überhaupt, dann seien derzeit eher Kleinmöbelstücke gefragt, Stühle, Tische und Sekretäre, also handliche Teile, die in moderne Wohnungen passen und auch gerne mal mit umtriebigen Besitzern umziehen. Viel besser aber verkauften sich Gemälde und Schmuckstücke, sagen die Händler. Wer ein wertvolles altes Stück loswerden möchte, sollte mindestens zwei Angebote einholen. Viele Händler und Auktionshäuser schätzen den Wert, wenn sie Fotos zugesendet bekommen. Für 100 bis 200 Euro rücken sie auch persönlich zum Wertgutachten an. Zudem gibt es viele Internetplattformen, auf denen man sich als Verkäufer über Preise informieren kann, wie markt.de, 62days.com oder schaetze24.de. Für neuere Möbel, die noch keine 100 Jahre alt sind, ist oft Ebay die bessere Wahl. Dort kann man in den Kleinanzeigen auch zum Festpreis anbieten. In der Villa wurde es nun richtig schwierig. Wohin mit den 8000 Büchern aus den Einbauschränken? Bände, die jahrzehntelang die Familie begleitet und jede Generation zum Lesen verführt hatten, darunter aufwendig gebundene französische Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert, die Gesamtausgabe von Thomas Mann, Leineneinbände, Erstausgaben. Die in den Müll zu werfen, kam für niemanden in Frage. "Das fühlt sich an wie eine Art Leichenschändung", sagten die beiden Jüngsten und verkrümelten sich, weil sie die Aktion "emotional nicht packten". Alte Bücher zu verkaufen ist dagegen kein Frevel. Irgendein Sammler freut sich garantiert, wenn sie auf dem Markt auftauchen. Denn 98 Prozent aller jemals gedruckten und erschienenen Werke sind vergriffen, schätzt das Goethe-Institut. So jagen viele Sammler jahrelang bestimmten Schätzchen hinterher. Auch Wissenschaftler und Bibliotheken suchen gelegentlich alte Exemplare, um ihre Bestände aufzufüllen. Damit machen viele Antiquare ein Geschäft, wenn auch kein sehr großes. Die beiden älteren Geschwister telefonierten also die Antiquariate ab. In einer Unistadt, da musste es doch Interessenten für solche Raritäten geben. Das Ergebnis war frustrierend. Viele alte Buchdeckel und verstaubte Einbände täuschen oft nur große Seltenheit und hohen Wert vor, warnen Antikbuchhändler. Die meisten Bücher sind nur so lange wertvoll, wie sie noch
niemand gelesen hat und der Preis noch auf ihnen klebt. Hat der erste Leser seine Nase zwischen die Seiten gesteckt oder muffelten sie erstmal ein paar Jahre auf dem Dachboden vor sich hin, wird es schwer, den Preis zu schätzen. "Im Grunde muss man dazu jedes einzelne Buch in die Hand nehmen", sagt Hubert Weber vom Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher (ZVAB). Über die Plattform bieten rund 1100 Antiquariate ihre Bestände an, die beinahe den gesamten Altbuch-Umsatz hierzulande abwickeln. Rund drei Millionen Bücher wechseln über Second-Hand-Buchhändler jährlich den Besitzer. Im Schnitt erzielt jedes Exemplar dabei einen Ladenpreis von knapp 20 Euro, das bedeutet aber nur 10 Euro für den Lieferanten. Beim ZVAB können Kunden zwar nur kaufen und selbst keine Bücher anbieten, doch es ist eine gute Anlaufstelle, um vorab den Wert alter Bücher zu bestimmen. Auch die Seite Booklooker gibt eine gute Preisübersicht. Wer dann wirklich Exemplare verkaufen will, muss sie dann schon persönlich ins nächste Antiquariat schleppen. Oder besser noch in drei, um zu sehen, ob alle drei einen ähnlichen