Neustädter Fundstücke Katalog

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NEUSTÄDTER FUNDSTÜCKE Ein Objet trouvé (franz. für „gefundener Gegenstand“) ist ein Kunstwerk, beziehungsweise Teil eines Kunstwerks, das aus vorgefundenen Alltagsgegenständen oder Abfällen hergestellt wird. »Neustädter Fundstücke« ist eine Ausstellung des Instituts für Kunstpädagogik der Universität Leipzig. Die Ausstellung findet im Pöge Haus, in der Hedwigstr.20, für die Dauer vom „Kunstfest am Neustädter Markt“ vom 07.07.2012 bis 15.07.2012 statt. Das Ausstellungsprojekt wurde von Studierenden der schulischen und außerschulischen Kunstpädagogik im Studienmodul „Künstlerische Arbeit mit modernen Medien“ im Sommersemester 2012 realisiert.

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Armbanduhr 40 × 100 × 20 mm Rostfreier Stahl Fundort: Neustädter Straße 18 Gefunden am: 17.04.2012

Die Armbanduhr ist vergoldet und es handelt sich hierbei um ein Imitat. Gefunden wurde diese Uhr in einem zerstörten Zustand, wobei das Ziffernblatt und die Batterie erst später am Fundort Neustädter Straße entdeckt und darauffolgend eingesetzt wurden.

Der Verlust Seit den 90er Jahren änderte sich die Bevölkerung in der Neustadt grundlegend. Diejenigen, welche genug Geld hatten, verließen ihre alten Wohnungen in diesem Viertel. Übrig blieben nur Personen, die es sich nicht leisten konnten in eine bessere Umgebung zu ziehen. Zugereiste aus allen Ländern schätzten die preisgünstigen Wohnungen und daher wurde die Leipziger Neustadt für diese Bevölkerungsgruppe immer attraktiver. Heute findet man einen Billigladen neben dem anderen und viele Fastfoodshops in der Nähe der Eisenbahnstraße. Einwanderer aus arabischen Ländern, der Türkei und vielen anderen Regionen haben sich dort eine eigene Gemeinschaft aufgebaut.

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Zu dieser Gemeinschaft gehört auch ein junger Mann namens Mehmed Gürdal. Er wohnt bereits seit 1995 in der Neustadt und hat sich in diesem Stadtteil sehr gut eingelebt. Momentan arbeitet er in einem türkischen Supermarkt. Wie viele Personen in dem Viertel lebt er am Existenzminimum und kann sich nur das Nötigste leisten. Schon lange wollte er sich etwas Besonderes kaufen – eine goldene Armbanduhr. Jeden Tag lief er an dem An- und Verkaufladen in der Eisenbahnstraße vorbei und schaute sich diese besondere Armbanduhr an. Nur leider konnte er es sich nicht leisten. Also beschloss er jede Woche ein paar Cent zu sparen. Nach einem halben Jahr hatte er genug Geld gespart. Er lief zum Laden und ging nicht wie jeden anderen Tag daran vorbei, sondern öffnete die Eingangstür und trat hinein. Nun kaufte er sich dieses Schmuckstück von seinem lange angesparten Geld. Obwohl er wusste, dass es sich hierbei um ein Imitat handelt, hatte diese Uhr einen ganz besonderen Wert für M.Gürdal. Jeder der darauffolgenden Tage begann indem er seine Armbanduhr vom Nachttischschrank nahm und sie sich um den Arm legte. Er war sehr stolz darauf endlich etwas Eigenes zu besitzen. Eines Abends traf er seinen Freund, den er vor langer Zeit bei der Arbeit kennen gelernt hat. Sie redeten über alte Geschichten und tranken ein paar Bier zusammen. Dieses Treffen dauerte bis spät in die Nacht hinein. Als Mehmet den nächsten Morgen erwachte, wollte er wie jedes Mal seine Armbanduhr vom Nachttischschrank nehmen und sie sich um das Handgelenk legen, doch sie lag nicht an ihrem Platz …. Er durchwühlte sein ganzes Zimmer, die Armbanduhr tauchte nicht auf. Was er nicht mehr wusste – er hatte seine Armbanduhr in der letzten Nacht in der Neustädter Straße verloren. Heimlich und leise öffnete sich der Verschluss der Uhr, was aufgrund der mangelnden Qualität kein Wunder war. Sie rutschte ihm vom Handgelenk und fiel zu Boden, ohne dass er es bemerkt hatte. Die Trauer um sein Schmuckstück war sehr groß. Bis heute hat Mehmet Gürdal keine Spur von der Armbanduhr.

Autor Katja Morgenweck Quellen Bericht einer Anwohnerin http://www.harriet-trettin.de/leipzig_wo_ich_lebe.htm Artikel zur Neustadt http://commonsblog.wordpress.com/2007/09/11/von-leipzig-neustadtundstad ischen-gemeinschaftsgutern/ Foto Katja Morgenweck

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Automobil 30 × 25 × 55 mm Stahlblech mit Roststellen Fundort: Rosa-LuxemburgStraße gefunden am: 23.04.2012

Ein Automobil, der «Zündschlüssel», um es in Gang zu setzen, fehlt.

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Ein Motor für die Leipziger Neustadt Während der Zeit der DDR verließen viele Familien die Leipziger Neustadt aufgrund kleiner Wohnungen ohne Bad oder Dusche und meist einer Außentoilette auf halber Treppe. Die Zentralheizung, das fließend warme Wasser und der höhere Komfort in den Plattenbaugebieten außerhalb des Stadtteils lockten. In den neunziger Jahren verließen zudem diejenigen die Neustadt, die es sich leisten konnten: Zurück blieben «Alte und Arme». Später entdeckten Migranten das Viertel aufgrund seiner günstigen Mietpreise für sich. Im Viertel gibt es viele leerstehende Häuser und eine der höchsten Zahlen an Hartz-IV-Empfängern. Allerdings geht es langsam bergauf in Leipzig-Neustadt: «[...] das Viertel [gibt] Einblicke in die Zukunft: Es zeigt wie kein anderer Stadtteil, dass Leipzig gleichzeitig schrumpft und wächst.» Die Kunstszene hat die Neustadt für sich entdeckt. In «dein kiez» werden die «Kreativen als Motor der Stadtentwicklung» beschrieben. Das Automobil und den Motor, welche die Neustadt weiterhin in eine gute Zukunft transportieren sollen, haben wir also bereits, nur der Schlüssel fehlt, um es in Gang zu setzen. Die Neustadt sollte weiter von vielen entdeckt und vorangebracht werden! Ein Beweis dafür, dass die bekannteste Straße im Viertel – die Eisenbahnstraße – nicht nur von Bewohnern besucht wird und werden sollte, ist der Jakobsweg, welcher über die Geschäftsstraße führt. Dieser verläuft vom ukrainischen Kiew bis nach Santiago de Compostela in Spanien, sein Verlauf orientiert sich an der mittelalterlichen Handelsstraße Via Regia. Die Wegmarkierung ist an einer gelben Muschel auf blauem Grund (Jakobsmuschel) zu erkennen. Wer findet das Symbol? Nun lasst uns aufgrund des fehlenden Schlüssels alle schieben und es kann los gehen!

Autor Linda Böhm Literatur http://www.die-eisenbahnstrasse.de/ dein kiez – Die Stadtteilserie «Zwischen Telecafé und Künstlerhotel» Fotos Linda Böhm

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Chinesischer Glücksfisch 8 × 10 × 1 mm Kupfer versilbert Fundort: Parkplatz Eisenbahnstraße gefunden am: 15.04.2012

In China wird das gleiche Schriftzeichen für Fisch und Überfluss benutzt. Der Fisch ist hier ein Symbol für Glück, Reichtum und gute Ernte. Dieser kleine Glücksfisch hat einen erstaunlichen Weg von China bis in die Neustadt zurückgelegt.

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Der lange Weg des chinesischen Glücksfisches Durch die Aufhebung von Anordnungen wie der Kollektivierung der Landwirtschaft, lebte in den Jahren von 1981 bis 1987 ein Großteil Chinas Bevölkerung in extremer Armut. Zu diesen am Existenzminimum lebenden Menschen zählte auch Su. Sie hatte sich verliebt, doch leider wenig Hoffnung, dass Tin, ihr Geliebter, jemals genug Geld aufbringen konnte, um mit ihr eine eigene Familie gründen zu können. Eines Tages kehrte ihr Vater mit einem kleinen Geschenk für sie nach Hause. Es war eine Kette mit einem Fisch daran, die er auf dem Weg zur Arbeit am Wegrand gefunden hatte. Er sollte ihr Glück und Reichtum bescheren. Su trug den Anhänger von nun an jeden Tag und es dauerte keinen Monat, da geschah etwas Unbegreifliches. Tin kam zu ihnen nach Hause und wollte mit ihr auswandern. Er hatte eine Möglichkeit gefunden als Vertragsarbeiter nach Deutschland, genauer in die DDR, zu gelangen. Und für sie, Su, gab es ebenfalls die Möglichkeit dort in einer Baumwollspinnerei zu arbeiten. Die Verträge waren auf 5 Jahre befristet, es durfte keine Integrationsabsicht bestehen und es durften keine Familienangehörigen mitreisen. Da Su und er nicht verheiratet waren und sich beide sehr geschickt anstellten, gelang es ihnen gemeinsam von Leipzig abgeworben zu werden. Sie konnten es sich nicht erklären, doch ohne Nachzudenken ergriffen sie diese Chance aus den Nöten zu entkommen voller Hoffnung auf ein besseres und gemeinsames Leben. Es kam erstmal anders. Sie wurden gertrennt voneinander in Arbeiterwohnheime gesteckt, die streng kontrolliert wurden. Eine Schwangerschaft wäre ein Grund zur Ausweisung gewesen. Doch nur ein Jahre später half der Fisch erneut: die Wende kam. Su und Tin gelang es eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und fanden, wie viele Migranten dieser Zeit, eine Wohnung im Stadtviertel Neustadt. Sie konnten endlich heiraten, Kinder kriegen und eine Familie sein. Gut 20 Jahre später fand Su beim Aufräumen eine kleine Schachtel, in die fein säuberlich eingebettet der Fisch lag, der ihr und ihrer Familie einst so viel Glück bescherte. Für sie hatte er seine Arbeit getan und somit beschloss sie ihn weiterschwimmen zu lassen. Sie lief ein paar Schritte bis zum Rabet und suchte sich eine ruhige Stelle. Sie nahm den kleinen Fisch und warf ihn mit geschlossenen Augen über ihre Schulter, bedankte sich bei ihm und wünschte dem nächsten Finder genauso viel Glück.

Autor Isabelle Grubert Links http://de.wikipedia.org/wiki/Vertragsarbeiter http://www.symbolonline.de/index.php?title=Fisch Foto Isabelle Grubert

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Dialoge Soundcollage 6:06 Min. Fundort: Freizeitpark Rabet gefunden am: 08.06.2012

Der Mensch reagiert in seiner Umgebung nicht nur auf visuelle, sondern auch auf akustische Reize. Alles, was für uns hörbar ist, ergibt eine ortsspezifische Geräuschkulisse. Die Verbindung und Selektion solcher Reize könnte man als Systeme betrachten, in denen Informationen zirkulieren. Ich habe mich auf eine Spurensuche begeben. In der grünen Lunge der Neustadt Leipzigs, dem Freizeitpark Rabet treffen Kinder und Jugendliche (Offener Jugendtreff) zusammen, aber auch bei Erwachsenen ist dieser öffentliche Ort beliebt.

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Das war noch nicht immer so: Das heutige Rabet war vollkommen bebaut. „... In der Wurzner Straße suchte man vergebens nach Baum oder Strauch, aber vom Laden aus konnten wir in die Juliusstraße hinaufsehen, und dort, über dem hohen Bretterzaun der „Kinderanstalt“, in die auf Arbeit gehende Mütter ihre Kinder brachten, streckte ein kümmerlicher Großstadtbaum seine Zweige. Das war alles, was die Natur uns bot. Ich erinnere mich nicht einmal, was für ein Baum das war.“ Aus dem Bericht von Mathilde Smits-Esperstedt, die in den 1910-er Jahren in der Wurzner Straße aufwuchs. (Mathilde Smits-Esperstedt: Von Sellerhausen nach Amsterdam. 1996, S. 71.) Zu DDR-Zeiten (1973) beschloss der Rat der Stadt, die Ostvorstadt zu rekonstruieren. Das bedeutete einen großflächigen Abriss in Neuschönefeld, um den Neustädter Markt und südlich der Eisenbahnstraße sowie die Neubebauung und Anlage des Stadtteilparks Rabet. 1986 begann der Bau von Plattenbauten. Zudem wurden über 200 Altbau-Wohnungen modernisiert. Die Neubauten südlich der Eisenbahnstraße wurden 1991 fertig gestellt. Am Neustädter Markt wurde der Abriss nach der Wende gestoppt, aber es gab Häuser, die in den Folgejahren an Altersschwäche zusammengebrochen sind. Das Wintergartenkino in der Eisenbahnstraße und das Ostbad in der Konradstraße (heute mitten im neu gestalteten Park Rabet) wurden geschlossen und abgerissen. Seit 2000 konnte durch Fördermittel die Umgestaltung des Freizeitparks Rabet finanziert werden. Mit der Umsetzung des Plans der Neugestaltung und Erweiterung des Stadtteilparks Rabet begann eine Aufwertung des gesamten Bereiches. Seit einigen Jahren entwickelt sich dieses Areal im Rahmen von Selbstnutzerprojekten wie Stadthäusern zu einem attraktiven Wohnungsstandorts. Gustav Wustmann, Stadthistoriker, kämpfte 1899 für die Beibehaltung des Namens Rabet (oder Rabeth) und fand eine Ursprungsvariante: lateinisch „rubetum“ für Brombeergebüsch. Eine Komposition von Momentaufnahmen dieses Ortes, der zum Austauschen, zum Plaudern einlädt, kann man in der Audiodatei mitverfolgen.

Autor Ina Nitzsche Links http://www.volkmarsdorf.de/civixx/geschichte.asp http://www.l-iz.de/Politik/Brennpunkt/2009/07/Straße-Rabet-soll-aufgemöbelt-werden.html Fotos Ina Nitzsche

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Eierbecher 120 × 70 × 30 mm Polyhydroxyalkanoat (Biokunststoff) Fundort: Mariannenstraße 47 gefunden am: 23.04.2012

Eierbecher dienen dazu, gekochte Eier am Davonrollen zu hindern, wenn sie direkt aus der Schale gegessen werden. Dieser heute alltägliche Bestandteil des Frühstücksgeschirrs war lange Zeit ein Luxusgegenstand und Ausdruck gehobener Tischsitten

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Die Alte, Randale und der Eierbecher Vermietet wurde mir die Wohnung unter dem Prädikat „in ruhiger Lage“. Hab sie mir angesehen - ziemlich ruhig, fand ich, dafür, dass Leipzig eine Studentenstadt sein soll. Die Mariannenstraße Ecke Hedwigstraße in der Leipziger Neustadt machte tagsüber tatsächlich einen angenehmen Eindruck, die ersten zwei Wochen. 22.06.1973 Margarethe feiert ihren 70. Geburtstag in der Hedwigstraße im dritten Stock. Kinder hat sie nicht, die Eltern leben längst nicht mehr, aber ihre Schwester aus dem Nachbarbezirk Volkmarsdorf hat sich angekündigt und schleppt sich wie immer mit einem Riesenpaket die Holztreppen hoch. Vom Eierbecher zum Aschenbecher

Sie hat Schokolade mitgebracht, ein Päckchen Kaffee, ein Sammeltassen-Service und ein hässliches Zweierset gelber Eierbecher. „Was soll ich mit zwei Eierbechern?“, denkt sich die Alte. Ihr Mann starb 1949, da war Margarethe 46 und Alfred viel zu früh weg. Wochen später traut sie sich, einen der Eierbecher zum Frühstück mit rauszustellen. Aber nur weil der geliebte letzte Porzellanbecher kaputtgegangen ist. Der neue Becher passt nicht zum restlichen gepflegten Geschirr. Sie betrachtet den Eindringling. „En Auge für schöne Dinge hat se ja noch nie gehabt“, denkt sie laut über ihre Schwester. Aber der Eierbecher erfüllt seinen Zweck weitere 15 Jahre lang.

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23.04.2012 Es kotzt mich an. Die ganze Nacht wieder Geplärre und sächsisches Gebrüll. Irgendein Typ hat seine Freundin auf der Straße fertig gemacht - entweder, weil er besoffen war oder weil LOK Leipzig wieder verloren hat. Ein Iraner oder Iraker aus dem vierten Stock gegenüber in der Neustädter Straße dachte, wenn er noch lauter schreien würde, wäre Ruhe. Aber die Kasachin zwei Etagen über mir hat sich dann auch noch eingeschaltet. Das allnächtliche Chaos schließt morgens kurz nach sieben, wenn die Sanierungsarbeiten in der Hedwigstraße Ecke Mariannenstraße anfangen. Seit zwei Jahren. Seit ich die Wohnung „in ruhiger Lage“ habe. 22.06.1988 Die Alte erlebt ihren 85. Geburtstag nicht mehr, auch die Wende nicht, aber das hätte an ihrer persönlichen Situation wohl auch nichts geändert. Die Wohnung wird ausgeräumt bis auf den Küchenschrank, für dessen Demontage vielleicht das richtige Werkzeug gerade fehlte. Nach und nach ziehen die Mieter aus oder versterben. Befüllt wird das Haus nicht weiter, es soll abgerissen oder renoviert werden. Bauarbeiter betreten das Haus 2010, 22 Jahre später. Margarethes Küche wird Stück für Stück aus dem Fenster in einen Container geworfen. Einer von ihnen findet den den ungeliebten Eierbecher der Alten. „Sigara tabasi!“, ruft er, was soviel heißt wie Aschenbecher auf türkisch. 23.04.2012 Ich sitze am Fenster und rauche, schlafen kann ich sowieso nicht mehr bei dem Lärm. Ich kann sehen, wie die Arbeiter blaue Küchenmöbel aus dem dritten Stock schmeißen. „Schönes Blau eigentlich“, denke ich, als einer der Schränke fliegt und einen Moment später beim Aufprall zerbirst. Ich betrachte fasziniert das Geschehen, wie kleine Dinge nach dem Aufprall aus den Schränken zum Vorschein kommen. Dabei springt ein gelbes Plastikteil aus dem Container ins Gebüsch. Als ich zur Vorlesung fahre, packt mich doch die Neugier und ich will sehen, was das gelbe Teil war. Ich bin enttäuscht, dass es es nur ein mit Aschespuren versetzter Eierbecher

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Autor Ulrike Hennig Links www.fnr-server.de/cms35/fileadmin/allgemein.pdf http://www.nachwachsende-rohstoffe.info www.wikipedia.org Fotos Ulrike Hennig

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Fahrkarte 48 x 79 mm Papier Fundort: Tramhaltestelle Einertstraße gefunden am: 27.04.2012

»Einzelfahrkarte Kind«– ein kleines Stück Papier, für einen Euro zu kaufen. Für 60 Minuten hat es seinen Nutzen erklärt. Danach ist es ein wertloses, bedrucktes Stück Faser ohne Besitzer. Aufgehoben und verstanden, erzählt es eine Geschichte. Vom Warten und Ankommen. Von Bewegung und Stillstand.

