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Tage des Verrats

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Die Scham

Die Scham

Ohne Ringelpiez mit Anfassen Staatstheater Mainz: K.D. Schmidts wunderbare »Tage des Verrats«

Neben Wiesbaden mit einer spektakulären Beckett-Trilogie realisierte das innovationsfreudige Staatstheater in Mainz als eine der ersten deutschen Bühnen mit »Tage des Verrats« Corona-taugliches Theater. Wenig verwunderlich war es deshalb, dass der erste Blick der Kritik, aber auch des im Kleinen Haus in Wohnzimmergemütlichkeit auf Sofas und Sesseln drapierten Publikums, den Abstandsregeln und ihrer Bewältigung auf der Bühne galt. Viel erstaunlicher dagegen, wie schnell dies vergessen war. Der als Film »The Ides of March« bekannt gewordene und 2008 erstmals aufgeführte Politthriller mit dem O-Titel »Farragut North« von Beau Willimon thrillt auch unter Covid19-Rules von der ersten Minute an. Dank starker Schauspieler, dank einer schnörkellosen Regie von K.D. Schmidt und auch dank einer top-aktuellen Thematik. Schließlich herrscht Wahlkampf in den USA und hinter den Kulissen tobt ein schmutziges Spiel um die Macht. Julian von Hansemann spielt den selbstbewussten jungen PR-Manager Stephen Bellamy, der drauf und dran ist, einen Außenseiter bei den US-amerikanischen Vorwahlen auf den Kandidatenstuhl der Demokraten zu hieven. Doch ein wenig zu selbstbewusst und -verliebt, ein wenig zu idealistisch und ein wenig zu empfänglich für die Praktikantin Molly (Elena Berthold) aus dem Wahlkampfteam, was auch ohne Ringelpiez mit Anfassen prächtig prickelt, wird der PR-Darling nach allen Regeln des Schweinesystems ausgehebelt. Martin Hermann gibt den scheinbar integren Lobbyisten des Gegners, aber auch Klaus Köhler ist als ausgebuffter Politprofi nur ein vermeintlicher Freund Stevens. Hannah von Peinen weiß ihre ausgefuchste Journalistin einmal mehr zum Erlebnis zu machen und auch Burak Uzuncimen, den wir von der Theaterquarantäne (Darmstadt ) und aus den Landungsbrücken kennen, bleibt als unterwürfiger Handlanger nicht, was er scheint, sodass wir am Ende ganz mit Bertholds wunderbarer Molly fühlen, der einzig ehrlichen Figur. Und trotz des großartigen Spiels fällt die Hauptrolle doch der Bühne von Thomas Drescher zu, über die sich drei schräg hochsteigende Rampen ziehen, bestückt mit weißen Karosserien von Amischlitten. Das ist hochfunktional, wäre es Musik, könnte man an perfekt durchkomponierten Cool Jazz denken, der jedem und jeder Platz zur Entfaltung lässt. So gut, so packend, so überzeugend, dass man es einen Glücksfall nennen kann.

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Termine: 5., 14., 15. September, 19.30 Uhr www.staatstheater-mainz.com gt

© Andreas Etter

Mehr Schippenstil als Chippendale Burgfestspiele Bad Vilbel zelebrieren Corona-kompatibel »Ladies Night«

Das Publikum verzeiht den Vilbeler Theatermöglichmachern gerne und am Ende sogar mit einer in Standing Ovations gipfelnden Begeisterung: die doch schmale Besetzung des Stücks »Ladies Night« (mit lediglich fünf auf Abstand spielenden Darstellern), und das spartanische Bühnenbild (ein drehbarer klobiger Rahmen, der von der einen Seite als Plakatwand auf einem Parkplatz fungiert und von der anderen als Showbühne). Wie auch anders?! Auf die Schnelle in knapp vier Wochen nur produziert! Zur Freude aller: Denn zusammen mit Ron Hutchinsons »Vom Winde verweht«-Persiflage »Mondlicht und Magnolien« – die uns leider entgangen ist – hält das Musiktheater »Ladies Night« die bruchlose Tradition der ursprünglich schon abgesagten Bad Vilbeler Burgfestspiele am Leben. »Ladies Night« wird in Bad Vilbel unter der Regie von Christian H. Voss gegeben, nach einem Stück der Neuseeländer Anthony McCarten und Stephen Sinclair über arbeitslose Grubenarbeiter, die mit einer Striptease-Show zu Geld zu kommen versuchen. Bekannt wurde die Komödie auch bei uns durch den Film »The Full Monty« (Ganz oder gar nicht), der die Handlung ins englische Stahl-Mekka Sheffield verlegte, und durch die vielgespielte Musical-Version von Sinclair und McCarten, die zuletzt in der Region im Fritz Rémond Theater und im English Theatre zu sehen war – und nicht zu verwechseln ist mit dem ebenfalls hier schon von Voss inszenierten Plagiat »Ganze Kerle«. Sie haben 20, 30, 40 und 50 Jahre auf dem Buckel und sind extrem unterschiedlich: der großmäulige Rocker (Raphael Köb), der stotternde Schwule (Lukas Schwedeck), der abgewrackte Oldie (Volker Weidlich) und ein Moppel (Theodor Reichardt). Gemeinsam ist ihnen die Arbeitslosigkeit. Sie haben kein Geld, dafür aber Beziehungsprobleme, jeder auf seine Art, und sie saufen – ganz normale Männer. Etwa euphemistisch betrachtet handelt die Geschichte von der zerstörenden Gewalt der Arbeitslosigkeit, von der Kraft der Arbeitersolidarität und dem brachliegenden Potenzial eines jeden Individuums. Serviert wird sie als schreiend schräge Verwandlung von vier herrlich tumben Proleten in die »Fantastic Four« – unter der Knute von Sonja Hermanns herzig-resoluter Tanzlehrerin. Es gleicht zwar nicht ganz der Metamorphose der Raupe zum Schmetterling und ist mehr Schippen-Stil als Chippendale – aber eine verblüffende Befreiung der vier Charaktere aber erleben wir da schon. Das Quartett beeindruckt mit einem knappen Dutzend mitreißender Show- und Tanzeinlagen zu einer Hit-Serie, die von Abbas »Dancing Queen« über Tom Jones »Sex Bomb« bis zu Joe Cockers »You can leave your hat on« reicht. GuteLaune-Theater für jede Witterung, bedingungslos empfohlen. Unter immerhin noch 200 Gästen kommt auch auf den Rängen die Stimmung nicht zu kurz.

Winnie Geipert

Termine »Ladies Night«: 31. August–7. Sept., 20.15 Uhr; außer So. 6. Sept., 18:15 Uhr Termine »Mondlicht«: 8.–12. September, 20:15 Uhr; 13. September, 18:15 Uhr www.kultur-bad-vilbel.de

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