Preis bieten, raten erfahrene Altbuchhändler. Der Preis eines Buches hängt in erster Linie vom Zustand ab: Hat es abgestoßene Ecken? Ist das Papier wellig oder vergilbt? Sind Anmerkungen mit Kugelschreiber geschrieben, oder lassen sie sich wegradieren? "Der häufigste Irrtum ist: Alter heißt nicht automatisch teuer", warnt das ZVAB. Manche Bücher sind 100 Jahre alt und nur 3 Euro wert, andere dagegen fast druckfrisch, aber so selten, dass sie dreistellige Beträge einbringen. Die Geschwister setzten auf das Prinzip Selbstabholer. Der Pfarrer sollte sich aus den theologischen Fachbüchern großzügig bedienen. Er kam, stöberte stundenlang und zog mit sechs Büchern wieder ab. Auch ein befreundeter Geschichtsstudent winkte ab. Seine UniBibliothek sei wirklich gut sortiert. Die Pferdekinderbücher, die in Bananenkisten auf dem Dachboden standen, flogen gleich in die Tonne. Die seien ja noch in alter Rechtschreibung verfasst, belehrten Freunde, das verwirre heutige Grundschüler nur. Über aktuelle Bücher dagegen freuen sich Sozialprojekte und Kinderhäuser. Sie nehmen auch Spielzeug und CDs gern an, das wissen die Aufräumer inzwischen. Zum Problem wurde auch die Einbauküche. Denn selbst die Studenten im Bekanntenkreis wohnen längst in Ikea und haben keine Schrankspenden nötig. Doch gut erhaltene Möbel, so hatten die vier Nachlassverwalter schon oft gehört, seien bei Hilfsorganisationen willkommen. Ebenso freuten sich die Wertstoffhöfe über gute Gebrauchtmöbel, die sie aussortieren und zu kleinen Preisen an Menschen mit wenig Geld weiterverkaufen. Aber der Mann von der Caritas ließ wissen, dass keiner seiner Bedürftigen eine sechs Jahre alte Küchenzeile gebrauchen könne. Auch die Obdachloseninitiative zuckte zurück. Sie habe zurzeit weder Abnehmer noch Lagermöglichkeit. Tatsächlich haben viele Hilfsorganisationen ein Problem mit gutgemeinten Sachspenden, bestätigen Experten vom Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI). Denn die Menge übersteigt oft bei weitem den lokalen Bedarf. Vor allem Möbel werden nur
selten gebraucht. Trotzdem raten die DZI-Berater, sich nicht gleich entmutigen zu lassen und bei Organisationen wie Caritas und Diakonie nachzufragen, was sie benötigen. Auch die ausgefallensten Dinge finden oft dankbare Abnehmer. Wer bunte Antikfiguren daheim nicht selbst aufstellen mag oder Spiegel mit Fastgoldrahmen, der kann sie zu Oxfam bringen. Die Nothilfe-Organisation hat Shops in vielen größeren deutschen Städten und nimmt dort "fast alles, was gut erhalten, sauber und zu schade zum Wegwerfen ist", an. Das Sortiment reicht von Haushaltswaren, alten Puppen, Bastelmaterial bis hin zu Bildern, Büchern und Schallplatten. Geld gibt es für die Ablieferer nicht, aber das gute Gefühl, dass die Gegenstände weiterverkauft und vom Erlös Hilfsprojekte finanziert werden. Bei der Annahme ist Oxfam jedoch wählerisch: Die Dinge "müssen in einwandfreiem Zustand sein", denn "beschädigte, abgenutzte oder verschmutzte Artikel" werden hier auch bloß entsorgt. Kleidungsspenden nimmt Oxfam überdies nur in der entsprechenden Jahreszeit an. Omas alte Pelze und Wintermäntel also besser erst im Herbst hinbringen. Schwer wird es oft bei der Frage: Was macht man mit Einzelstücken oder Sammlungen, die wertvoller sind, die aber keiner haben will? Das Meißner Porzellan etwa, das abgewetzte