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Haltestelle Einertstraße. Im gefühlten Minutentakt fahren Straßenbahnen vorbei, Richtung Hauptbahnhof oder weiter Richtung Osten. Die Tram 1, die 8, die 3 und dann noch einmal die 8. Aussteigen, einsteigen. Kinderwagen rein tragen oder raus tragen, kurz die Türen aufhalten, weil jemand noch einsteigen möchte. Circa 10 Sekunden bleiben die Türen offen, dann ertönt das Einsteige-Warngeräusch. Es gibt eigentlich keinen Grund zu hetzen, oder nach der Bahn zu rennen, denn kaum ist eines dieser lauten Fahrzeuge außer Sichtweite, kommt ein neues angerollt – Bringt Menschen ans Ziel, und holt neue ab. Familien mit Kinderwagen sind genau so unterwegs wie Studierende auf dem Rad. Die Geschwindigkeiten unterscheiden sich – einige gehen langsam, manche etwas schneller, wenige eilen auf die andere Straßenseite. Je nachdem, was man möchte – wohin man möchte.

Trotz der emsigen Geschäftigkeit scheinen alle auf etwas zu warten; auf die nächste Bahn, darauf, dass ein Platz auf der Bank frei wird, oder das sie einsteigen können. Die Autos auf der Straße warten darauf, dass die Straßenbahn weiterfährt und der Fahrweg nicht mehr blockiert wird. Kinder warten auf ihre Eltern. Jugendliche stehen an der Straßenseite und unterhalten sich – telefonieren, oder tippen auf ihren Handys herum. Zwei circa achtjährige Jungen suchen ein Zwei Euro Stück – sie haben es wohl an der Haltestelle verloren. Vielleicht wollen sie sich einen Fahrausweis kaufen?

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Nach knapp fünf Minuten des Suchens finden sie es wieder. Jedoch steigen sie nicht in die Bahn, sondern laufen weiter Richtung Osten die Eisenbahnstraße entlang.

In den letzten Jahren hat sich hier viel verändert: Lebensgeschichten gingen zu Ende, neue begannen. Leerstand, Umzüge, Neugründungen. Ein Kommen und Gehen. Niemand weiß genau wie lange er bleibt und wohin er geht. Die Eisenbahnstraße scheint in ständiger Bewegung zu sein – so wie die Straßenbahn. Mit einem Euro ist die »Einzelfahrkarte Kind« der günstigste Fahrschein, den man sich kaufen kann. Kind=Hund=Fahrrad. Das Elternteil, der Hundemensch, oder der Radliebhaber - alle bezahlen gleichviel, um ihren geliebten

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Fahrgast mitzunehmen. Dem Fahrscheinautomaten ist das egal. Hinter jedem Fahrgast steckt eine Geschichte, ein Leben, ein Gedanke wohin die Reise führen soll. Hoffnungen, Ängste, Termine die zu erledigen sind oder Anrufe, die noch zu tätigen wären. Setzt man sich an die Haltestelle und wartet, scheint das Leben noch viel schneller als gewöhnlich vorbeizuziehen. Wenn man jedoch aufmerksam hinhört und die Augen offen hält, wird man für diese Zeit ein Teil dieses Geschehens. Ein Teil der Eisenbahnstraße: laut, bunt, geschäftig und voller offener Fragen, die es zu beantworten gilt.

Autor Julia Perkuhn Links www.lvb.de Fotos Julia Perkuhn

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Feinmechaniköl 105 x 45 x 45 mm Feinmechaniköl in Flasche (Glas, Kunststoff) Fundort: Ludwigstraße 28 gefunden am: 19.04.2012

“Läuft wieder wie geschmiert!” Dieser Satz zauberte Emil Pohl immer wieder erneut ein Lächeln auf seine Lippen und er hat ihn wohl zur Genüge in seinem Leben gehört.

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Emil Pohl war Feinmechaniker in einem kleinen Fahrradreparatur-Geschäft in Leipzig Zentrum. Pohl erlebte es – das Goldene Zeitalter sächsischer Industriekultur; und erinnerte sich häufig an damals zurück: pfeifende Luftpumpen, ratternde Fahrradketten und klackende Speichen trugen zur Alltagsmelodie der kleinen Werkstatt bei. Pohl genoss es, sich eine Pfeife zu stopfen, anzuzünden und mit nachdenklicher Mine den Grund eines schlecht laufenden Fahrrads aufzuspüren. Er wackelte dort, schraubte da oder fettete die, meist laut quietschenden, Fahrradketten ein. Wichtigstes Arbeitsmittel bei der Beseitigung komischer Geräusche war das Feinmechaniköl ORA • MOL. Diese kleine Flasche Feinmechaniköl war für Pohl wohl der bedeutendste Zeitzeuge der Goldenen Zwanziger, der Blütezeit sächsischer Industrialisierung. Die Produktion von Fahrrädern, als Fortbewegungsmittel für jedermann, sicherte seinen Job. Nach Schließung des kleinen Reparatur-Geschäfts zog Pohl nach Leipzig Neustadt und richtete sich dort eine eigene kleine Reparatur-Werkstatt ein. Ein Tropfen Feinmechaniköl auf die quietschende Fahrradkette. Emil Pohl würde lächeln: “Läuft wieder wie geschmiert, oder?”

Autor Madlen Avram

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Filmdose 51 × 39 × 39 mm Kunststoff Fundort: Eisenbahnstraße gefunden am: 18.04.2012

Eine schwarze Filmdose steht für Stil, Zeitlosigkeit, Nostalgie und Kreativität. Jeder Fotograf, der analoge Fotografie bevorzugt, würde seinen vollen Film bis zur Entwicklung in solch einer Dose aufbewahren. Warum liegt also eine leere Filmdose mitten auf der Straße?

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Neustadt Leipzig in der Retrospektive Warum liegt eine leere Filmdose mitten auf der Straße? Welche Geschichte verbirgt sich dahinter? Niemals warf ich beim Wechseln des Films die leere Dose weg, sondern bewahrte dort stets den vollen Film auf. Ereignete sich hier eine so spektakuläre Szenerie, dass der Fotograf hastig seinen vollen Film gegen einen neuen austauschen musste und dabei in aller Hektik die Filmdose wegwarf? Der Fundort ist so lebendig und vielseitig, dass dort jederzeit ein spannendes Ereignis passieren kann. Mit dem Fund der schwarzen Filmdose dachte ich sofort an einen Fotografen, der analoge schwarz/weiß Fotografie bevorzugt. Sie lag geöffnet auf dem Asphalt neben einer Mülltonne in der Eisenbahnstraße. Im Zeitalter der digitalen Fotografie ist eine solche Filmdose für mich ein besonderes Fundstück, da ich auch persönlich analoge Fotografie vorziehe. Die Neustadt ist zweifellos eines der multi-kulturellsten Viertel in Leipzig. Hier traf ich einst auf einen russischstämmigen Fotografen, der vielseitig begabt und interessiert ist. Sein Name ist Sergey Sivuschkin. 1996 kam er mit seiner Familie von Russland nach Deutschland. Seit sieben Jahren wohnt er nun als freiberuflicher Fotograf und Künstler in der Eisenbahnstaße. Die Eisenbahnstraße scheint ruhelos und laut – eben eine typische Hauptverkehrsstraße. Doch genau diese Eigenschaften, die viele Menschen als störend und unangenehm empfinden, brauchen einige Künstler. Die Straßen sind stets voller Leben und Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturen. Sergey liebt genau das an der Neustadt und könnte sich nicht vorstellen, in einem anderen Teil der Stadt zu wohnen. Das Viertel und die Menschen inspirieren ihn zu seinen Arbeiten. Provokative Titel wie „Bloody Valentine“, „Fucked up“ und „Sex-addicted“ zieren seine Arbeiten, bei denen er nichts dem Zufall überlässt. Sie sind inszeniert und detailverliebt. Zumeist reicht ein Blick nicht aus, um die verstecken Kleinigkeiten, die zur Aussage des Bildes beitragen, zu entdecken. Mit seinen häufig surrealistisch angehauchten Bildern erzählt er Geschichten über Menschen mit den unterschiedlichsten Charakteren. Diese bringen durch ihre Vielfalt Sergey immer wieder auf neue Ideen. Des Öfteren begegnete er seinen Models in der Neustadt, ob an der Bushaltestelle, in der Kaufhalle oder beim Döner um die Ecke – überall entdeckt der sich als Deutscher fühlende Russe interessante Menschen, die in seiner Nachbarschaft wohnen. Sobald ihm eine Person interessant erscheint, lässt er es sich nicht nehmen, auf die Person zuzugehen, um sie für eine künstlerische Zusammenarbeit mit ihm zu bewegen. Seine Bilder sind experimentell, brutal und provokativ. Er mag ein kleiner Velázquez, der mit seiner Venus die Schönheit der Frau darstellt, der Fotografie sein, denn auch er scheut sich nicht vor der Nacktheit und Ästhetik des weiblichen Körpers. Er will schockieren und zum Nachdenken anregen. Leider werde ich nie die wahre Geschichte des Fundstücks erfahren, aber es ist ein Symbol für die florierende Kunstszene, die sich bei Weitem nicht nur auf Fotografie beschränkt.

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Nicht nur Sergey, sondern auch andere K체nstler haben die kulturelle und lebendige Art des Viertels entdeckt, obwohl in diesem negativ belasteten Stadtteil Leipzigs eine auff채llig hohe Zahl leerstehender und zerfallener Geb채ude vorzufinden ist. Doch oftmals verstecken sich gerade hinter alten Fassaden spannende Geschichten, die von kreativen Menschen erz채hlt werden.

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Autor Anika Preissler Fotos Anika Preissler

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Fineliner 90 × 80 × 9 mm Kunststoff, Metall Fundort: Schulhof der Wilhelm Wander Schule gefunden am: 20.04.2012

Diesen roten Fineliner fand ich angeschnitten, zerknickt und mit eingedrückter Mine auf dem Schulhof der Wilhelm-Wander-Schule in der Leipziger Neustadt.

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Der fliegende Fineliner Manchmal ist es wie im Kino und die guten Ideen fallen einfach vom Himmel. Fast unglaublich, dass sich gute Geschichten wie von selbst entwickeln können, nur wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Und etwas Glück hat. So passiert auf meiner Suche nach einem Fundstück im Kontext mit der Historie seines Fundortes. An einem sonnigen späten Vormittag führte mich mein Weg auf der Suche nach geschichtsträchtigen Funden in die Leipziger Neustadt. Im Schatten der frisch grünenden Bäume schlenderte ich an einem altehrwürdigen Schulgebäude vorbei. Sicherlich ließe sich hier etwas Interessantes finden dachte ich und umlief das Haus. Letztendlich stand ich auf dem Schulhof und sah mich um. Einige Fenster standen offen, Lachen und Kinderstimmen erregten meine Aufmerksamkeit. Ein lockiger Jungenkopf mit Brille erschien an einem Fenster, warf etwas heraus und verschwand gleich wieder. Tumult im Klassenraum und dann plötzlich wieder Stille. Eine Frau schloss dann das Fenster. Neugierig suchte ich nach dem Wurfgeschoß des Jungen, das im Staub des Hofes lag. Ein zerbrochener Fineliner, rot. Ich hob ihn auf und nahm ihn mit. Dann setzte ich mich auf eine Bank am Neustädter Markt mit Blick auf die Schule, um darüber nachzudenken, was ich mit dem Flug- und Fundstück nun anfangen könnte. Ich hörte die Schulglocke und kurze Zeit später füllte sich der Schulhof mit Kindern. Hofpause. Zwischen den mindestens einhundert, rennenden, schreienden, spielenden oder nur miteinander redenden Kindern, meinte ich den bebrillten Lockenkopf zu erkennen, den ich am Fenster gesehen hatte. Er und zwei andere Jungen schienen etwas zu suchen... Ich fasste mir ein Herz und ging auf eine Dame zu, die wie es mir schien als Aufsichtspersonal auf dem Schulhof stand. Ich stellte mich und mein Anliegen vor und fragte, ob ich kurz mit dem Jungen sprechen könnte. Sie sah mich etwas erstaunt an, begleitete mich dann aber zu ihm. Dem Jungen und seinen Freunden zeigte ich den roten Fineliner und fragte, ob sie den suchten. Sie schauten mich an und nickten verlegen. Auf meine Frage, warum sie ihn aus dem Fenster warfen, antwortete mir der lockige Junge mit verstohlenem Blick auf die Lehrerin. Zum Glück musste die gerade einen Streit zwischen anderen Kindern schlichten. Flüsternd erzählte der Junge. In der letzten Stunde haben sie eine Heimat- und Sachkundearbeit aus der vergangenen Woche wiederbekommen. Es ging um die Geschichte ihrer Schule. Der Junge hatte sich nicht vorbereitet und seine Arbeit mit vielen roten Anmerkungen und einer fünf zurück bekommen. Als die Lehrerin das Klassenzimmer kurz verließ, um Arbeitsmaterialien zu holen, nahm er kurzerhand den roten Fineliner vom Lehrertisch, zerbrach ihn und warf ihn wütend aus dem offenen Fenster. Die Lehrerin hatte von alldem nichts bemerkt. Mit der Beantwortung meiner Frage, was er denn von der Geschichte der Schule wisse, halfen ihm seine Freunde aus. Sie erzählten mir, was sie erfahren und gelernt hatten und ich schrieb es mir in mein Notizbuch. Die Schule wurde 1878 eingeweiht und als 18. Bezirksschule des „Neuen Anbaus“ im Schönefelder Stadtteil eröffnet. Über 650 Schüler begannen damals in der Schule zu lernen, nach dem sie vorher in weiter entfernten Schulen bzw. provisorischen Räumlichkeiten unterrichtet wurden.

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Der erste Direktor war ein Oberlehrer namens Schütz. In der Schule waren damals auch Gemeinderäume und Arrestzellen untergebracht. Später wurde die Schule zur 15. Volksschule. In der Zeit des Sozialismus in der DDR wurde die Schule in den 1960er Jahren zur Polytechnischen Oberschule (POS) und nach der Wende 1992 zur Wilhelm-Wander-Schule, benannt nach einem deutschen Pädagogen und Germanisten, der die größte Sammlung von Sprichwörtern in deutscher Sprache anlegte. Ich bedankte mich bei den Jungen und versprach Ihnen, niemanden etwas vom „Fliegenden roten Fineliner“ zu erzählen.

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Autor Sarah Pieper Links http://www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf4.html http://www.leipzig.de/de/buerger/bildung/schulfuehrer/grundschulen/04789.shtml Foto Sarah Pieper

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Fotografie 151 × 79 × 0,1 mm Fotopaier Fundort: Hedwigstraße 12 gefunden am: 20.04.2012

Diese Schwarzweißfotografie wurde möglicherweise während der späten 60er Jahre aufgenommen. Sie zeigt die „Alte Markthalle“(Eisenbahnstraße 74), welche in der Neustadt Leipzig zu finden ist und heute als Einkaufszentrum „Aldi“ genutzt wird.

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Momentaufnahme Fotografien fangen Momente ein. Momente, die für eine längere Zeit in Erinnerung bleiben sollen. Wie viel Aussagekraft und Geschichte sich allerdings hinter einem einzigen Foto verbergen kann, war mir bis zum 20. April 2012 noch nicht in dem Maße bewusst. An jenem Tag lief ich durch die Leipziger Neustadt. Gemütlich erkundigte ich die Gegend der Eisenbahnstraße und bog schließlich in die Hedwigstraße, um mir die Heilig-Kreuz-Kirche genauer ansehen zu können. Während meines Spazierganges hielt ich oft kurz an, um die verschiedenen Eindrücke der Häuser und Menschen auf mich wirken zu lassen. So auch in der Hedwigstraße. Besonders ein Umzugstransporter und scheinbar auch dazugehöriger blauer PKW, die vor der Hedwigstraße 12 parkten, fielen mir schon von der Ferne aus ins Auge. Der Transporter wurde von jungen Männern beladen, deren Arbeitskleidung darauf schließen ließ, dass sie zu einer Umzugfirma gehören mussten. Ein älterer Mann trat aus dem Haus und schleppte Kisten in den PKW. „Das wird wohl derjenige sein, der umzieht“, dachte ich bei mir. Der ältere Mann verabschiedete sich von den Umzugshelfern und sie fuhren weg. Plötzlich verließ auch eine ältere Frau das Haus. Bepackt mit einem Stapel von dicken Büchern, steuerte auch sie zu dem blauen Auto. Gewiss zu schwer bepackt, fielen ihr ein paar Zettel, die oben auf den Büchern auflagen, herunter. Der ältere Mann schritt zu ihr, um ihr die dicken Bücher abzunehmen und anschließend die Zettel aufzuheben. Gemeinsam warfen sie einen letzten Blick auf das Haus und fuhren weg. Neugierig begab ich mich direkt vor den Eingang des Hauses, vor dem sich eben Beobachtetes abgespielt hatte, als mir ein weißer Zettel auffiel, der auf dem Fußweg von der älteren Dame zurück geblieben sein musste. Ich hob ihn auf und bemerkte, dass es sich dabei nicht um einen Zettel, sondern um ein Foto handelte, auf dem ein Gebäude zu sehen war. Ein Gebäude, zu dem ich mir einbildete es während meines Spazierganges bereits gesehen zu haben. Bei jenem Gebäude handelte es sich um das denkmalgeschützte Gebäude der ehemaligen Markthalle, in dem heute ein Aldi-Markt zu finden ist. Ein sehr historischer Bau, wie ich später herausfand. Bis zum Jahre 1907 war an der Stelle der heutigen Markthalle nichts weiter vorzufinden, als ein offener Holzschuppen. Dieser gehörte in vergangener Zeit zu dem Dampfsägewerk von J.G. Glitzner. Wenige Jahre später wurde er abgerissen und stattdessen wurde an genau diesem Ort ein Lager- und Verkaufsgebäude für Waren- und Genussmittel erbaut, eine Markthalle sozusagen. Die Gestalt der Markthalle zu diesem Zeitpunkt ist jedoch keineswegs mit der zu vergleichen, die wir heute kennen. Das Gebäude wurde lediglich mit einem unspektakulären flachen Pappdach auf Holzschalung abgedeckt. Drei Jahre später wurde die Markthalle in ein Lichtspieltheater umfunktioniert. Dabei veränderte sich das Äußere zunehmend in das Erscheinungsbild, was uns heute erhalten ist. Signifikant dafür ist die hohe gewölbte Decke von

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riesigen Ausmaßen. Ohne Säulen als Stützen, um die ungehinderte Sicht der Zuschauer von 750 Sitzplätzen auf das Bühnenbild zu gewährleisten. Am 11. Oktober 1912 wurde das Ost-Passage Theater eröffnet. Die Eröffnungsvorstellung war ausverkauft. Im Laufe der Jahre erhielt das Theater den Namen „Lichtschauspielhaus“. Aufgrund eines Geldmangels für Instandsetzungsarbeiten, erforderlichen Umbaumaßnahmen und des schlechten Bauzustandes wurde schließlich am 31.12.1962 der Vorführbetrieb eingestellt. Im Anschluss daran wurde das Gebäude als Lagerraum genutzt, später stand es leer. 1968 wurde die ehemalige Markthalle erneut umfunktioniert. Diesmal diente es zum Gemeindehaus der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, der Mormonen. Sie führten die notwendigen Renovierungsarbeiten für ihr neues Gemeindehaus selbst durch. Die Inschrift „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ am Portikus des Gebäudes auf dem Foto verrät, dass es in nur wenigen Jahren danach aufgenommen worden sein muss. Der Schriftzug war aufgrund einer Durchfahrt direkt von der Eisenbahnstraße aus zu sehen. Da die DDR-Regierung verhindern wollte, dass dieser Schriftzug die Aufmerksamkeit der Passanten der Eisenbahnstraße auf sich zieht, mussten die Mormonen den Schriftzug, der von ihnen selbst gemalt worden war, vollständig weiß überstreichen. 1986 wurde ein neues Gemeindehaus der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in der Oeserstraße 39 erbaut, weshalb sie aus der ehemaligen Markthalle auszogen. Danach wurde es als Lagerraum der Karl-Marx-Universität (heutige Universität Leipzig) genutzt. Später stand es leer und verfiel zusehends.

Im Dezember 2004 wurden Abbrucharbeiten der Häuserzeile Eisenbahnstraße 68-72 vorgenommen, wodurch der architektonisch auffällige Bau für die Öffentlichkeit wieder sichtbar war und die Aufmerksamkeit wieder auf sich zog. Gespräche wurden geführt das Gebäude der Alten Markthalle wieder

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Bild links: Anzeige für die Einweihung und Eröffnung der „Alten Markthalle“ 1909 Bild rechts: Der verfallene Zustand des Gebäudes im Jahre 1996


als Markthalle herzurichten und als solche zu nutzen. Der Lebensmitteldiscounter Aldi bekundete sein Interesse und es wurde nach Lösungen gesucht, dies umzusetzen, da das Gebäude immer noch unter Denkmalschutz stand. So wurde der Supermarkt durch die historische Halle „hindurchgeschoben“ und erstreckt sich über den Freiraum zwischen der Halle und dem Nachbarhaus, welches als ehemalige Lederwarenfabrik bekannt ist, und reicht in jenes hinein. Dies erforderte eine Sanierung der schlichten Klinkerfassade, des Tonnengewölbes und des historischen Eingangsbereiches mit der Schmuckfassade (Portikus), den Fenstern und Türen. Am 26. Oktober 2009 wurde der Supermarkt Aldi eröffnet und ist bis heute in Betrieb. Deutschlandweit ist diese „Alte Markthalle“ das einzige erhaltene Beispiel einer solchen Umnutzung.

Autor Juliane Lutter Links http://www.bildindex.de/obj30143527.html#|home http://www.leipziger-osten.de/fileadmin/UserFileMounts/Redakteure/ Inhaltsbilder/Stadtteil_im_Blick/Projekte/Block_22/Markthalle_Geschichte_NMJ_4_07.pdf http://www.allekinos.com/LEIPZIGLichtschauspielhaus.htm http://www.leipziger-osten.de/content/stadtteil-im-blick/projekte-im-stadtteil/ projekte-in-der-uebersicht/block-22/ http://www.leipziger-osten.de/fileadmin/UserFileMounts/Redakteure/Inhaltsbilder/Stadtteil_im_Blick/Publikationen/Leipziger_Osten_Juni_2009.pdf Fotos S.Straube Juliane Lutter

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Frontleuchte 70 × 70 × 100 mm Stahlblech, Kunststoff Fundort: Mariannenstraße 9 gefunden am: 02.05.2012

Leipzig-Neustadt – Eisenbahnstraße, der Eingang des Ghettos! Lärm, Dreck, Migration; nichts als negative Schlagzeilen? Das Aufeinandertreffen mit Bewohnern des Viertels, erzählt von ihrem Alltag, den Ansichten und Wünschen des Zusammenlebens, von Vergangenem und Gegenwärtigem. Eine Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit, die ich nichts zu finden geglaubt habe.

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Die Eisenbahnstraße im Rücken, auf der Suche nach anderen, positiven Facetten der Neustadt – im Streifzug durch die Nebenstraßen. Doch es schien wie leergefegt. Wo ist das pulsierende Leben geblieben? Nur gelegentlich dringen Gesprächsfetzen durch die Fenster nach draußen. Entgegenkommende Passanten biegen kurz vor einem in die Hauseingänge ein. Eine kleine Gruppe ausländischer Kinder rennt vorbei und verschwindet ebenso schnell, wie sie aufgetaucht ist, hinter der nächsten Straßenkreuzung. Wieder allein. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper. Am besten sollte mir alles verborgen bleiben. Es muss ein Weg gefunden werden, um an die verborgenen Geschichten hinter den Fassaden zu gelangen. Dem Gefühl des Eindringlings folgend, soll zunächst ein scheinbar leerstehendes Haus begutachtet werden. links: Klingelschild rechts: Treppenhaus

Es ist nicht schwer hineinzugelangen, doch zu meiner Verwunderung sieht das Innenleben zweideutig aus. Gerad erst verlassen oder vielleicht doch noch bewohnt? Es ist nichts zu hören, ich taste mich weiter vor. Die Wohnungstüren im Erdgeschoss stehen offen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass alle Möbel ausgeräumt wurden. Die hintere Ecke des Bades dient als Sperrmüllablage. Die anderen Räume wurden ebenfalls umfunktioniert und mit Fahrrädern voll gestellt. Diese sehen durchaus noch fahrtüchtig aus, die meisten sind zudem durch ein Schloss gesichert. Hier muss noch jemand wohnen! Im nächsten Augenblick – ein Knaren im Treppenhaus. Schritte aus einer anderen Etage sind zu vernehmen. Um nicht als Störenfried wahrgenommen zu werden, stelle ich mich wieder in den Hausflur und suche die Konfrontation. Ein junger, gutgelaunter Mann steht mir gegenüber und stellt sich als Robert

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vor. Nach kurzem Bericht, was es mit meiner Anwesenheit auf sich hat, wird ein neues Treffen vereinbart und schon ist er wieder weg. Geschafft! Der erste Kontakt ist hergestellt. Werkstatt - Wohnzimmer

Zweiter Besuch, etwa eine Woche später. Eine aufgeschlossene, äußerst freundliche Atmosphäre durchströmte dieses Mal die Räume der Mariannenstraße 9. Robert erzählte zunächst viele Geschichten über die Neustadt, um einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Die Betonung lag dabei immer auf der Behaglichkeit, und in welch engem Geflecht er mit ihr verbunden ist. Als gebürtiger Leipziger kennt er die Straßen und Häuser der verschiedenen Viertel der Stadt nahezu in- und auswendig. Für das studentische Leben stand für ihn und auch seinen Freund und jetzigen Mitbewohner Carsten von Anfang an fest, dass sie ihr Bleibe in einem Haus aus der Gründerzeit einrichten wollen. Auf er Suche nach einem passenden Objekt, klingelten die beiden unzählige Male an den Türen der alten zwar unsanierten, aber durch ihren Charm so bestechenden Häuser und fragten die dortigen Mieter, ob sie im Haus mit unterkommen könnten. Nach etlichen vergeblichen Versuchen, fand sich doch etwas. Nicht hundertprozentig ihren Vorstellungen entsprechens, aber es passte. Als der Tag gekommen war, den Mietvertrag zu unterzeichnen, fuhr Robert kurz vorher mit seinem Rad die Mariannenstraße entlang. Ihm fiel sofort die Hausnummer 9 ins Auge. Kurz darauf gehörte die Wohnung im dritten Stock ihnen. Es war Winter und trotz -20° Celsius gab es viel zu tun. An allen Ecken und Enden musste tatkräftig angepackt werden. Aus dem „belagerten“ Haus wurden bis heute sieben Container voll Schutt und Müll abtransportiert. Die ehemaligen zwei Partein sind mittlerweile auf acht angewachsen – Alle samt Studenten. Sie haben es sich in den urgemütlichen Kachelofen-Zimmern mit Dielenboden und Stuckverkleidung häuslich gemacht.

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Was an Mietkosten unglaublich gering gehalten wird, ist im Gegenzug von den Bewohnern zu kompensieren, doch ihr englischer Vermieter lässt ihnen dabei alle Freiheiten. Dadurch ist die gesamte Hausgemeinschaft eine einzige große WG. Jeder kennt jeden und jeder ist für jeden da – und genau das macht das Temperament der Neustadt aus. Carsten ist in diesem Fall Anlaufstelle in punkto zweirädriger Fortbewegung. Im Laufe der zwei Jahre, in denen die Wohnung vom ihm bewohnt wird, hat er einen seiner beiden bewohnten Räume zu einer Fahrradwerkstatt umorganisiert. Sein Wohnzimmer! Ein Zimmer, das Trotz herumliegender Schraubenschlüssel, Schmierflecken und unbrauchbaren Radkleinteilen, mit Liebe zum Detail umgestaltet wurde und nun eine unglaubliche Lebendigkeit ausströmt, so dass man in jedem Fall mit dem ersten Schritt des Betretens der Wohnung fasziniert ist. Ich habe deutlich gemerkt, dass die beiden Jungs bestrebt waren, das doch negativ behaftete Bild der Neustadt, zumindest auf mich bezogen, umzustimmen. Was ihnen wahrlich gelungen ist. Am Ende „schenkte“ mir Carsten noch diese Fahrradlampe. Ein Teil, das er nicht mehr verarbeiten kann, an dem aber doch so viel Geschichte hängt , die herausgetragen werden soll, „um das Viertel einmal anders zu beleuchten.“

Autor Alexandra Süß Links http://ddr-fahrradwiki.bplaced.net/index.php?title=FER_Scheinwerfer Fotos Sarah Pieper Alexandra Süß

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Glasschälchen 100 × 220 × 220 mm Glas Fundort: Neustädter Markt 8 gefunden am: 13.04.2012

In Blau, Grün und Orange verzieren feine Linien das zerbrechliche Glasgefäß - eine winzige Schale, zu zierlich für Hände von unserer Größe.

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Verspätete Freude versehentlich verloren Unweit des alten Schulhauses am Neustädter Markt, auf Seiten der HeiligKreuz-Kirche im Gesträuch, versteckt es sich unter allerlei Schmutz und Blättern. Zur Hälfte gefüllt mit Erde und Staub scheint es fast so, als hätte man es verloren, verlassen oder gar ausrangiert. In dieser tristen Umgebung deutet nichts mehr auf seinen ursprünglichen Wert, seine einst so schmückende Funktion hin. Es hat seinen Platz auf dem Tisch abgetreten; ist ihm offensichtlich irgendwann abhanden gekommen. Der Fundort, die Heilig-Kreuz-Kirche Leipzig

Leipzig Neustadt, 1878: Mit erhobenem Haupt und geschwollener Brust weiht Oberlehrer Schütz das heutige Hauptgebäude der Wilhelm-Wander-Schule am 31. Oktober als Schulgebäude des „Neuen Anbaus“ von Schönefeld ein. Nach jahrelanger Diskussion über zu volle Klassen und Platzmangel konnte man sich schlussendlich zu einem Neubau durchringen. Dieser war aufgrund der ansteigenden Bevölkerungszahlen des Stadtbezirks Neustadt schon seit Längerem dringend notwendig gewesen und wird nun, nach einer Zeit endlosen Wartens und zahlreichen Übergangslösungen, feierlich zelebriert. Der Neustädter-Markt und die Schulze-Delitzsch-Straße erstrahlen in neuem Glanz: „Stolz [ziehen] die Klassen […] aus dem alten Haus ins neue. Nachdem die Kinder bisher in alten, unzulänglichen […] Räumen untergebracht worden waren, [betreten] sie das große und schöne Gebäude mit einer gewissen Ehrfurcht […].“ (Wohnbezirksausschuss 102, 31)

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Aus jener Zeit könnte ebenso das Glasschälchen stammen … Für gewöhnlich als Dekorationsobjekt einer Puppenstube verwendet, fand es sich eines Vormittags auf dem Weg zur Schule in der Manteltasche seiner Besitzerin wieder, zusammen mit einer kleinen Puppe und weiteren Utensilien. Wilhelm-Wander-Schule

Zu kurz war die Zeit zum Spielen gewesen, nicht lang genug der vorige Abend, an dem der Vater so erfreut nach Hause gekommen und sein erstes Gehalt mitgebracht hatte. Denn die letzten Monate waren nicht einfach gewesen für die Familie. Nachdem sie in Leipzig angekommen war, galt es zunächst einmal eine geeignete Wohnung und Arbeit zu finden. Um die neue Lebensgrundlage zu stabilisieren wurde sehr sparsam gelebt. Essen, Kleidung und natürlich auch Spielwaren fielen daher nur sehr dürftig aus. Nicht einmal für ein Geburtstagsgeschenk war in den ersten Wochen Geld der Ersparnisse übrig geblieben. So wurde ein Versprechen ausgesprochen, welches eine kleine Überraschung mit dem ersten verdienten Geld verhieß. Schon bald war eine Stelle als Schienenarbeiter bei der Bahn gefunden. Arbeit gab es in jener Zeit in diesem Bereich viel. War diese auch oftmals schwer und lang, versprach sie jedoch gutes Geld um die Familie versorgen zu können. Daher konnte der Vater nun endlich seinem Ehrenwort nachkommen: ein filigranes Geschirrset aus 4 Tellern, 4 Tassen und einem Schälchen, geschmückt mit farbigen Linien, gerade passend für den winzigen Tisch der alten Puppenstube seiner Tochter. Diese war außer sich vor Freude über das verspätete Geschenk und versank sogleich mit den gläsernen Schätzen im Spiel. Nur verging die Zeit an diesem Abend leider viel zu schnell. Wenige Stunden später mahnte die Mutter bereits zur Nachtruhe. So wurden die neuen Kostbarkeiten kurzerhand in die Tasche gesteckt, um am nächsten Tag beider Schuleinweihung dabei zu sein und in der Pause den Mitschülern

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vorgeführt zu werden. Das in all dem Trubel der Feierlichkeiten die neuen Spielsachen allerdings allzu schnell wieder verloren gingen, wurde erst am späten Nachmittag traurig zur Kenntnis genommen …

Autor Pauline Thiele Quellen Wohnbezirksausschuss 102 (Hrsg.): Geschichte der Wohngebiete LeipzigNeustadt und Leipzig-Neuschönefeld, 1989, 24-31 Wilhelm-Wander-Schule, Leipzig Fotos Pauline Thiele

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Glühbirne 103 × 580 × 580 mm Glas, Metall Fundort: Hinterhof in der Ludwigstraße 77 gefunden am: 19.04.2012

Zerbrechlich, grazil, rostig, in der Erde, zwischen Kohlestaub und Kieseln, unter freiem Himmel verborgen. Ungeschützt funkelt sie und verrät sich dadurch ihrer Finderin. Eine Glühbirne der Firma NARVA, einst dafür geschaffen ein helles Licht zu verströmen und dabei leicht zu erhitzen.

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Die gläserne Narva Im Jahr 1967 mit einem Gewicht von 36 Gramm und einer Größe von 10,8 Zentimeter ohne Komplikationen geboren. Ausgestattet mit einer Leistung von 40 Watt. Drei Stunden später begab sie sich, sorgfältig verpackt und damit gegen starke Erschütterungen geschützt, versteckt in einer Pappschachtel auf die Reise vom Glühlampenbetrieb Plauen nach Leipzig. Im dortigen Centrum Warenhaus fand die gläserne Narva ihren Platz zwischen Schwestern ihrer Art. Diese waren mit mehr als bauchigen Wölbungen ausgestattet und befanden sich ebenso wie sie, präzise in einem eigens für ihre Gattung ausgestelltem Regal, aufgereiht. Nach nur wenigen Tagen geriet sie in die behutsamen Hände des Bäckermeister Fleischhammer Junior. Er schätzte sie nicht nur wegen ihres praktischen Nutzens. Ihn lockte das warme Licht, welches sie zu verströmen versprach. Just Zuhause in der Ludwigstraße 77 angekommen, drehte er sie in einen schlichten, nahezu gewöhnlichen Lampenschirm im Flur zur Backstube. Ihre zarten Glühfäden begannen zu leuchten, wenn der noch Backstube Ludwigstraße 77

müde Bäckermeister allmorgendlich um drei Uhr den breiten schwarzen Kippschalter umklappte. Der kurze schmale Gang erschien in einem warmen Licht und ließ im Halbschatten die Backstube erkennen. Die ersten Brotleibe und Brötchen wurden geformt, gebacken und in Körbe gefüllt. Auf einem Rollwagen in den Flur befördert, verweilten sie dort, bereit um in den Verkaufsraum im Haupthaus gefahren zu werden. Ein heller Lichtstrahl lenkte den Fokus auf die Backwaren. Die schlichte, fast kahl wirkende Atmosphäre, welche den Durchgang zwischen Hof und Backstube dominierte, wurde durch das facettenreiche Lichtspiel feinfühlig erobert. Im Zusammenspiel mit dem Lampenschirm aus farbigem Glas schuf die gläserne Narva Farbflächen, welche die gekalkten Wände zierten und Behaglichkeit aufleben ließen. Unserer Protagonistin kann ein beobachtender, zurückhaltender Charme zugestanden werden. Uns begegnet eine Glühbirne, die den Betrachter mit ihrem wohl geformten, zerbrechlichen Körper aus Glas, der seine Umwelt reflektiert und erleuchtet, verführt. Im Inneren mit einem festen Glaskern, zarten

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Drähten und feinsten Glühstäben ausgestattet, die ihre Eleganz unterstreichen. Ein Schatz unter den Glühbirnen und unverzichtbar für jeden Ästhet, der das künstlich geschaffene Licht und seine Farbabstufungen von einem kühlen weißblauen Schein bis zu einer warmen Helligkeit schätzt.

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Autor Anna-Maria Sever Literatur Fernsprech- und Branchenb端cher der Stadt Leipzig 1941 und 1960/61 (Stadtarchiv Leipzig) Links http://de.wikipedia.org/wiki/Narva_%28Leuchtmittel%29 http://de.wikipedia.org/wiki/Centrum_Warenhaus Fotos Anna-Maria Sever

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Gusseisernes Objekt 125 × 95 × 10 mm Gusseisen Fundort: Bussestraße 5a gefunden am: 24.04.2012

Ein gegossenes Stück Metall: alt und rostig, ehemals kreisförmig, heute gebrochen. Unbekannt in seiner Funktion, gibt es Anlass zu einer ganzen Reihe an Fragen und Spekulationen.

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Ein Dialog Ist schon klar: man redet nicht mit scheinbar leblosen Dingen und man spricht in diesem Zusammenhang eigentlich auch nicht von einem Dialog – aber sei es drum. Heute spreche ich mit dir, einem gegossenen Stück Metall. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich lächerlich mache, bezeichne ich es als einen Dialog. Ich erhebe Mutmaßungen und du gibst den Anlass dazu. Du sprichst zu mir allein durch deine physische Präsenz – das muss man erstmal schaffen! Du warst mal rund oder besser gesagt kreisförmig. Das kann man noch erkennen. Runde Formen sprechen mich an, sie sind beruhigend. Ich würde sogar so weit gehen einer runden Form blind zu vertrauen. Ja, ich bin mir sicher, du hast mal etwas dargestellt, dem man vertrauen konnte. Vielleicht warst du Teil eines alten Ofens, verantwortlich für Wärme. Vielleicht warst du aber auch Teil eines Wasserrohrs und hast die Wasserversorgung der Bewohner deines Hauses gesichert. Ich weiß, diese Versuche, dich einzuordnen, haben wenig Substanz und eigentlich möchte ich auch gar nicht so genau wissen, welche Funktion dir damals zugeschrieben wurde. Deine Undefinierbarkeit macht dich interessant! Vielleicht bleibe ich zunächst bei der Beschreibung deiner äußeren Erscheinung: Du bist nicht nur kreisförmig, sondern du bist auch sehr schlank, man könnte sagen beinahe platt. Heute bist du auch nicht mehr richtig rund, sondern du hast Ecken und Kanten – Charakter! (Du merkst, ich bin dir wohl gesinnt. Ich versuche, all deine Eigenheiten positiv zu beschreiben). Du bist außerdem stabil – oder warst es mal – das Wetter hat dir ganz schön zugesetzt. Du rostest, hast Risse und Brüche. Auf der einen Seite warst du mal glatt, zwar mit einer erkennbaren Struktur – wahrscheinlich eine Eigenheit deines Materials – aber ohne Erhebungen. Auf der anderen Seite hast du ein richtiges Profil, eines mit System. Das hat man dir verpasst, du hast es dir nicht über die Jahre angeeignet. Ich vermute, du bist alt. Nein, ich weiß es! Das sieht man dir an. Dein Dasein war bestimmt nicht immer einfach, du wurdest gebraucht, hattest wenig Zeit für Pausen. Und dann hat man dich entrissen: aus deinem gewohnten Umfeld, vermutlich nicht ohne deinen Protest. Du hast dich gewehrt, du hast dich festgehalten, mit aller Kraft. Aber dein Widerstand hat nichts genützt, du warst vielleicht nicht stark genug. Oder zu leise. Und dann bist du zerbrochen. Genauso wie alles andere um dich herum. Du musstest weichen, man hat dich nicht mehr gebraucht. Man hat dich lieblos in den Hinterhof geschafft und auf einen Haufen geworfen. Dein neues zu Hause: ein Haufen aus Erde und anderen nicht mehr gebrauchten Dingen unter einer Kastanie. Bedeckt mit Blüten. Es hätte dich schlimmer treffen können.