Tafelsilber oder Opas Taschenuhrensammlung? So mancher, der so etwas versilbern will, erschrickt, wenn er die Preise dafür erfährt, zum Beispiel beim Porzellan. Mehr als ein paar Euro bringt selbst das "weiße Gold" meist nicht. Aufkäufer wie Porzellanankauf.com und derporzellanfreund.de schätzen solche Stücke zumindest unkompliziert per Internet. Händler wie "Antik Ankauf RS" (www.ankauf-meissen.de) kommen sogar nach Hause, wenn sie vorab Fotos vom Erbstück gesehen haben. Viele Schmuck- und Silberankäufer dagegen bezahlen schlicht nach Gewicht, für ein Kilo 800er-Silber-Besteck zum Beispiel gibt es 298 Euro, für ein Gramm 585er Gold 15,14 Euro. Die tagesaktuellen Preise kann man etwa auf der Internetseite vom Leihhaus Lohmann in Berlin nachlesen oder bei Silberankauf.de - und sich dann immer noch überlegen, ob man den Schmuck wirklich versilbert oder nicht doch lieber behält. Was wirklich Schwerstarbeit für die Seele bedeutet, erlebten die Geschwister, sind die ganz persönlichen Dinge voller Erinnerungen. Den Arbeitskittel der Mutter, die Porträtmalerin war, wollte niemand in den Müllsack stopfen. Ebenso wenig die Werkbank, auf die der Großvater Schlitten geschmirgelt und Kinderstühle gezimmert hatte. Doch half das? Eine Cousine wusste Rat: "Fotografiert doch die Dinge, an denen ihr besonders hängt, die ihr aber nicht mitnehmen könnt. Die Fotos könnt ihr zum Trost noch ewig hervorkramen." Was man aus alldem lernt? Das Verteilen sollte man beizeiten in unbeschwerten Stunden regeln. Dann lässt sich besprechen, was Abnehmer findet und was übrig bleibt. Man kann es auch wie die Bonner Großmutter machen, die fand: "Man soll mit warmen Händen schenken", und der Enkelin das
Goldarmband noch zu Lebzeiten übergab. Sie sah das Strahlen in deren Augen. Loslassen tut weh. Und vielleicht ist die Einstellung zum Horten und Hergeben auch eine Generationenfrage. Verständlich, wenn Menschen, die im Krieg groß geworden sind, sehr an Aussteuertruhe und Blümchengeschirr hängen und nichts wegschenken. Nachvollziehbar auch, dass Jüngere nicht unbedingt alles davon bewahren, weil sie eher das Neukaufen und das Wegwerfen gewohnt sind. Doch auch den Jungen sind viele alte Dinge etwas wert. So mancher hat schon bedauert, dass am Ende so gar nichts von den Vorfahren blieb, weil ein anonymer Räumtrupp am anderen Ende der Republik einen Haushalt aufgelöst und alles weggeworfen hat. Vielleicht kennt deshalb fast jeder jemanden im Bekanntenkreis, der an Wochenenden über Flohmärkte stromert und altes Silberbesteck jagt. Oder auf Auktionsplattformen wie Ebay auf die fehlenden Teller zum Art-déco-Service bietet. Selbst Nierentische und 50er-Jahre-Kommoden liegen voll im Einrichtungstrend, genau die Möbel aus den Jahren, als Oma und Opa noch jung waren. Es ist daher gar nicht so unwahrscheinlich, dass auch so manche Nicht-Antiquität einen würdigen Abnehmer findet, wenn man rechtzeitig über bestimmte Dinge redet. Bildunterschrift: "Das fühlt sich an wie eine Art Leichenschändung" sagten die beiden Jüngeren und verkrümelten sich, weil sie die Aktion "emotional nicht packten". Abwicklungsfall Elternhaus: Der Speicher vollgepfropft, der Keller vollgestopft. Foto mauritius images / Nora Frei. Ohne Wert? Persönliche Dinge sind die größte Herausforderung. Foto Frank Röth Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de