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Hier habe ich dich gefunden. Ich war auf der Suche, das war mein Auftrag. Es war das Haus, aus dem du stammst, das mich zu dir geführt hat. Es ist ein interessantes Haus: alt, düster, mit Erkern. Es steht an einer Ecke. Es ist nicht besonders hoch, es zählt vier Stockwerke, aber in der Fläche ist es groß. Es ist ein Haus mit Geschichte, das kann man sehen. Und man kann es nachlesen. Ganz in der Nähe befinden sich Bahngleise. Die Straße, in der es steht, wurde in der Zeit von 1839 bis 1905 erbaut. Ich könnte wetten, dass du genauso alt bist. Du warst bestimmt von Anfang an dabei! Sie ist benannt nach einem Bevollmächtigten und Schöpfer der ersten Betriebseinrichtung: der LeipzigDresdener-Eisenbahn-Compagnie. Das klingt wichtig, oder? 1835 wurde diese Kompanie als Aktiengesellschaft gegründet und 1839 wurde die Strecke Leipzig-Dresden freigegeben. 1876 wurde diese von Bürgern initiierte Privatbahn zum Besitz der Königlich Sächsischen Staatseisenbahn. Heute gibt es das Eisenbahndenkmal, das an damals erinnern soll. Aber ich schweife ab. Kannst Du dich noch an 1949 erinnern? Als Kurt Hentschel, der Lokführer, in deinem Haus lebte? Ob er wohl auch oft die Strecke zwischen Leipzig und Dresden gefahren ist? Kennst du noch Walter Schmidt, den Werkzeugschleifer? Oder den Malermeister Paul Lewantowski? Walter Kistler, der alte Rentner, ist mittlerweile schon tot. Hanni Lindner? War sie eine gute Ehefrau oder war sie alleinstehend? War sie schön? Und war sie mit Elise Benndorf, der Witwe befreundet? Haben sie manchmal zusammen Kaffe getrunken? Wie war die Zeit für dich, als alle ausgezogen sind? Einige von den Bewohnern sind mit Sicherheit verstorben. Wann war das, als das Haus zum ersten Mal nicht mehr bewohnt war? Bestimmt war es eine lange Zeit ganz still im Haus. Das Einzige, was zu hören war, war das Ächzen und Knarren, das Seufzen und Stöhnen von Material. Welches Geräusch hast Du gemacht? Und dann kam sie, die Familie Assisi. Gehört ihnen der Wagen mit dem irischen Kennzeichen, der da im Hinterhof im Gras steht und festgewachsen zu sein scheint? Das sind sie, die neuen Besitzer, die alles Alte aus dem Haus herausholen und in den Hinterhof werfen. Es tut mir leid, dass deine Geschichte hier so jäh endet, dass Du nun nicht mehr Teil dieses Hauses bist. Aber einen kleinen Trost habe ich für dich: Das Haus – dein Haus – gehört zu den wertvollen Häusern Leipzigs, die erhalten bleiben sollen. Es steht auf einer „Liste von städtebaulich und denkmalpflegerisch unverzichtbaren Gebäuden“ und wurde dort 2009 als „stark gefährdet“ eingestuft. Es ist gut, dass die Familie Assisi nun dort ist und sich um das Haus kümmert, auch wenn es bedeutet, dass viele alte Dinge weichen und Platz für den Fortgang der Geschichte machen müssen. Ich frage mich, ob sie alles alleine machen. Und ich frage mich, wie das ist, als Familie ein komplettes Haus zu bewohnen. Jeder hat ein Stockwerk mit seinem eigenen Klingelschild! Ob sie wohl glücklich sind?

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Autor Sophia Brüning Literatur Geschichte der Wohngebiete Leipzig-Neustadt u. Leipzig-Neuschönefeld, 1989 Hrsg. Wohnbezirksausschuss Links Eisenbahndenkmal Leipzig: http://www.leipzig-lexikon.de/DENKMAL/eisenb.htm Leipzig-Dresdner-Eisenbahn-Compagnie: http://de.wikipedia.org/wiki/Leipzig-Dresdner_Eisenbahn-Compagnie Historisches Adressbuch: http://www.adressbuecher.genealogy.net/entry/book/292?offset=31625&ma x=25&sort=address&order=asc Stadtentwicklung Leipzig: http://leipzig.softwiki.de/index.php5/Stadtentwicklung Stadtforum Leipzig - Häuserliste kommentiert: http://www.stadtforum-leipzig.de/fileadmin/user_upload/PDFs/Stadtforum_ Haeuserliste_kommentiert_Stand_04.05.2009.pdf Fotos Sophia Brüning

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Haar 75 × 35 × 10mm Haar, Metall, Kunststoff, Fundort: am: 13.05.2012

Gefunden in der Neustadt, geben sie als Teil dieses Netzwerkes Hinweis auf die Geschehnisse und Abläufe, die diesem Ort zu Grunde liegen. Doch genauso, wie sie Teil dieses Stadtteils sind, stellen sie ein eigenes Netzwerk dar. Ein Netzwerk aus Haaren und Materie, das nun als Objekt und Projektionsfläche präsentiert wird.

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Ihrer Funktion beraubt, erscheinen sie als der Rest, der Abfall, das Produkt eines Prozesses der ewig und trivial voranschreitet. Wir schaffen. Es entsteht. Wir schaffen weg. Wir schaffen neu. All das, was nicht mehr stark genug, nicht sanft genug, und nicht mehr jung genug ist, wird ihrer letzten Verwurzelung entrissen, um sich schließlich hier vor uns zu sammeln und erneut zu vernetzen. Doch das Netz bleibt ohne Funktion. Es bleibt ohne Sinn. Warum? In den Augen der Meisten ist hier das Ende. Was könnten Reste schon für eine Funktion haben? Sind sie nicht die Anderen, die Verstoßenen und Abgesonderten, welche geschaffen wurde, um unserer Gesellschaft in ewiger Treue zur Hand zu gehen. Da ist kein Platz für die Schwächen und auch kein Platz für einen neuen Sinn. Du bist, was du bist. Und wirst du diesem Sein entrissen, bist du nichts als der Schatten dessen, was du einmal warst. So liegen sie nun vor uns. Als Projektionsfläche für all das, was nicht mehr unseren Ästhetik- , Hygiene-, und Gesellschaftsstandards entspricht, lösen Sie wohl bei den meisten ein Gefühl von Ekel und Unbehagen aus. Schließlich sind sie ja nicht mehr Teil von etwas Größerem – kein Teil von Bedeutung – nicht mehr Teil dessen, was ihnen einst ihre Funktion gab. Sie waren Zeichen von Identität, Ausdrucksmittel und Hinweis auf Wohlbefinden und Gesundheit ihres Trägers. Wurden getrocknet, gekämmt, geformt, stabilisiert, geschnitten, gelegt, entrissen, verlängert, gefärbt und verbrannt. In ständiger Veränderung wuchsen sie im Wissen, dass sie wahrscheinlich nie einen bestimmten Punkt überschreiten werden. Sie waren Wenige, als unsere Zeit begann und wurden mehr, je mehr Zeit verging. Sie werden verschwinden, wenn auch unsere Zeit zu Ende geht. Dennoch ist uns das, was wir sehen fremd. Uneindeutig und fremd, denn nur wer oder was teilnimmt, nimmt eine Funktion und eine Rolle ein, die das Sein in diesem Netzwerk bestimmt. Wenn das nicht geht. Wenn wir das nicht wollen, dann sind wir so, wie das, was wir hier sehen oder auch nur sehen.

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Autor Christopher Utpadel Fotos Christopher Utpadel

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Handytastatur 65 × 38 × 7 mm Kunststoff Fundort: Mariannenstraße gefunden am: 18.04.2012

Bestandteil eines Mobilfunktelefons (umgangssprachlich auch »Handy« genannt). Hilfsmittel zur Bedienung der Anwendungen, zum Wählen der Telefonnummer und zum Schreiben von SMS.

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Vor rund 20 Jahren wurde in Deutschland der digitale Mobilfunk flächendeckend eingerichtet, 1983 brachte Motorola das erste kommerzielle Mobiltelefon auf den Markt, 1992 stellte Motorola das erste Handy mit dem MobilfunkStandard der sogenannten zweiten Generation vor. Heute gibt es in Deutschland mehr Mobiltelefone als Einwohner. Die jährlichen Verkaufszahlen bewegen sich seit 2007 im zehnstelligen Bereich. 2011 wurden weltweit 1.774.564.100 Mobilfunkgeräte… Mittwoch Nachmittag. Ich laufe schon seit zwei Stunden herum. Mein Blick fällt auf den Gehweg vor mir. Eine Handytastatur. Kaputte Kommunikation. Wie kommt das Ding hier hin? Ich hebe sie auf. Überall Hundekot und der sonstige Unrat auf dem Weg. Völlig uninteressant. Ich nehm’ sie mal mit. Allein auf der Eisenbahnstraße, an der sich Verkaufsläden aneinanderreihen, gibt es vier An- und Verkaufsstellen, die Mobilfunktelefone in allen denkbaren Variationen und Preisklassen anbieten. Ge- und verkauft werden alle Modelle, denn nicht nur die neusten Technologien haben hier ihren Markt. Natürlich bevorzugen junge Menschen internetfähige Handys mit integrierten Kameras und guter Bildschirmauflösung, aber vielen Handynutzern ist es nicht so wichtig, was das Gerät alles bietet, solange es die Grundfunktionen erfüllt: anrufen und angerufen werden. Du gehst in den Laden, die Tür knarrt ein wenig beim Schließen. Hinter der Theke steht ein Typ mit Halstuch und zurückgegelten Haaren. Er ist in ein Gespräch vertieft, in einer Sprache, die du nicht verstehst. Erst als du dich direkt vor ihn stellst sieht er auf und grüßt dich freundlich. Du erwiderst den Gruß. Die Wände sind bis unter die Decke mit Regalen zugestellt in denen sich die Waren drängen. Das Meiste davon sind gebrauchte Elektrogeräte und Haushaltswaren. Handys tummeln sich in der Auslage unter der Glasplatte. Keine Selbstbedienung. Viele sind verkratzt und sagen dir dass sie schon mal benutzt wurden. Aber sie funktionieren noch. Benutzt. Ihr alter Benutzer hat sie hier abgeliefert. Ausgeliefert! Es fängt an zu regnen. Heftiger. Der Verkäufer sieht aus dem Schaufenster und murmelt »Jetzt fängt es an.«. Du ziehst deine Kapuze über und stürzt aus dem Laden.

Autor Lisa Breyer Links http://de.wikipedia.org/wiki/Mobiltelefon Fotos Lisa Breyer

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Holzstück 35 × 20 × 20 mm Holz Fundort: Mariannenstraße 3 gefunden am: 18.04.2012

Das Holzstück wurde in der Mariannenstraße gefunden. Es handelt sich um ein abgesägtes Stück von einem Holzstab, welches mit weißen Farbflecken bedeckt ist. An beiden Enden hat es ein Loch und an der einen Seite befindet sich ein verbogener Nagel. Der Fundort des Holzstückes befindet sich auf dem ehemaligen Firmengelände vom Sägewerk „Baeßler & Bomnitz. Folgender Tagebucheintrag aus dem 19. Jahrhundert berichtet uns von Neustadt.

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Folgender Tagebucheintrag von Hans Friedrich aus dem 19. Jahrhundert berichtet uns von Neustadt und dem Sägewerk: 25. Mai 1888 Liebes Tagebuch, heute ist mein 38. Geburtstag. Ich bin dankbar für alles was ich habe. Meine liebe Frau Eva, die drei wunderbaren Kinder Karl, Anna und Richard und die kleine Wohnung in Leipzig, in der wir wohnen. Uns geht es gut. Dies ist meiner Arbeit zu verdanken. Acht Jahre bin ich nun schon beim Holzsägewerk in Leipzig Neustadt angestellt. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Den Betrieb gibt es schon seit 1840, las ich neulich in der Zeitung. Die Industrialisierung brachte das Geschäft zum Aufsteigen. Den Brand vor 32 Jahren merkt man dem Betrieb nicht mehr an. Heute ist es erfolgreicher als je zuvor. Ich bin sehr stolz Arbeiter dort zu sein, nicht nur, weil das Sägewerk die erste Dampfschneidemühle im Königreich Sachsen hatte, sondern weil ich gut verdiene. Die Arbeit ist zwar hart und ich arbeite sehr viel. Abends sagt meine Frau, dass ich nach Holz rieche. Sie lacht dann immer und nennt mich scherzhaft ihren kleinen Waldmenschen. Der Geruch stört mich nicht, auch die Arbeit mit Holz, Bäumen und Maschinen macht mir Freude. Ich mache es in der Tat gern. Mittlerweile sind wir 112 Arbeiter. Das stand gestern an einem Plakat in der Mittagsküche. Ich denke der Betrieb macht einen Jahresumsatz von einer Million Reichsmark. Da können sich Preußens Sägewerke eine Scheibe abschneiden- welch gewitztes Wortspiel. Unglaublich wie sehr hier alles aufblüht. Doch genug davon. Auch wenn heute mein Geburtstag ist, muss ich zur Arbeit gehen. Der Weg dauert keine fünf Minuten zu Fuß. Neustadt ist wunderbar- Arbeit und Wohnungen vereint. Ich kann verstehen, wieso so viele Menschen nach Neustadt ziehen wollen. In 12 Stunden werde ich zurück zu Hause sein und wir werden alle zusammen noch ein bisschen feiern. Hans

Autor Teresa Geißler Literatur http://www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/feuer+saege.html http://www.albert-gieseler.de/dampf_de/firmen5/firmadet53986.shtml Fotos Teresa Geißler

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Kachelofenecke 50,5 x 40,5 x 40,4 cm Keramik, gr端n lasiert Fundort: Lutherplatz gefunden am 20. April 2012

Abgebrochene Ecke eines alten Kachelofens. Aus Keramik mit Teilweise noch gr端nlicher Lasur. An zwei Seiten noch zu erkennen: Florale Fragmente. Abgebrochene, untere Seite erinnert nun an grauen Stein. Halb verdeckt von Erde am Lutherplatz in Leipzigs Neustadt gefunden.

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Der Himmel ist grau. Ich laufe durch die Straßen. Lasse langsam die Häuser und Straßenschilder an mir vorbei ziehen. Habe eigentlich kein Ziel. Nur vorm Regen wieder zuhause zu sein. Laufe. Ludwigstraße. Hedwigstraße. Mariannenstraße. Neustädter Straße. Meißener Straße. Sehe hierhin und dorthin. Bin auf der Suche. Habe schon kleine, ausgeblichene Puzzleteile gefunden. Mache nun eine Pause. Und stöbere dann durchs Gebüsch. Entdecke dort, halb von Erde verdeckt, eine alte Kachelecke. Noch erkennbar die grünliche Lasur und die Spitze eines eingearbeiteten Blattes. Wo kommt die wohl her? Hebe die Kachelecke auf, betrachte sie. Nehme sie mit. Schaffe es noch vorm Regen nach hause. Die Sonne scheint. Bin wieder unterwegs und laufe durch die Straßen. Schaue hier und da in einen Laden. Lasse mich dann irgendwann vor einer kleinen Bäckerei nieder und genieße leckere Baklava. Die Bahn fährt vorbei, Autos, Fahrräder, Fußgänger. Ich beobachte. Neben mir am Tisch sitzt ein älterer Mann und genießt ebenfalls Baklava. Mit Kaffee. „Schöner Tag heute.“ Bemerkt er und sieht mich an. „Wunderbar“ erwidere ich, nutze die Gelegenheit und schon sind wir im Gespräch. Ich frage ihn, ob er hier in der Leipziger Neustadt lebt und wenn ja, seit wann. Ich erzähle ihm von unserem Projekt an der Uni, dass wir uns mit der Neustadt beschäftigen, eine Geschichte über etwas Gefundenes schreiben sollen und und und. Der Mann hebt die Hände. Er lacht. „Eins nach dem anderen, junge Dame!“ Er beginnt ein bisschen zu erzählen, von seinen Erinnerungen an die Neustadt vor über 40 Jahren. Es war 1965, als er mit seiner Frau hierher kam. An was er sich erinnere? Das die Toiletten hinterm Haus, die Zimmer dafür aber günstig waren. Sie seien damals in die Meißner Straße gezogen und er hoffte, in Leipzig Arbeit zu finden. Wie die meisten Familien in der Neustadt, verdingte er ihren Lebensunterhalt als Gast- und Gelegenheitsarbeiter. Der Mann hält inne, in Gedanken versunken. Da erzähle ich ihm von meinem Fundstück, der kleinen Ecke von einem Kachelofen. „Jaa, die Kachelöfen! Mit denen wird ja auch heute noch viel geheizt.“ antwortet er darauf. Und dann erzählt er mir vom Winter 1969, an den könne er sich besonders gut erinnern. Da war sein Sohn gerade ein paar Monate alt. Und draußen waren es -21°C! Einer der kältesten Winter sei das gewesen. „Da konnte man kaum atmen draußen. Bitterkalt.“ Er schüttelt den Kopf, als er

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daran denkt. „Ich weiß noch, wie ich raus bin zum Schuppen, Kohle holen, damit der Ofen am brennen bleibt. Doch im Zimmer hat es immer irgendwo gezogen. Da wurde es kaum wärmer. “ Ich kann mir die Kälte nicht vorstellen. In zugigen Zimmern, ohne Heizung. Bei -21°C. „Und an einem Tag, das muss irgendwann im Januar gewesen sein, da war es so kalt, dass es einfach nicht warm wurde bei uns. Wir hatten ja nur so einen kleinen Ofen. Jaa … und da sind wir dann in die Neustädter Straße 20. Das Haus steht schon lange nicht mehr. Das wurde abgerissen, nachdem es halb eingestürzt war. Doch damals wohnten Freunde von uns dort und die hatten einen großen Kamin. Da sind wir dann hin, durch die Kälte. Und als wir da ankamen, war das Zimmer schon voller Leute! Das war was. Alle zusammen in dem Zimmer mit dem großen Kachelofen. Wenigstens war es aber dann warm. Und das Beste war, dass jeder noch irgendetwas eingepackt hatte: Brot, ein Stück Käse, Milch… “ Er erzählt von einem kleinen Picknick in einem einigermaßen geheizten Raum. Und von der Kälte, welche die Menschen zusammen gebracht hat. „Daran habe ich schon lange nicht mehr gedacht.“ bemerkt er und schlürft seinen Kaffee. Ich bedanke mich bei ihm für seine Erinnerungen bevor ich mich wieder auf den Weg mache. Als ich nun durch die Straßen laufen, entstehen in meinem Kopf noch einmal Bilder des eben Gehörten. Die Sonne scheint. Ich mache mich auf den Weg nach hause.

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Autor Zarah Jung Links http://www.langfristwetter.com http://www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf.html Foto Zarah Jung

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Kassette 19,5 × 12 × 7 cm Kunststoff Fundort: Schulhof Wilhelm Wanderschule , Leipzig gefunden am: 17.04.2012

In einer aufregenden Rettungsaktion konnte die Kassette, als Zeugnis unglaublicher Geschichten vor den stampfenden Füßen, springenden Bällen und rollenden Fahrrädern der SchülerInnen auf dem Spielplatz hinter der Wilhelm Wanderschule geborgen werden.

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Die Kassette Eine alte Kassette. Sidar Beritan kann ich auf ihr lesen. Ich schlage nach- ein türkischer Sänger. Doch warum ist die Kassette zerstört? Wer hat sie zerbrochen und in all ihren Einzelteilen auf dem Schulhof liegen lassen? Wem gehört sie? War sie einmal der Besitz eines Schülers oder einer Schülerin mit türkischem Migrationshintergrund? Doch warum liegt das Eigentum nun unbeachtet auf dem Spielplatz? Sehr schnell formen sich die Fragen zu einem klaren Bild: Der kleine türkische Junge fiel den Verspottungen seiner Mitschüler zum Opfer, die ihn wahrscheinlich aufgrund seiner Herkunft, seiner Kultur oder gerade wegen seines Musikgeschmacks belächelten und erniedrigten. Der Interessenkonflikt führte zu einer Auseinandersetzung, schlimmer noch, zu einer Schlägerei, wenn man den sichtbaren Schaden betrachtet. Entsprechend dem Klischee geht man davon aus, dass die Ausländer als Randgruppenerscheinung als die Verlierer aus dem Kampf gingen. Die Kluft zwischen Deutschen und MigrantInnen besteht also noch immer. Ich fand die Kassette an der Wilhelm Wanderschule Leipzig Neustadt. Bekannt ist das Viertel hinsichtlich seines hohen baulichen, wirtschaftlichen und sozialen Handlungsbedarfs, aufgrund des hohen Ausländeranteils und zahlreicher Fast Food Restaurants. Hier konzentrieren sich nach wie vor soziale Probleme. Mit 60% SchülerInnen mit Migrationshintergrund wird aber der deutsche Anteil an der Grundschule zur Minderheit. Anlass, anzunehmen, dass ein ausländisches Kind nicht genug Verbündete finden wird, um sich gegen die Einheimischen zu währen, ist demnach nicht gegeben. Außerdem gilt die Wilhelm Wanderschule als Stützschule des Förderzentrums für Erziehungshilfe und ist daher bemüht, die Persönlichkeitsentwicklung der SchülerInnen zu fördern. Aktive Mitbestimmung und Förderung der Eigeninitiative bekommen einen besonderen Stellenwert, um das Schul- und Klassenklima positiv zu entwickeln. Es wird versucht individuelle Probleme, Verhaltensauffälligkeiten in der Schule und auf dem Schulhof durch verschiedene Projekte, wie Schülerpatenschaften, Konflikt- und Beratungsgespräche zu lösen bzw. zu unterbinden. Seit Februar ist eine Schulsozialarbeiterin an der Grundschule tätig. Ihr Anliegen ist es, stärker mit den SchülerInnen in Kontakt zu treten, Eltern und Kinder bei Problemen zu beraten und über die Streitschlichterausbildung längerfristig das Schulklima zu verbessern. Voraussetzungen für einen friedlicheren Umgang miteinander sind folglich geschaffen. Autor Theresa, Lehnert Links http://www.leisa-leipzig.de/uploads/media/Interessenbekundung_SSA_Innerer_Osten.pdf Fotos Theresa, Lehnert

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Kinderbildnerei 140 × 180 × 70 mm Papier Fundort: Meißner Straße/ Ecke Neustädter Straße gefunden am: 12.04.2012

Kind. Buntstifte. Rot. Blau. Schwarz. Papier. Kinderzeichnung. Zerknüllt. Entsorgt. Wiederentdeckt.

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Ein Fundstück aus der Leipziger Neustadt Da lag es – Zunächst als bloßen zerknüllten Zettel identifiziert, stellte sich bei näherer Betrachtung dieses in der Meißner Straße (Ecke Neustädter Straße) in einem Kellerfenster verborgenen Fundstücks heraus, dass es sich um eine Kinderzeichnung handelte. Mit Buntstiften zeichnete das Kind eine Eisenbahn auf einem Gleis. Fundort und Motiv der Zeichnung ließen mich Nachforschungen über die Neustadt, ein Stadtteil im Leipziger Osten und über deren Historie anstellen. Nahe dem Fundort befindet sich die Eisenbahnstraße. Eine Schaubox am Fachgeschäft für Modelleisenbahnen (Eisenbahnstraße 46) klärte als Bestandteil des Projektes «Entdecke die Eisenbahnstraße» über die historische Leipzig-Dresdner-Eisenbahnstrecke, welche über die heutige Geschäftsstraße verlief, auf. Der Kramermeister C. G. Tenner hatte schon vor 1830 die Idee einer Eisenbahnstrecke, welche Leipzig mit Strehla (an der Elbe) verbinden sollte. Diese bekam allerdings erst Zuspruch, nachdem Friedrich List (1789-1846) im Jahr 1833 Pläne für ein deutsches Eisenbahnsystem vorlegte, wobei Leipzig die zentrale Rolle eines Knotenpunktes übernehmen sollte. Noch im selben Jahr stellte das neu gegründete Eisenbahn-Comitée einen Antrag zum Bau einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden an den ersten sächsischen Landtag in Dresden. Im Winter 1835 begann der Landerwerb, der erste Spatenstich folgte im März 1836. Die Bauleitung des gesamten Projektes hatte der sächsische Oberwasserbaudirektor Karl Theodor Kunz (1791–1863) inne. Die Stadträte von Strehla lehnten allerdings den Eisenbahnbau ab. Dadurch wurde die Strecke im südlicheren Riesa über die Elbe geführt. Die Inbetriebnahme der Strecke erfolgte in mehreren Abschnitten. Am 7. April 1839 rollte über diese erste Ferneisenbahnlinie und zweite Bahnlinie Deutschlands der erste Zug nach Dresden. Nach dem darauf folgenden Bau des zweiten Streckengleises wurde die Strecke bis 1884 im Linksverkehr nach englischem Vorbild befahren. 1879 wurde sie in ihr heutiges Gleisbett verlegt. Manchmal erzählen uns Kinderbilder von wahren Begebenheiten ...

Autor Linda Böhm Literatur http://www.die-eisenbahnstrasse.de/ http://www.leipzig-lexikon.de/ Fotos Linda Böhm

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Klebstofftube 85 × 45 × 10 mm Aluminium, Kunststoff Fundort: Grünfläche, Meißner Straße gefunden am: 21.04.2012

Die ausgedrückte Klebstofftube mit der verblichenen blauen Beschriftung ging in der Meißner Straße verloren. Ihr transparenter und zähflüssiger Inhalt 33ml »Duosan Rapid«, wurde benötigt, um die Folgen einer heimlichen Bruchlandung zu beseitigen.

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Heimliche Bruchlandung Mit einem Kribbeln im Bauch schlich ich mich in das Zimmer meines großen Bruders. Seit Weihnachten waren schon zwei Wochen vergangen und noch immer ließ er mich nicht einmal in die Nähe seines neuen Modellflugzeugs. „Dafür bist du noch zu klein“ meckerte er, „du machst es nur kaputt“. Dabei war er mit seinen 13 Jahren gerademal drei Jahre älter als ich! Auf dem Schrank sah ich es stehen. Der Küchenstuhl würde reichen. Ich warf noch schnell einen Blick auf die Uhr. Er würde erst in zwei Stunden nach Hause kommen. Ich reckte mich auf dem Stuhl. Mit den Fingern konnte ich das Plastik schon spüren. Ich reckte mich noch höher und tastete weiter. Die Spitze ragte über die Kante. Nur noch ein kleines Stück, dachte ich und zog das Flugzeug auf mich zu. Plötzlich ein Kippen, es fiel mit einem schepperndenGeräusch zu Boden. Mit zitternden Fingern hob ich es auf. Ein Flügel war abgebrochen, der Rest wie durch ein Wunder unversehrt. Was jetzt? Verloren stand ich neben dem Küchenstuhl. Papas Worte kamen mir in den Sinn „Duosan klebt alles!“ Wenn Papa doch nur schon zu Hause wäre! Ich wusste nicht, wo er den Kleber aufbewahrte. Aber ich könnte ja welchen kaufen! Mit dem Inhalt meines Sparschweins in der Hosentasche rannte ich von unserem Haus in der Meißner Straße los. Ich bog in die Einertstraße ein und stoppte erst, als ich an der Ecke Eisenbahnstraße vor einem der großen Schaufenster des Konsums stand. Ich spähte durch die Scheiben, konnte aber nur gestapelte Konserven und Weinflaschen entdecken. Aufgeregt ging ich in den Laden und trat vor die Verkaufstheke. „Eine Tube Duosan Rapid. Bitte.“ Unendlich langsam erschienen mir die Bewegungen der Verkäuferin, als sie im Regal nach der silbernen Tube suchte. „Das macht 72 Pfennich!“ Glücklich suchte ich die Münzen heraus und sie sortierte das Geld in ihre graue Registerkasse. 90 Jahre vorher, im Jahre 1889 als die Konsumfiliale als erste der Leipziger Neustadt eröffnet wurde, hatten die Verkäuferinnen nur Stift und Papier um die Preise für die Waren zusammen zurechnen. Der Unmut über gepanschte Waren und die immer höher steigenden Lebensmittelpreise hatten die Neustädter Anwohner damals dazu bewogen, sich für die Gründung eines „Consumverein auf Gegenseitigkeit zu Neuschönefeld und Umgebung“ einzusetzen. Die Consumvereine verfolgten das Ziel, an Mitglieder und Nichtmitglieder unverfälschte gute Ware zu einem festen Tagespreis zu verkaufen. Dazu zählten sowohl Lebensmittel, als auch Dinge für Haushalt und Gewerbe. Der Gewinn wurde teilweise als Dividende an die Mitglieder ausgezahlt. Die Nachfrage war groß und so konnte der Umsatz bereits zwischen 1890 und 1894 von 13 000 auf 100 000 Mark gesteigert werden. Die Zahl der Mitglieder des Consumvereins verdoppelte sich in dieser Zeit auf 496.

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Über viele Jahrzehnte sicherte die Verkaufsstelle in der Eisenbahnstraße die Grundversorgung der Neustädter Bürger. Heute sind die großen Schaufenster, durch die ich damals einen Blick warf mit Brettern vernagelt und mit Plakaten beklebt, die für Veranstaltungen in der Neustadt und in anderen Stadtteilen Leipzigs werben.

Aber das alles wusste ich an dem Tag meiner Bruchlandung noch nicht. Glücklich stopfte ich die Tube in die Hosentasche und machte mich eilig auf den Heimweg. Ich packte die Teile vorsichtig auf Muttis Küchentisch. Dann drückte ich etwas vom Inhalt der Tube auf einen alten Marmeladenglasdeckel, nahm ein Streichholz und bestrich sorgfältig die Bruchstellen der Flugzeugteile. Ich drückte alles vorsichtig zusammen und wartete, bis der Kleber getrocknet war. Das klappte erst nach mehreren Versuchen. Der stechende Geruch in meiner Nase erinnerte mich an die Worte der Verkäuferin: „Das ist der Universalkleber schlechthin, aber stinken tut der. Den Geruch von Aceton kriegst du nie wieder aus der Nase mein Junge.“ Ich lüftete noch schnell die Küche und lies die leere Tube in der Hosentasche verschwinden. Vielleicht würde mein Bruder ja nichts merken. Als ich am nächsten Tag in der Schule in meine Tasche griff, war die Tube verschwunden. Ich hatte sie wohl auf dem Schulweg verloren.

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Autor: Katrin, Rรถmer Links: www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf7.html Foto: Katrin, Rรถmer

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Klingelschild 150 × 170 × 30 mm Kunststoff, Metall Fundort: Ludwigstraße 77 gefunden am: 24.04.2012

Im Grunde ist nichts Besonderes an diesem alten, verdreckten Klingelschild aus einfachem Plastik, das es vermutlich tausende Male gibt. Es unterscheidet sich nur dadurch, dass es zum Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit etwas größerem wird: der Geschichte des Stadtteils, in dem es gefunden wurde.

Dieses Klingelschild lag im Haustürrahmen der Ludwigstraße 77. Es weist das Haus als fünfstöckiges Wohnhaus mit zehn Mietparteien aus. Die beiden Namensschilder Märten und S. Rähder sind die einzig verbliebenen. Das Gebäude wird zurzeit saniert, so dass es kaum mehr Spuren der ehemaligen Bewohner gibt. Jede dieser Wohnungen verfügt über eine Küche und 3 kleine Zimmer. Die Toiletten befinden sich auf halber Treppe, Badezimmer gibt es keine. Ich kenne das noch von meiner Oma. Bei ihr gab es nur eine Waschmöglichkeit, nämlich das Waschbecken. Zum Baden stellte sie eine Plastikwanne auf und erhitzte das Wasser auf dem Herd. Das änderte sich erst, als sie sich eine Duschkabine in die Küche stellte.

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Die Wohnungen in der Ludwigstraße wurden, wie viele dort, für die Arbeiter einer der umliegenden Fabriken gebaut: das Sägewerk, die Seifenfabrik, die Dampfmahlmühle oder auch die Leipzig Eisenbahn. Man benötigte schnell billigen Wohnraum, weshalb die Wohnungen vermutlich auch so klein sind. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden, waren die Wohnungen durchaus modern. Bis Anfang der 90er Jahre war die Leipziger Neustadt ein so belebter und dicht besiedelter Stadtteil, dass es schwierig war, dort eine Wohnung zu bekommen. Es gab alle lebensnotwendigen Läden, die Wilhelm - Wander Schule, die Kirche. Von einem ehemaligen Bewohner der Neustädter Straße, den ich zufällig vor der Heilig - Kreuz - Kirche traf, erfuhr ich, dass er schon 1957 ein halbes Jahr auf eine Wohnung im Kiez warten musste und solange mit seiner Frau in einem Zimmer bei deren Eltern lebte. Er arbeitete damals bei der Post im Postbahnhof und war sehr froh, dass er endlich eine Wohnung in der Nähe ergattern konnte. Meine Eltern erzählten, dass sie ihre erste gemeinsame Wohnung 1977 im Tausch bekamen. Eine alte Dame bezog die moderne Ein-Zimmer- Neubauwohnung meines Vaters in Schönefeld und meine Eltern deren gutbürgerliche Drei-Raum-Wohnung in der Ernst -Thälmann-Straße 11 (die heutige Eisenbahnstraße). Auch meine Mutter bestätigt, dass die Neustadt damals sehr belebt war. Es gab viele Geschäfte in Laufnähe: gegenüber einen Eisenwarenhandel, daneben einen Konsum, um die Ecke einen Fleischer, einen Gemüseladen, ein Wäschegeschäft und eine Eisdiele. Sie hätte alles Notwendige dort besorgen können, ohne ins Zentrum zu fahren: „Theoretisch, wenn es alles zu kaufen gegeben hätte. Aber so musste ich ab und zu ins Feinkostgeschäft am Bahnhof.“ Nach der Wende zogen viele aus den maroden Häusern der Seitenstraßen des Viertels aus und nur die blieben, die zu alt oder zu arm waren. Im Laufe der Jahre zogen Migranten und Studenten in die Gegend, da sie preiswert und gut angebunden gelegen ist. Inzwischen wurde und wird viel saniert, so wie das Haus in der Ludwigstraße.

Autor Anne Prahtel Links http://www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf.html http://www.harriet-trettin.de/leipzig_wo_ich_lebe.htm Fotos Anne Prahtel

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Kreidestück 30 × 23 × 24 mm Kreide Fundort: Spielplatz am Neustädter Markt, Leipzig gefunden am: 09.05.2012

Das Kreidestück ist blau und man kann beim näheren Betrachten Rückstände roter Kreide sehen. Kreide ist ein Symbol für die Kindheit, insbesondere für die spielerische Auseinandersetzung des Kindes mit seinen Wünschen,Träumen und der erlebten Lebenswirklichkeit.

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Ein Stückchen Kreide – ein Stückchen Kindheit Bei meinem Spaziergang durch die Leipziger Neustadt begegnen mir vor allem Kinder. Die Uhr der Heilig-Kreuz Kirche schlägt 18 Uhr. Zwei Mädchen rennen rasch nach Hause, an einer Haustür der Hedwigstraße steht ein Junge und klingelt, noch vom schnellen Rennen etwas keuchend. Hin und wieder begegnen mir Frauen mit Kopftüchern, die sich aufgeregt auf Türkisch unterhalten. Ich laufe weiter und überquere dabei den kleinen Park vor der Kirche. Zwei Frauen auf einer Parkbank unterhalten sich und werden auf mich aufmerksam, wie ich gedankenverloren an ihnen vorbeigehe. „Hey, suchst Du etwas? Können wir Dir helfen?“, rufst es plötzlich hinter mir her. Ich drehe mich um und antworte „Nein, eigentlich nicht. Naja, doch. Ein Fundstück.“

„Sowas wie einen verlorenen Ohrring?“, fragt mich eine der Frauen mit kurzen schwarzen Haaren. „Wenn den jemand verloren hätte, dann ja.“ „Hier liegt keiner. Warum brauchst Du so etwas?“ „Für ein Kunstprojekt, das da drüben im Haus stattfinden wird.“ „Ach, das ist eine ganz andere Welt.“, die beiden Frauen wünschen mir noch viel Erfolg bei meiner Suche und so endet unser kurzes Gespräch. „Das ist eine ganz andere Welt“ hallt es in meinem Kopf nach und meine Gedanken kreisen sich um diese Worte. Mein Gedankenkarussell wird durch den zarten Gesang eines Kindes und seiner Mutter unterbrochen. Es tönt der Kanon „Bruder Jakob“ in einer für mich unbekannten Sprache über

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den Spielplatz nahe der Kirche. Mutter und Kind schaukeln während sie den eingängigen Kanon vor sich hin singen. Auf einer Bank, die mit Kreidezeichnungen geschmückt wurde, liegen noch ein paar Stückchen Kreide. Ich beobachte dieses liebevolle Szenario ein paar Minuten bis ich weitergehe. Meine Füße führen mich weiter entlang der maroden Hausfassaden der Schulze-Delitzsch Straße der gesamte Straßenzug macht einen verlassenen, menschenleeren Eindruck auf mich, nur die überfüllten Mülltonnen vor den Häusern und die parkenden Autos verweisen auf die hier lebenden Menschen. Nein, kein Fundstück, nichts, was auf das Leben in der Neustadt hindeuten könntte.Wer lebt hier? Fühlen sich die Menschen wohl? Was passiert hinter den verschlossenen Türen? Die Gedanken in meinem Kopf nehmen weiter ihren Lauf und so versunken wie ich bin, lande ich plötzlich wieder auf demselben Spielplatz, wo ich zuvor noch Mutter und Kinder beim Singen beobachtet habe. Diesmal ist er menschenleer, doch die kleinen Kreidestückchen liegen noch auf der bemalten Bank. Das Kind hat seine Spuren hinterlassen, sich diese Fläche angeeignet und seinen Spielplatz markiert. Mit einem kleinen Stückchen blaue Kreide in der Hand überquere ich wieder die unbefahrene Straße, alles ist still, das Grün der Büsche vor der Kirche leuchtet satt, ich möchte wieder zu meinem Fahrrad. Auf der Parkbank vor der Kirche sitzen immer noch die beiden Frauen. Als sie mich sehen, sprechen sie mich an und fragen, ob ich gefunden hätte, was ich gesucht habe. Ich erzähle ihnen von meinem Fund und was ich damit vorhabe. Die beiden hören mir aufmerksam zu, doch merke ich, dass meine Worte sie gar nicht erreichen, da sie mit ihren Gedanken ganz woanders sind. Plötzlich platzt es aus der Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren heraus: „Du hattest bestimmt eine gute Kindheit? Deine Eltern hatten gute Berufe und haben sich für Dich interessiert.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, sprudelt es aus der anderen Frau heraus. Eine Diskussion, die doch keine wirkliche Auseinandersetzung sein kann, da beide viel zu sehr mit ihren eigenen Erlebten beschäftigt sind, beginnt. Ich sitze da, zwischen den beiden Frauen auf der Parkbank, als leise Beobachterin, als Zuhörerin. Lausche ihren Geschichten über die Schulzeit, der Jugend, der Zeit danach. Das Gespräch nimmt seinen weiteren Lauf, die Beiden erzählen mir, dass sie sich gar nicht oft sehen würden, so einmal im Jahr treffen sie sich und verbringen dann mehrere Tage miteinander in Parks und auf Partys. Irgendwann gehe sie wieder auseinander bis sich ihre Wege wieder kreuzen. Wir Drei verstummen auf der Parkbank. Alle gehen ihren Gedanken und Erinnerungen nach. Dann verabschiede ich mich, wünschen den Beiden alles Gute und gehe.

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Autor Anna Walter Fotos Anna Walter

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Namensschilder 46 x 200 x 1 mm Papier, ca 200 g/m² Fundort: Neustädter Str. 30 gefunden am: 17.05.2012

Namensschilder werden in Wohnhäusern angebracht, um zu kennzeichnen, wer auf welcher Etage, in welcher Wohnung wohnt. Dafür gibt es Tafeln, an denen diese Schilder angebracht bzw. ausgewechselt werden können.

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Hegner, Praefke, Kuczpiol, Strohschneider, Schreiber, Müller, Meier, Schulze. Aufeinander folgende Buchstaben sind Worte, Wort-gewordene Identität sind Namen. Und Namensschilder, mit dunkelblauem Filzstift geschrieben auf dickem Papier – gestrichen, ca. 200 g/m² – sind ihre Register. Sie werden fein säuberlich an einer Holztafel aufgereiht. Eingeklemmt zwischen zu diesem, einzigen Zweck gefertigten Holzstreben. Schilder mit Namen die Wörter sein könnten. Stattdessen gaukeln die Wörter Identität vor. Man betritt das Haus, sieht eine Holztafel, und erlangt den totalen Überblick. Über all die Schreibers, Strohschneiders, die Praefkes und Kuczpiols. Kuczipols, die ja wohl nicht immer schon aus Deutschland kommen, sondern irgendwie in die Registerleiste reingerutscht sind, meinen Hegners. Es gibt viele Häuser mit solchen Namensschildern, die ihren Platz haben. Übereinander gestapelt wie die Wohnungen und die Namensgeber selbst.

Immer drei nebeneinander und dann erste, zweite, dritte und vierte Etage. Eigentlich wirklich einfach – so kann man, sagen Schreibers, den Menschen, die man nicht mag, aus dem Weg gehen. Den sauberen Müllers oder den unaussprechlichen Kuczipols. Und dann komme ich, der in ein Haus in der Leipziger Neustadt geht, in dem niemand mehr wohnt. Zumindest niemand, der sich länger als eine Nacht hier aufhalten würde, niemand der neue Register zwischen die Holzstreben klemmen würde. Denn dort hängen immer noch diese alten Namen. Geklemmt an die Holztafel zeugen sie von der früheren Existenz Neustädter Identitäten und gaukeln immer noch etwas vor. Umsonst. Denn inzwischen sind sie nichts weiter als Filzstiftspuren auf ausgegilbten, dicken Papierstreifen, sind sie wieder das, was sie immer schon waren.

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Ich entferne sie von ihrem urspr端nglichen Platz, nehme sie mit nach Hause, stelle sie aus. Es ist doch egal.

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Autor Franz Julius Thรถricht Links http://uni-leipzig.de/~studart/blog/fundstuecke Fotos Franz Julius Thรถricht

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Nutzungsvertrag 210 x 210 mm Papier Fundort: Neustädter Straße 30

Ein auf Schreibmaschine getippter Nutzungsvertrag, datiert auf den 26.08.1988. Gefunden ihn in Mitten alter Dokumente und Zeitungsausschnitte in einem leer stehenden Neustädter Haus, demselben Haus, auf das er sich bezieht, dem Haus, in dem sein Besitzer einmal ein Leben verbrachte.

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Herr E. R. kann per 1.9.1988 das [sic] ehemalige Mietbereich Heinze, Neustädter Straße 30, 4. Etage, als Unterstellmöglichkeit nutzen. Der Nutzungsvertrag ist durch den Rechtsträger jederzeit und ersatzlos kündbar. Der Abschluss des Nutzungsvertrages erfolgt in Abstimmung mit der Abt. Wohnungspolitik beim Rat des Stadtbezirkes Mitte, Kollegin Fischer. Die monatliche Nutzungsgebühr beträgt 15,00 Mark und ist bis zum 3. Werktag des laufenden Monats auf das Konto 5602-19-611[ …] einzuzahlen. Nach abgeschlossener Lehre zum Koch entschied sich Herr R. die Vorstadt zu verlassen und nach Leipzig umzusiedeln. Er beantragte eine Wohnung in der Stadt, die er nur von einigen Messebesuchen her kannte. Er wusste, dass er lange würde warten müssen. Unverheiratet und kinderlos hatte er zu Zeiten des massiven Wohnungsmangels keine guten Karten und so wartete er ein Jahr später immer noch. Um seine neue Stelle im VEB Ratskeller antreten zu können, um zumindest das Elternhaus endlich hinter sich zu lassen, kam er bei seinem Bruder und dessen Familie unter. Die Wohnung war viel zu klein und eine dauerhafte Lösung scheinbar nicht in Sicht. Bis er von einem Haus in der Neustadt erfuhr. Es gab dort noch eine Menge Platz, viele Wohnungen standen leer. Da es in einem furchtbar heruntergekommenen Zustand war, konnte der Besitzer es offiziell nicht als Wohnraum vermieten. Dafür gab es die Möglichkeit, für einen geringen Betrag „Nutzungsverträge“ abzuschließen. R.s erste eigene Wohnung: groß, äußerst günstig und ziemlich marode. Dieses Haus steht exemplarisch für das Dilemma der Altbauten zu Zeiten der DDR: Die Mieten waren so niedrig, dass sie für die Instandhaltung der Häuser nicht ausreichten, die Stadt konzentrierte ihre Investitionen vor allem auf das Zentrum, um ein gutes Erscheinungsbild für Messebesucher und andere Gäste zu bieten. Die Häuser in Neustadt-Neuschönefeld und Umgebung wurden jahrzehntelang vernachlässigt, bis sie nach und nach verfielen. Anstatt zu sanieren, stellte die Stadt weitreichende Pläne zum Abriss an. Auf den Grundstücken sollten Plattenbauten errichtet werden, die kostengünstig und schnell gebaut werden konnten, mehr Wohnraum boten und den Wohnkomfort steigern sollten. Vor allem in Neuschönefeld und Volkmarsdorf südlich der damaligen Ernst-Thälmann-Straße (heutige Eisenbahnstraße) mussten in den 70er und 80er Jahren bereits viele Häuser dem Plattenbau und der Erweiterung des Stadtteilparks Rabet weichen. Die Melchoir-, Martha-, Reinhard-, Rosen- und Otto-Runki-Straße, die im heutigen Gebiet des Parks lagen, sind so vom Stadtplan verschwunden. Auch für das Gebiet rund um den Neustädter Markt gab es umfangreiche Rückbaupläne. Diesem Flächenabriss kam jedoch glücklicher Weise die Wende dazwischen. Zu Beginn der 90er Jahre wurden Sanierungspläne erstellt, die die Instandsetzung der Altbauten, die Begrünung des Stadtteils sowie die Erneuerung des Stadteilparks Rabet vorsahen. Besonders die Sanierungs- und Modernisierungstätigkeiten privater Investoren haben zu einem großen Sanierungsfortschritt beigetragen, sodass heute ein Großteil der Neustädter Häuser saniert sind oder werden. Nicht alle haben es jedoch geschafft. So stürzte 1992 das Haus Neustädter Straße 20 nicht weit von Herr R.s Wohnung ein.

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Dies wĂźrde er allerdings nicht mehr miterleben, denn wie so Viele verlieĂ&#x; auch er nach der Wende die Neustadt. Er war wohl einer der letzten Bewohner des Hauses. Lange schon steht es inzwischen leer, doch immerhin, es steht noch. Die Entwicklung der letzten Jahre betrachtend, scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dieses Haus von neuem belebt wird.

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Autor Sophia Krause Literatur Neust채dter Markt Journal 1/2011 Links http://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/ wohnen.html http://www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/129/ http://www.leipziger-osten.de/fileadmin/UserFileMounts/Redakteure/Inhaltsbilder/ Stadtteil_im_Blick/Publikationen/neue_freiraeume_leipziger_osten.pdf http://leipziger-steine.gmxhome.de/texte/schreiber.html http://www.harriet-trettin.de/leipzig_wo_ich_lebe.htm Fotos Sophia Krause

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Ösenknopf 20 × 20 × 4 mm Aluminium mit Kupferlegierung Fundort: Hedwigstraße 4 gefunden am: 17.04.2012

Der Ösenknopf aus der Leipziger Neustadt hat etwas geheimnisvolles. Mysteriöse Zeichen und Symbole stammen aus der Vergangenheit und wollen enträtselt werden.

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Halt und Zusammengehörigkeit Der schwarzbraune Ösenknopf besteht aus einem Aluminiumkern und wurde mit Kupfer überzogen, worauf vorallem auf der Rückseite des Knopfes befindlichen Oxidationsstellen hinweisen. Ebenfalls auf der Rückseite findet man um die Öse drei Einkerbungen und einen Kreis mit einem umgedrehten U. Die Öse selbst ist abgebrochen und gibt den Blick auf den weißen Kern frei. Auf der Vorderseite kann man im äußeren Ring die Zeichen „+DIULLAMAT“ vermuten, welche bisher noch nicht gedeutet werden konnten. Im Innenkreis, welcher durch einen Umkreis optisch vom äußeren Ring abgetrennt ist, ist vermutlich eine heraldische Lilie zu sehen. Gefunden wurde der Knopf in der Hedwigstraße in der Nähe der Hausnummer vier. Diese Straße bildet die mittlere Nord-Süd-Verbindung der Gemeinde Neustadt und wurde nach der Baronesse und Besitzerin des Ritterguts Schönefeld Klara Hedwig Freiin von Eberstein benannt. Eines der Kennzeichen dieses Ösenknopfes ist das Symbol, welches sich mittig auf der Vorderseite befindet. Dieses könnte eine stilisierte Schwertlilie zeigen, welche aus drei Blütenblättern besteht, die in der Mitte durch ein Band zusammengehalten werden. In der Heraldik gilt die Lilie unter anderem als Symbol für Reinheit und Unschuld und ist dann das Sinnbild der Heiligen Maria. Die Dreiteilung der Blüte könnte für die Heilige Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes stehen. Der Knopf ist damit vermutlich christlichen Ursprungs. Wer den Knopf verloren hat, ist ungewiss. Aber er fehlt jemandem, vermutlich mit christlichen Hintergrund, an zum Beispiel einem Mantel oder einer Tasche. Ein Knopf ist dafür da zwei Teile miteinander zu verbinden. In Neustadt wohnen viele verschiedene Menschen unterschiedlichster Herkunft. Welche Rolle spielt da dieser Knopf? Ganz in der Nähe des Fundortes befindet sich die evangelisch-lutherische Kirche „Zum Heiligen Kreuz“. Die 1894 eingeweite Kirche zeichnet sich unter anderem durch ihre besondere Akustik und die von Hand geläuteten Glocken aus. Zweimal wöchentlich treffen sich hier Kinder und Jugendliche im offenen Jugendtreff „SoJa“ (Sozialdiakonische offene Jugendarbeit). Dieser kümmert sich seit mehr als 15 Jahren, um den Nachwuchs des Leipziger Stadtteils. Werden hier nicht auch Verbindungen geschaffen?

Autor Marcus Hiebel Links http://www.heilig-kreuz-leipzig.de/ http://de.wikipedia.org unter Knopf, Lilie (Heraldik) und Neustadt (Leipzig) http://www.leipzig-lexikon.de Fotos Marcus Hiebel

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Ölpastellkreide 60 mm, Ø 8 mm (je Kreide) Ölpastellkreide mit Papier Fundort: Neustädter Straße/ Ecke Ludwigstraße, Leipzig gefunden am: 19.04.2012

Ob Blau, Grün oder Schwarz – es gibt sie in fast allen erdenklichen Farben und Preisklassen. Normalerweise erfreut sie sich bei großen wie auch kleinen Künstlern großer Beliebtheit und wird nicht achtlos liegen gelassen.

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Von der Achtlosigkeit zur Aufmerksamkeit Unter einem Baum, versteckt im Gras, verbargen sie sich – vier Ölpastellkreiden.In einem nahegelegenen Hinterhof befand sich der dazugehörige Kasten, komplett gefüllt mit Ölpastellkreiden, Wachsmalstiften und Malfarben. Wieso wurden sie weggeworfen? so unbenutzt? Und warum waren die vier Kreiden nicht bei den Anderen? Das Rätsel um den Kasten und die verlorengegangen Kreiden wird wohl nie gelöst werden. Und zum Glück ergeht es so nicht jedem Künstlerutensil in der Neustadt. Ganz im Gegenteil. Viel wird getan für Kunst und Kultur in diesem Viertel. In der Hedwigstraße befindet sich eines der ersten Häuser, welches nach der Wende saniert wurde. Es ist das Hotel Leipziger Hof, das sich der Malerei der Leipziger und der Neuen Leipziger Schule gewidmet hat. Das Motto: «Hier schlafen Sie mit einem Original.» Das Hotel bietet dreiundsiebzig gemütliche Zimmer mit Originalarbeiten von vorrangig Leipziger Künstlern. Die Kunstsammlung umfasst inzwischen mehr als dreihundertfünfzig Bilder. Führungen finden ganzjährig freitags um 17 Uhr statt und sind kostenfrei. Zudem finden regelmäßig Ausstellungen statt. Das Hotel Leipziger Hof

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Das Windobjekt, das zum Symbol des Kunstgartens in der Ludwigstraße geworden ist

Auch junge Künstler haben den Stadtteil für sich entdeckt. Seit dem Jahr 2006 gibt es den Kunstgarten in der Ludwigstraße 42/43, «ein Projekt des damaligen Jugendkulturzentrums Stötteritzer Spielkiste - heute Kinder- und JugendKulturWerkstatt JoJo - in Kooperation mit dem Bund Bildender Künstler Leipzig.» Ein wichtiges Ziel ist es, «die Kunst in das alltägliche Leben zu integrieren.» Ein anderes Beispiel ist das Projekt «Entdecke die Eisenbahnstraße», welches im Sommer 2010 in der Neustadt stattfand. Es zeigt die Vielschichtigkeit dieser Straße, welche Aufmerksamkeit verdient. Das bewies jener künstle-

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rische Rundgang von der Eisenbahnstraße 17 bis zur 89. Susan Baldermann, die dieses Projekt konzipiert und gestaltet hat, sagte: «Es ist wie eine kleine Ausstellung mitten auf der Straße, für Jeden zugänglich. Die Schaukästen erzählen Geschichten, Geschichten einer kontrast- und traditionsreichen Straße, die wahre Schätze birgt.» Zu guter Letzt das Pögehaus am Neustädter Markt. Seit einigen Jahren findet dort das Kunstfest «Kunst am Markt» statt, bei dem unter Anderem die Studenten des Instituts für Kunstpädagogik der Universität Leipzig Projektarbeiten vor- und ausstellen. Auch die Ölpastellkreiden werden dort dieses Jahr einen Platz finden. So bleiben sie doch nicht ungenutzt und haben ihren Sinn gefunden.

Autor Jana Ahlmann Literatur dein kiez – Die Stadtteilserie «Zwischen Telecafé und Künstlerhotel» Links http://www.leipziger-hof.de/ http://www.kunstgarten-leipzig.de/ http://www.die-eisenbahnstrasse.de/ http://www.leipzig-fernsehen.de/default.aspx?ID=5846&showNews=793373 Fotos Jana Ahlmann

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Der Papagei 39 × 19 × 17 mm Kunststoff Fundort: Rosa- LuxemburgStr. 54 gefunden am: 22.04.2012

Dieser bunte Paradiesvogel wurde zufällig verborgen zwischen Unkraut und Abfall an einer Hauswand entdeckt. Er ist das Zeugnis der Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich nichts Sehnlicheres wünschte, als nach Monaten der Trennung ihren großen Bruder wiederzusehen.

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Ein Papagei als Glücksbringer

Es ist früher Abend und ich spaziere wie so oft am Sonntag durch die Straßen Leipzigs. Heute hat es mich in die Leipziger Neustadt verschlagen. Ich möchte mir die Kreuzkirche ansehen. Während ich den Gehweg entlang laufe, schweift mein Blick ziellos über den Boden, mal hier hin und mal dort hin bis er unverhofft an einem kleine, bunten Ding hängen bleibt, das sich halbverborgen von Unkraut an einer Hauswand versteckt. Ich halte inne und betrachte meinen Fund: Ein kleiner kunterbunter Papagei aus Plastik. Nachdem ich ihn von Schmutz befreit hatte, erkenne ich, dass er eine grüne Fliegerbrille trägt und keinen Schwanz mehr hat. Ich frage mich, was der kleine Kerl wohl durchgemacht hat, bis er in meine Hände gelangt ist? Meine Gedanken schweifen ab. So bunt wie dieser kleine Papagei, denke ich, so bunt und vielfältig sind auch die verschiedenen Kulturen, die in der Leipziger Neustadt zusammentreffen. Die Leipziger Migranten stammen aus den unterschiedlichsten Ländern, der Großteil der Migranten jedoch kommt aus islamisch-arabisch geprägten Ländern. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund beträgt in der Neustadt 28,5%, womit dieses Stadtviertel den größten Anteil an ausländischen Mitbürgern aufweist. Im bundesweiten Vergleich jedoch steht Leipzig mit einem Ausländeranteil von insgesamt gerade mal 6,5% hinter westdeutschen Großstädten deutlich zurück. So groß die kulturelle Vielfalt ist, so unterschiedlich mögen auch die Motive sein, die die Migranten dazu bewogen haben, ihre Heimat zu verlassen und sich in Leipzig niederzulassen. Sie reichen von wirtschaftlicher Not, Naturkatastrophen, politischer Verfolgung und Unterdrückung bis zu hin Folter und Kriegserlebnissen. Während ich diesen Gedanken nachhänge, richtet sich mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf der sich die Takva-Moschee befindet. Plötzlich tritt ein kleiner Junge aus der Tür der Moschee, kommt auf mich zu und fragt mich, ob er mir irgendwie behilflich sein könne, wahrscheinlich weil ich so orientierungslos dreinblicke. „Ja“ antworte ich ihm: „ich suche den Weg zur Kreuzkirche“. Der Junge erklärt mir höflich den Weg, dann hält er inne und fragt mich erstaunt, was ich denn da in den Händen hielte. Verwundert stelle ich fest, dass ich den kleinen Papagei noch immer in der rechten Hand halte. Der Junge wird nachdenklich, als er den kleinen Papagei betrachtet und erzählt mir, dass ein Mädchen aus seiner Schule, mit dem Namen Mayada, stets einen ähnlichen Papagei als Glücksbringer mit sich herumgetragen habe. Doch vor einigen Tagen sei sie mit ihrer Familie verschwunden, wohin wisse er nicht.

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Was ich dann erfuhr, hätte ich beim besten Willen nicht erwartet: Tatsächlich begleitete dieser Papagei das Mädchen bereits seit einigen Monaten auf ihrer beschwerlichen Reise nach Deutschland. Er war das Abschiedsgeschenk ihres großen Bruders, bevor sich das Mädchen gemeinsam mit der Mutter bei Nacht und Nebel auf den Weg in eine neue Zukunft in Deutschland begab. Wenn sie sein Geschenk bei sich trage, behauptete er, würden sie sich eines Tages wiedersehen. Er und der Vater wollten nach Deutschland nachkommen, sobald sie eine Möglichkeit dafür finden würden. Mayada und ihre Mutter hatten gerade noch rechtzeitig Syrien verlassen können, denn nur wenige Tage später hatten bereits militärische Truppen der syrischen Regierung ihr Dorf erreicht. Der Weg nach Deutschland war hart und strapaziös. Drei Wochen lang reisten Mayada und ihre Mutter zu Fuß oder auf Lastwagen durch das Land, manchmal mussten sie mehrere Tage am Stück hungern. Die Einwanderung nach Europa musste unbemerkt und auf illegalem Weg erfolgen, denn noch hatten sie keine Aufenthaltsgenehmigung. Schließlich hatten sie wochenlang in einem Auffanglager an der türkischen Grenze ausharren müssen, bis ihnen Verwandte, die bereits seit einigen Jahren in Deutschland leben, zur Hilfe geeilt waren und sie finanziell bei der Einreise unterstützt hatten. Nur so viel hatte der Junge von Mayada in Erfahrung bringen können. Viele Flüchtlinge warten mitunter jahrelang auf eine Aufenthaltsgenehmigung und befinden sich nur in einem Duldungsstaus in Deutschland. Das bedeutet, dass die Abschiebung jederzeit erfolgen kann. Ob Mayada und ihre Mutter ein solches Schicksal ereilt hat, ist unbekannt. Was jedoch von ihr bleibt und an sie erinnert, ist der kleine Papagei, der noch immer im Inneren meiner Hand ruht. Ich frage mich, war es bloße Unachtsamkeit, dass Mayada den Papagei verloren hatte oder hatte sie ihn mit Absicht hier bei der Moschee zurückgelassen, weil er ihr wohlmöglich kein Glück beschert hatte?

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Autor Theresa- Marie B端nsow Links http://www.leipzig.de/imperia/md/content/12_statistik-und-wahlen/lz_migranten2010.pdf http://mephisto976.uni-leipzig.de/startseite/gesellschaft/beitrag/artikel/lebenin-der-warteschleife.html Fotos Theresa- Marie B端nsow

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Praline Durchmesser: 3,4 cm Fundort: Ludwigstraße/Ecke Einertstraße Material: Milchschokolade% (Zucker 30%, Kakaobutter, Magermilchpulver, Butterreinfett, Emulgator, Sojalecithin, Vanillin), Haselnüsse (30%), Zucker, Pflanzliches Fett, Waffel, Süßmolkenpulver, fettarmer Kakao, Emulgator Sojalecithin, Vanillin, Alu, Papier

Pausierend sitze ich vor einem Hauseingang auf einer Stufe, trinke Wasser und esse Cashewkerne. Ein Mann kommt des Weges, nickt mir freundlich zu und erkundigt sich, was ich denn hier täte. Ich grüße zurück und erläutere ihm die schlichte Tatsache, dass ich hier sitze und Nüsse esse. Zufrieden mit der Auskunft verabschiedet sich der Neugierige und geht weiter seiner Wege. Wenige Sekunden später taucht er erneut vor mir auf und und gibt mir als Nachspeise ein in der Sonne glänzendes Ferrero - Rocher in die Hand.

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Schon im Laufe eines in Leipzig - Neustadt verbrachten Nachmittages kann man feststellen, dass in den Neustädter Straßen vergleichsweise viel Blick kontakt stattfindet. Auch als „Besucher“ wird man bei jeder Gelegenheit gegrüßt oder in ein kurzes Gespräch verwickelt. Ob man bei Aldi gefragt wird wo denn das Kartoffelpüree stehe oder einem spaßhaft mitgeteilt wird, dass die wild spielenden Kleinkinder wahrscheinlich zu heiß gewaschen wurden. Anlass und Thema der Konversation sind eigentlich Nebensache, Hauptsache Kommuni kation. Es macht den Eindruck, als fände hier das Leben mehr als in anderen Leipziger Stadtteilen auf der Straße statt, so wie man es aus südlicheren Ländern kennt. Ohne Scheuklappen und nach innen gerichteten Blicken ist der Wegesrand ein Ort der Begegnung und die Neustädter scheinen interessiert an dem, was seine Mitmenschen so treiben und beschäftigt. An dieser Stelle möchte ich nicht auf das bereichernde Aufeinandertreffen vieler verschiedener Kulturen eingehen, obgleich diese Tatsache sicherlich einen Beitrag zu dem besonderen Charme dieses Stadtteils darstellt. Lieber berichte ich davon, dass ich nun seit ca. 20 Jahren in dieser Stadt lebe und mich nicht daran erinnern kann, hier schon einmal ein so unverbindliches, aufrichtiges und schmackhaftes Geschenk von einem Fremden bekommen zu haben. (Wobei ich betonen möchte, dass sich ein Besuch des Leipziger Ostens nicht nur wegen der Aussicht auf „zwischenmenschliche Leckerbissen“ lohnt.) Tatsächlich lohnt es sich ja immer, die gewohnten Pfade zu verlassen und auch die eigene Heimat hin und wieder aus den Augen eines Ortsfremden zu betrachten und mit neugierig offenem Blick durch scheinbar wohlvertraute Gegenden zu flanieren, sich Zeit zum Verweilen zu nehmen. So sind meine positiven Eindrücke von Leipzig - Neustadt möglicherweise weniger auf das Quartier selbst, als vielmehr auf meine damalige persönliche Einstellung zurückzuführen. Es lässt sich immerhin schwer behaupten, dass die Bewohner eines bestimmten Stadtteils prinzipiell deutlich offenherziger als andere Mitbürger ihren Alltag beschreiten. Was ich aber sagen kann ist, dass ich an diesem Nachmittag eher wie ein Urlauber und extravertierter als sonst durch die Straßen gegangen bin. Da diese Einstellung zu solch schönen Erlebnissen führt, dient mir nun eine Praline nicht nur als Andenken, sondern vor allem als eine Art Zeigefinger, der mahnend mich daran erinnert, ab und zu einen Gang zurückzuschalten, weniger durch den Tag zu rennen und den Blick in der Gegenwart verweilen zu lassen. Wie dem auch sei, seither kehre ich immer wieder gern und aufgeschlossen in die Neustadt zurück und möchte hiermit den anonymen Anwohner und Spender der köstlichen Nachspeise grüßen und ihm danken.

Autor Judith Kurtzke

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Rostiger Nagel L채nge: 80mm, Durchmesser: 6mm Eisen Fundort: Neust채dter Markt Leipzig, Kirche zum Heiligen Kreuz gefunden am: 15.04.2012

Rostig, krumm, alt - der Werdegang eines Nagels, der die Bretter der Welt erobert und die Welt in ihrem Ganzen zusammen h채lt. Was hat er gesehen? Was kann er uns berichten? Was hat er einmal zusammen gehalten?

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Ein alter, verrosteter Nagel – umgeben von morschem Holz- in sich gekrümmt und nutzlos. Mitten im Gebüsch vor den Toren der Kirche zum Heiligen Kreuz im Leipziger Stadtteil Neustadt- Neuschönefeld. Ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten- doch mit ureigener Geschichte. Wo mag er hingehört haben, was hielt er zusammen? Womöglich gar eines der Türbretter der Kirche? Die im Herzen der Neustadt befindliche evangelisch- lutherische Kirche zum Heiligen Kreuz prägt das Antlitz dieses noch jungen, jedoch stetig wachsenden Ortsteils im Osten der Stadt Leipzig. Nach Erlangung der kirchlichen Selbstständigkeit wird die neoromanische Kirche 1893/94 erbaut und schließlich am 31.10.1894 feierlich eröffnet. Hielt zu diesem Zeitpunkt der Nagel möglicherweise bereits eines der Türbretter der Kirche oder wurde er viel später verwendet? Wer schlug den Nagel in eines der Bretter? Ein fleißiger Bürger? Ein Arbeiter? Imposant mutet dieser, sich mitten auf dem Neustädter Markt befindliche rötliche Ziegelbau an. Dem Namen entsprechend trägt die Kirche die Form eines lateinischen Kreuzes. Ursprünglich liegt der Haupteingang im Westen, durch den man über die Brauthalle in das Kirchenschiff gelangt. Heute wird sie über den Eingang von der Hedwigstraße betreten. An der südlichen Seite des Kirchenschiffes befindet sich der Turm. Geschmückt wird er durch drei Kreuze an den Wänden: ein altes verwittertes, gußeisernes Turmkreuz, ersetzt durch eine Nachbildung aus Edelstahl und zwei Giebelkreuze aus Rochlitzer Porphyr, ebenfalls durch Nachbildungen ersetzt. Der Glockenturm mit 67,5 Metern Höhe besitzt ursprünglich drei Glocken, wovon zwei 1917 als Kriegsmaterial abgeliefert werden und gleich an Ort und Stelle zerlegt werden. Über dem Altarraum eine Gewölbedecke, während der Innenraum von einer braun gebeizten, teils farbigen Holzdecke überspannt wird. So hat die Kirche eine sehr gute Akustik. Die Ausstattung der Kirche sowie das Gestühl stammt weitestgehend noch aus der Erbauungszeit der Kirche und zeigt freien Umgang mit romanischen Formen. Auf gußeisernen Säulen befindet sich die hölzerne Empore, die von drei Seiten den Innenraum der Kirche umschließt. Altar, Kanzel, Lesepult und Taufstein gehen alle auf Entwürfe von Rudolph Cöllner zurück und wurden in französischem Kalkstein, Rochlitzer Porphyr und Sandstein ausgeführt. Die Orgel, 1894 vom Bautzner Orgelbaumeister Hermann Eule mit 32 Registern auf zwei Manualen und Pedal erbaut, ist die einzige noch spielbare Kegelladenorgel Leipzigs. Die ursprünglich farbigen Altarfenster wurden bei Bombenangriffen im zweiten Weltkrieg zerstört und später durch einfache farbige Glasfenster ersetzt. Vor der Kirche befindet sich eine Gedenktafel an die gefallenen Gemeindemitglieder des ersten Weltkrieges. 725 an der Zahl. Vor allem junge Männer von 20- bis 26 Jahren. Beobachtete der Nagel wohlmöglich die Wirrungen und Verirrungen des ersten Weltkrieges und die Aufbauarbeiten nach Ende des zweiten Weltkrieges? Seitdem ist viel Zeit vergangen, das Gesicht des Ortsteils hat sich wiederrum gewandelt. Neustadt seit jeher ein Stadtteil der Einwanderer und Neuankömmlinge- stetiger Wachstum . Neustadt mit seiner berüchtigten vielbefahrenen Eisenbahnstraße, dem Wohnungsleerstand, der hohen Arbeitslosigkeit, den Dönerbuden und Fastfoodläden- ein kleines Viertel in Bahnhofsnähe. Vielfalt der Kulturen- Einfalt des Lebens? Nicht ganz. Es wirkt eher großstädtisch mit seiner Moschee in der Hermann- Liebmann- Straße, den Kunstprojekten im

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Pögehaus, dem Kunstgarten und Park „Rabet“. Die Neustadt atmet. Sie pulsiert und strebt empor und schafft es doch nicht ganz nach oben. Dies alles konnte der verrostete gekrümmte und vergessene Nagel im Laufe seiner Zeit vielleicht beobachten im Schatten der Kirche zum Heiligen Kreuz, im Zentrum der Neustadt, im Herzen der Welt. Was mag die Zukunft für ihn bereithalten? Was er erlebt hat lässt sich nur mutmaßen, wo er hingehen wird und was er vielleicht noch erlebt bleibt im Geheimen. Doch wichtig ist und bleibt- er ist ein Stück Zeitgeschichte- er erzählt die Geschichte der Kirche zum Heiligen Kreuz.

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Autor Carolin Feuer Literatur Ev.- Luth. Kirche zum Heiligen Kreuz Leipzig http://www.heilig-kreuz-leipzig.de/ Links Wikipedia :Nagel http://de.wikipedia.org/wiki/Nagel Fotos Carolin Feuer

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Schloss 50 × 75 × 10 mm Messing, Edelstahl Fundort: Meißner Straße gefunden am: 17.04.2012

Das Schloss der Marke „ABUS“ (August Bremicker und Söhne) trägt die Nummer 85/50 und die Aufschrift „LOCK Co. GERMANY“. Auf dem Bügel steht der Schriftzug „HARDENED“. Das Objekt wurde aufgesägt und weist Spuren eines dazu verwendeten Werkzeugs auf.

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Die Firma ABUS preist seine Ware wie folgt an: „Markenprodukte von ABUS stehen weltweit für Sicherheit. Sie bieten Menschen persönlichen Schutz und sichern Ihr Eigentum. Ob zu Hause oder unterwegs – ABUS Produkte haben das Ziel, Ihnen das gute Gefühl der Sicherheit zu geben.“. Auf der Homepage des Betriebs können mögliche Einsatzgebiete der Fabrikate nachgelesen werden. So dient das Service-Schloss 85/50 zur „Absicherung von größeren Werten/Gegenständen oder bei hohem Diebstahlrisiko“. Mehrere Testsiegel weisen auf die hohe Sicherheit hin, die mit diesem Schloss erreicht werden kann. Solche Marketingstrategien verlieren durch die offensichtliche Zerstörung des angepriesenen Produkts stark an Glaubwürdigkeit. Das aufgebrochene Schloss spiegelt für mich den vergangenen, zum Teil noch derzeitigen Ruf des Stadtteils Neustadt wider. Viele Menschen sprechen in Verbindung mit Neustadt von hoher Kriminalität und von verbreitetem Drogenkonsum. Sie sehen die vielen leerstehenden und teilweise besetzten Häuser. Dies verbreitet Unsicherheit unter den Bewohnern Leipzigs. Einige Menschen meiden Neustadt und sehen kein Entwicklungspotential. So spricht Gerda S. in einer Befragung zum Thema „Neustadt – was ist das?“: „Neustadt? Das ist doch da bei der Eisenbahnstraße. Nee – da bin ich nie. Warum auch? Meinen Enkeln sag ich immer: ‘Geht da im Dunkeln ja nicht lang! Da klauen sie dir alles, was auch nur halbwegs etwas taugt! ’ Das war schon immer so.“. Auch die Medien unterstützen das negative Bild des historisch bedeutsamen Viertels. So wurde am 27.01.2007 die FokusTVReportage „Prekariat Ost – Im Osten nichts Neues“ ausgestrahlt und berichtete ausschließlich von Drogen, Prostitution und ähnlichen anprangernden Themen. Doch dass zu Neustadt weit mehr als nur ein Stück Eisenbahnstraße gehört, dass es einen eigenen Markt mit einer eindrucksvollen historischen Kirche besitzt und eine weitreichende Geschichte, wissen viele nicht. Dies soll in Zukunft anders werden. Neustadt wurde geprägt durch die starke Zuwanderung junger Menschen mit Migrationshintergrund in den 50er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Heute nennt die Stadt dies „einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der demographischen Situation“ und will sich für ein integrationsförderndes Umfeld einsetzen. Die Stadt Leipzig verfolgt seit Mai 2009 das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (SEKo) mit dem Motto „Leipzig 2020 – Zukunft gestalten“, durch welches auch der Stadtteil Neustadt gefördert werden soll. Das Konzept bildet nicht nur einen Orientierungsrahmen für die Entwicklung der gesamten Stadt Leipzig hinsichtlich verschiedener Punkte wie Wohnen, Wirtschaft, Kultur - sondern rückt vor allem räumliche Handlungsschwerpunkte im Bereich des Sozialen in den Mittelpunkt. Wie auf Karten des SEKo ersichtlich, besteht in dem genannten Stadtteil hoher Handlungsbedarf in den Bereichen Arbeit, Einkommen, Bildung und Teilhabe. Besondere Bedeutung käme dabei „bewohnergetragenen Strukturen sowie der Aktivierung und Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu“. Die Bürgerinitiative Neustädter-Markt e.V. setzt sich bereits seit 1990 für die

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„Erhaltung der wohngebietstypischen Struktur“ in den Gebieten NeustadtNeuschönefeld ein. Auch die „Unterstützung der Einwohner bei der Wahrnehmung sozialer Belange im Rahmen der Jugend- und Altenhilfe“ hat sich der Bürgerverein zur Aufgabe gemacht. Dabei steht für die Mitglieder Zusammenarbeit an erster Stelle, sowohl innerhalb der Initiative, wie auch mit städtischen Ämtern und Institutionen. Auf der Internetseite erhalten Interessierte einen guten Überblick über die wichtigsten Vorhaben und Projekte des Vereins und wie man sich selbst engagieren kann. Neustädter-Markt e.V. möchte „Überliefertes und Neues sinnvoll vereinen, pflegen und weiterentwickeln. Kenntnis über das Wohngebiet, Verbundenheit mit dem Stadtteil und Verantwortung für dieses sollen in der Bevölkerung geweckt und gefördert werden.“. Durch diese wertvolle Arbeit und durch die Bemühungen der Stadt wird sich hoffentlich der Ruf Neustadts in der nächsten Zeit bessern und die Bewohner Leipzigs lernen die schönen Seiten des Viertels wieder zu schätzen…„Das gute Gefühl der Sicherheit“.

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Autor Anne Bastl Quellen und Links Homepage der Firma ABUS: http://abus.de/ Informationen zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept SEKo : http://www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/konzept/ Homepage des B체rgervereins Neust채der-Markt e.V.: www.neustaedtermarktleipzig.de Foto Anne Bastl

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Schwamm 96 x 70 x 45 mm Vlies und Zellulose Fundort: Meißner Straße gefunden am: 17.04.2012

Der Schwamm. Ein billiger Reinigungsgegenstand den es in den verschiedensten Variationen gibt und den jeder beinahe täglich benutzt. Er ist vielseitig einsetzbar- unter der Dusche, bei der Reinigung des Autos oder beim Entfernen verschiedenster Rückstände wird er benutzt.

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In unserem Fall sind es Lackrückstände gewesen. Hochpigmentierter Lack auf Bitumenbasis, Schwarz. 230 ml für 9,99€. Für nachfüllbare Squeeze-Marker. „Der deckt auf jeden Fall überall.“, erzählt mir Tom, ein 17-jähriger kaugummikauender Junge. „Kostet aber auch, wenn man dauernd raus geht. Ich mein ich bekomm nich viel Taschengeld. Aber auch die Dosen sind ja immer so 3,50€. Da kommt schon gut was zusammen.“ Die Zahl der Kosten für das Entfernen der Schäden durch Graffiti in Leipzig liegt im sechsstelligen Bereich. Graffiti - mit diesem Wort kann mittlerweile jeder etwas anfangen. In der heutigen Generation ein Begriff den viele bereits praktisch ausprobiert haben, mit dem aber gleichzeitig eindrückliche Wörter wie z.B. Vandalismus fallen, da nicht alle für Gut heißen, was die Jugend nachts in den Straßen fabriziert. ORG Graffiti in der Nähe des Hauptbahnhofs

Erst kürzlich wurde in der Nähe des Bahnhofes ein riesiges Graffiti enthüllt, bei dem die Seitenfläche eines Hauses von 1400m² in zwei Nächten einer Komplettverwandlung unterzogen wurde. Was bringt junge Menschen dazu solchen Aktivitäten nachzugehen?

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„Keine Ahnung.“, antwortet Tom, berichtigt aber prompt seine Antwort: „Is einfach geil, wenn du wo langgehst und siehst deinen Namen da stehn, natürlich sooft wie möglich. Und dann nervt das halt wenn so Leute kommen und alles wegmachen. Auf die Frage ob er nicht verstünde, dass es Vielen nicht gefalle wenn auf einmal der Briefkasten oder die Hauswand beschmiert ist folgt nach einem kurzen: „Pff!“, ein: „Is mir eigentlich egal. Mir gefallen Dinge die manche machen auch nicht. Da wird einem ja verboten seine Umwelt zu verändern. Ich bin doch ein freier Mensch, und wenn mir das gefällt, mach ichs halt.“ Der Anwohner der Meißner Strasse, der mit seinem in Reinigungsspiritus getränktem Schwamm, der eigentlich seine Töpfe von hartnäckigem Fett befreit, die Schmierereien an seinem Briefkasten entfernt versteht das natürlich nicht. Wenn man sich anschaut wie viele Namen in der Stadt verteilt sind, erkennt man wie groß der Ausdruckswillen der heutigen Generation wirklich ist. Da stehen also die Marker und Dosen der Jugendlichen auf der einen, und die Schwämme und Reinigungschemikalien der Graffiti-Entfernungsfirmen und verärgerten Anwohner auf der anderen Seite.

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Autor Christian Ziller Link http://www.youtube.com/watch?v=HQ8MwlyVZ_c Fotos Christian Ziller schweinekatze.blogspot.com

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Spielkarte 91 × 59 × 0,2 mm Pappe/ Harzfolie Fundort: Leipzig, Eisenbahnstraße 63 gefunden am: 17.04.2012

Spielkarten stehen für Geselligkeit, Unterhaltung und auch Müßiggang. Doch gerade in der Leipziger Neustadt sind sie ebenso Zeichen kultureller Identität für manchen Fremden. Da bleibt die Gefahr des Glücksspiels nicht fern...

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Das Spiel um das neue Glück in Deutschland Zunächst mag der Fund einer alten Spielkarte auf dem Bürgersteig einer der geschäftigsten Straßen Leipzigs, der Eisenbahnstraße, verwundern, doch schaut man sich den Fundort genauer an, stellt man fest wie repräsentativ diese eine Karte für den Stadtteil in Wahrheit ist. An ihrem Platz zwischen Spielcenter und türkischem Frühstückshaus überrascht die Karte kaum mehr. Ganz im Gegenteil scheint sie dort in ihrer „natürlichen Umgebung“, in alltäglichem Gebrauch zu sein. Was man hier als Frühstückshaus findet, ist allgemein auch als türkisches Kaffee- oder Teehaus bekannt. Im Zuge der Einwanderungen aus der Türkei in die BRD entstanden in den 80er Jahren viele Teehäuser nach dem Vorbild der „Kahvehane“, den typischen Dorf- oder Stadtteilcafés. Diese fanden in den 90er Jahren auch Einzug in die Neuen Bundesländer, vor allem in Sachsen. Am Fundort: Zwischen Spielcenter und Frühstückshaus

Namensgebend für diese Lokalitäten ist ganz klar das am meisten konsumierte Getränk: der Tee. Aber in Wirklichkeit ist der „Cay“, den man bereits für einen Euro erwerben kann, nicht der Grund, weswegen Mann das Teehaus aufsucht. Vielmehr geht es um den Ort als solchen: Er ist sozialer Treffpunkt, kulturelle Heimat und damit Identitätsstiftung für die mittlerweile zweite oder dritte Generation türkischer Einwanderen, an dem sie besondere Solidarität und gegenseitige Hilfe finden. Laut dem Sozialwissenschaftler Raul Ceylan ist ein arbeitsloser Teestubengast, der nichts konsumiert, genauso gern gesehen wie ein zahlender Kunde, denn für ihn liegt im Teehausbesuch die Möglichkeit familiären Stress abzubauen, sozialem Druck zu entfliehen und damit eine angenehme Abwechslung zum Alltag zu finden.

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Der karge Einrichtungsstil der Teehäuser hat Wiedererkennungswert: Gefliester Boden, schmale Theke und viele kleine Tische mit Stühlen, alle zentral im Raum. Auch moderne Technik in Form von enormen Fernsehbildschirmen hat Einzug gehalten, doch die Bindung zum Kartenspiel bleibt weiterhin bestehen. Denn am Abend zeigt sich vielerrorts das andere Gesicht der Teehäuser: Hinter verschlossenen Fensterläden wird im Rauchnebel bis in die frühen Morgenstunden illegal gezockt. Die Integrationsbeauftragte Cemil Sahinöz kennt das Leid vieler türkischer Frauen, die in ihrer Familienberatungsstelle über die Abwesenheit ihrer Männer klagen. Laut Sahinöz geben über ein Viertel der Frauen, die eine Scheidung wünschen, an, dass ihre Männer täglich in Teehäusern sind und hohe Spielschulden haben. Auch einige Eltern haben Grund zur Sorge: Verstärkt fallen nun Jugendliche der Spielsucht zum Opfer. Die Gefahr wird oftmals nicht ernst genommen oder unterschätzt, da viele Jugendliche durch die Spielaktivitäten der Väter sozialisiert wurden, so Sahinöz. Zwar trifft sich die Jugend akuell nicht mehr in Teehäusern, dafür aber immer mehr im Internet bei Oddset und Poker. Vielleicht sollte man die Glückssuche außerhalb der Teehäuser beginnen...

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Autor Frederike Kuhn Links Sahinöz, Cemil (16.08.2011): Als türkische Cafés getarnte illegale Glücksspielorte, Deutsch-Türkische Nachrichten. http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2011/08/168853/als-tuerkische-cafes-getarnte-illegale-gluecksspielorte/ [23.05.2012] Seibold, Michael (22.02.2005): Türken in Frankfurt: Geschlossene Gesellschaft bei Tee und Kartenspiel, FAZ. http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ frankfurt/tuerken-in-frankfurt-geschlossene-gesellschaft-bei-tee-und-kartenspiel-1212746.html [22.05.2012] Fotos Frederike Kuhn

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Streichholzschachtel 12 × 50 × 38 mm Papier, Glasstaub, Phosphor Fundort: Leipzig, Eisenbahnstraße gefunden am: 10.05.2012

Am Straßenrand finde ich eine kleine blaue, mit einer Elster bedruckte, Streichholzschachtel. Sie sieht hübsch aus und so stecke ich sie ein, obwohl sie leer ist. Wer stand hier, genau an der Stelle an der ich jetzt stehe und hat sich mit seinem letzten Streichholz eine Zigarette angesteckt?

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Ich sehe mich um. Gegenüber hängt ein Poster, der Text in kyrillischer Schrift verfasst. Mein Schulrussisch reicht nicht aus, um auch nur zu erahnen wofür es wirbt, doch der Google-Translator sagt: Es geht um Suchtberatung. Und die Tatsache, dass wohl viele, die vorbeigehen, den Inhalt nicht entziffern können, vermittelt mir den Eindruck dass man mit diesem Problem lieber unter sich ist. Plakat für Suchtberatung Leipzig, Eisenbahnstraße

Die Statistiken sagen mir, dass der größte Anteil der in Leipzig wohnhaften Migranten aus der russischen Föderation kommt. Viele von ihnen haben die Neustadt als ihre neue Heimat gewählt, sei es wegen der niedrigen Mieten oder der schon vorhandenen, starken Gemeinschaft russischstämmiger Einwanderer. Meine kleine Schachtel hat vermutlich einer von ihnen mitgebracht, der kleine russische Laden am Anfang der Eisenbahnstraße zumindest führt diese Sorte nicht. Dafür eine große Auswahl an Süßigkeiten, Getränken und anderen landestypischen Lebensmitteln. Der freundliche Verkäufer hat viel über die Waren zu erzählen, er übersetzt Etiketten für mich und erklärt Besonderheiten. Als ich ihn jedoch frage wie das Leben in der Neustadt ist, speziell der Zusammenhalt zwischen den russischstämmigen Migranten, winkt er ab. Dazu möchte er nichts erzählen, das sei ihm zu privat und er möge das nicht, sagt er, nur soviel, dass er früher in seinem Heimatland als Ingenieur gearbeitet habe. Er macht eine hilflose Geste und sieht plötzlich sehr abgekämpft aus. Ich beschließe nicht weiter nachzufragen und verlasse den Laden. Gern hätte ich mehr erfahren. Autor Maria Becker Quellen http://www.leipzig.de/imperia/md/content/12_statistik-und-wahlen/lz_migranten2010. pdf#search=%22migranten%22 Fotos Maria Becker

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Stromkabel 45 × 20 × 50 mm Plastik, Draht Fundort: Lutherstrasse 9, Leipzig

Auf einer ruhenden Baustelle in Neustadt fand ich dieses nicht sehr lange, leicht zu übersehende Kabel. Es lag unter ein wenig Schutt vergraben. Doch nutzlos war es noch nicht, denn es erzählt von einer Zeit, in der eine Entdeckung Großes bewirkte.

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Kleine Dinge, die Großes bewirken. Da liegt es vor mir. Ein Stück modernerer Technik, das mich anhalten lässt. Es ist unter ein wenig Schutt vergraben. Wahrscheinlich wurde es noch vor Kurzem benutzt und dann weggeschmissen und vergessen. Es ist nichts besonderes. Es gibt tausende wie dieses. Man denkt nicht viel darüber nach, welchen Fortschritt Strom und Stromkabel für unser Leben, welche Erleichterung und welchen Komfort sie bedeuten. Doch als ich dieses Kabel nun so vor mir liegen sehe, schweifen meine Gedanken unbewusst in eine Zeit ab, in der die ersten Schritte hin zu dem gemacht wurden, was wir heute für selbstverständlich halten; eine flächendeckende Stromversorgung für jeden. 1866. Eine Zeit des Umbruchs. Eine verheißungsvolle Zeit, die die Welt, wie man sie bis dahin kannte, nachhaltig verändern sollte. Es war das Jahr, in dem Werner von Siemens (1816-1892) das dynamoelektrische Prinzip entdeckte und bei der Entwicklung des ersten elektrischen Generators nutzte. Ab 1880 entwickelten sich diese Generatoren immer mehr zu Großmaschinen, um den wachsenden Strombedarf der expandierenden Stromnetze decken zu können, Zwei Jahre später wird die erste Blockstation in Stuttgart in Betrieb genommen. Nach und nach gehen immer mehr Städte „ans Netz“. Doch noch sollte es einige Zeit dauern, bis auch der letzte Winkel Deutschlands mittels elektrischem Strom erhellt werden konnte. Schauen wir ins Leipzig dieser Zeit. Genauer nach Leipzig Neustadt. Ab 1881 selbstständige Gemeinde. Bereits 1885 über 7000 Bewohner. Doch lange war an einen Stromanschluss nicht zu denken. Wie in vielen anderen deutschen Städten wurden die Straßen und Häuser noch durch Gasanschlüsse beleuchtet. In Leipzig seit 1838.3 Und somit konnten viele Menschen noch nicht einmal erahnen, dass schon bald jeder Haushalt mit Strom versorgt werden konnte. Die Nachricht, dass sich nun in ersten Städten Stromnetze aufbauten, nahm ihren Weg durchs Land und kam so auch durch Leipzig nach Neustadt. Und obwohl sicherlich viele Menschen die weitreichenden Konsequenzen noch gar nicht begreifen oder vorhersehen konnten, lag wohl etwas Magisches in der Luft. Ein elektrisierendes Knistern, das sich leise näherte und von der Welt von morgen erzählte. In Leipzig-Neustadt sollte dieses „Morgen“ in den Jahren um die Jahrhundertwende beginnen. - 1895 ging das erste leipziger Elektrizitätswerk in Betrieb. - 1910, rund dreißig Jahre nach der ersten Blockstation in Stuttgart, hatten bereits zwei Prozent der Wohnungen einen Stromanschluss.

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Schnell verbreitete sich diese neue Art zu Beleuten über ganz Deutschland, Europa und bald die ganze Welt. Doch natürlich, diente der elektrische Strom schon seit seiner „Geburtststunde“ nicht allein dem Zweck der Beleuchtung, sondern bahnte sich dank unzähliger Tüftler und Erfinder immer neue und innovative Wege, die uns Möglichkeiten erschlossen, die bis dahin undenkbar oder zumindest oft in weiter Ferne schienen. Seitdem hat der Strom viele Wege genommen. So auch in Neustadt. Durch Strom-, Telefon-, TV-, Internet- und anderen Kabeln und Leitungen, erhellt er uns die Abende und Nächte, verbindet uns mit Freunden und Familien, bringt uns Unterhaltung und eröffnet uns scheinbar unbegrenzte Wege zu Informationen. Verbindet uns mit der Welt.

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Autor Claudia Schulze Links de.wikipedia.org/wiki/Elektrischer_Strom www.stromversorger-energieversorger.de/energieversorgung-geschichte.php www.swl.de/site/swl/de/unternehmen/protrait/geschichte/main.htm Fotos Claudia Schulze

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Türfragment 125 × 40 × 20 mm Holz, Metall Fundort: Mariannenstraße 31 gefunden am: 18.04.2012

Bei diesem Stück Holz handelt es sich um ein Fragment der Eingangstür des Hauses Mariannenstraße 31 in der Leipziger Neustadt.

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Die Mariannenstraße verbindet, auf einer Länge von insgesamt über 1.135 Metern, die beiden Stadtteile Neustadt und Volkmarsdorf und reicht bis zur Gemeinde Sellerhausen. Der erste Straßenabschnitt, zwischen Neustädter Straße und Hermann-Liebmann-Straße, entstand im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts; später wurde die Straße geradlinig in östlicher Richtung erweitert. Bebaut wurden die ehemaligen Wirtschaftsflächen des Ritterguts Schönefeld; Grund waren der fortschreitende Bau der Eisenbahnlinie Leipzig-Dresden, die einsetzende industrielle Entwicklung sowie der damit verbundene Bedarf an neuen Wohnflächen. So entstand auf dem Gebiet links der Eisenbahnlinie langsam eine eigenständige Gemeinde, mit der Heilig-Kreuz-Kirche als Mittelpunkt. Das Gründerzeithaus in der Mariannenstraße 31, erbaut um 1870, ist eines von vielen historischen Gebäuden dieses vergleichsweise jungen Stadtteils. Die Neustadt beherbergt von ihrer Entstehungszeit bis heute vorwiegend Arbeiter und Einwanderer. Deshalb ist die Gegend von jeher mit Vorurteilen behaftet und gegenwärtig von Leerstand sowie zunehmendem Verfall geprägt. Doch im Zuge der geplanten Erneuerung des Leipziger Ostens wurde der gesamte Stadtteil zum „Sanierungsgebiet Neustädter Markt“ erklärt, dessen Instandsetzung im Zeitraum von 1992 bis 2015 durchgeführt werden soll. Als typisches Arbeiterquartier ist die Mariannenstraße 31 in ihrer Gestaltung eher zweckorientiert als repräsentativ gehalten. Nach einer längeren Phase des Leerstandes soll das Haus in naher Zukunft saniert werden. Doch oft genug geht bei Sanierung, die auf Rentabilität und Modernisierung ausgerichtet ist, ein Großteil der erhaltenswerten Historie der Gebäude verloren.

Die Geschichte des besagten Hauses zeigt sich vor allem an seiner alten Eingangstür: Sie zeigt die Gebrauchs- bzw. Verwitterungsspuren eines langen Lebens und die Jahre des Leerstands. Doch ein alter Briefkasten mit Namens

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schild hängt noch immer an der Tür; er erinnert an bewohnte Zeiten. Ob die zukünftigen Bewohner der modernisierten Mariannenstraße 31 auch wieder Arbeiter und Migranten sein werden, ist fraglich. So bleibt abzuwarten, inwieweit die Historie des alten Arbeiterhauses – und die des gesamten Stadtteils – nach der Fertigstellung des großflächigen Sanierungsvorhabens ersichtlich bleibt. Das Schicksal der alten Tür allerdings ist besiegelt: Sie wird durch eine neue ersetzt und landet, zusammen mit vielen Erinnerungen des Hauses und seiner Bewohner, auf dem Müll. Doch dieses kleine Stück bleibt erhalten. Vielleicht eröffnet es dem Betrachter eine Tür in die Vergangenheit.

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Autor Christiane Knoll Links http://leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf2.html http://www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/stadtern/gebiete/osten/nm/ http://www.anwaltskanzlei-guenther.de/pdf/Stadtentwicklung%20u.-umbau%20in%20Leipzig.%20Stadtforum%202006.pdf Fotos Christiane Knoll

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Ungarisches Pornomagazin 155 × 225 × 5 mm Papier Fundort: S.-Delitzsch-Str. gefunden am: 13.04.2012

Ein Pornomagazin in ungarischer Sprache. Gleichzeitig ein Symbol für die Vielfalt an verschiedenen Nationen und Kulturen, die dieses Viertel bewohnen und damit für die Homogenität. Gleichzeitig aber auch ein Zeichen von menschlichen Bedürfnissen, die unabhängig von Herkunft und Religion sind.

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Drei junge Männer, fast noch Jungs, sitzen gelangweilt an der Haltestelle Hermann-Liebmann Str. Sie rauchen hastig Zigaretten, vielleicht auch andere Dinge und hören über Handylautsprecher Musik. Man sieht nicht, dass sie vielleicht nicht von hier kommen. Ist ja auch nicht wichtig. Hier tummeln sich ja sowieso viele Kulturen, viele Nationalitäten. Nichts zu tun. Nichts zu reden. Der Tag zieht an Ihnen vorbei und die Zigaretten werden gegen Alkohol getauscht, oder einfach weitergeraucht. Man sieht sie durch die Straßen laufen. Die Zunge ist gelöster, die Stimmung auch. Wäre man ihnen gefolgt, hätte man sie die Hermann-Liebmann Str runter laufen sehen, vorbei an den runtergekommenen Häusern und vor Jahren verlassenen Geschäften, vorbei am Kindergarten und dem Brachland. Man hätte gesehen, wie sie in die Schulze-Delitzsch-Str einbogen, links, auf der Seite wo die Grundschule steht. Man hätte gesehen, wie sie ich gegenseitig hochschaukelten und laut grölend in den Hinterhof der Nummer 30 einstiegen und mehrere Hinterhäuser entdeckten. Man hätte den beißenden Geruch von Katzenpisse in der Luft wahrgenommen, die alten Matratzen gesehen und die eingetretene Tür des Hinterhauses links mit Vorsicht genossen. Vermutlich hätte man hier umdrehen wollen. Sei es wegen einer empfindlichen Nase, oder doch aus Angst vor der Polizei. Aber aus reiner Neugier hätte man beobachtet, wie die Jungs grölend das Haus gestürmt haben, alte Möbel vorfanden, betrunken und angestachelt von der Dynamik der Gruppe auf alles drauf gehauen haben. Die Küchenschränke – runter gerissen, die Fenster – eingeschlagen, die Lampen – von der Decke geholt. So hätte es ausgesehen, wäre man danach in das Haus gelangt. Der Lärm wäre unerträglich gewesen, für denjenigen, der draußen beobachtet hätte – fürchtete man sich doch vor neugierigen Nachbarn, oder der Polizei. Vielleicht hätte man durch ein Fenster beobachtet, wie sei ruhiger wurden und sich an kleineren Dingen erfreuten. Noch alte Flaschen in den Regalen, verschmutzte Magazine und Pornozeitschriften auf dem Boden. Vielleicht hätte man gesehen, wie die jungen Männer, fast noch Jungs, nicht wussten, wie sie in der Gruppe darauf reagieren sollten und schließlich in Kindermanier die Zeitungen auszumalen anfingen. Vielleicht hätte man gesehen, dass einer von Ihnen in die obere Etage ging und die anderen das nicht bemerkten. Und vielleicht hätte man genau gewusst, was passiert wäre, wen man ein Knarzen, ein Knacken und ein ohrenbetäubendes rauschendes Rumsen gehört hätte. Vielleicht hätte man den Staub in die Nase gekriegt und vielleicht hätte man die 2 anderen jungen Männer, fast noch Jungs auf den Hof laufen sehen, als die Treppe einstürzte. Der eine, mit der verschämt bemalten Pornozeitung in der Hand. Vielleicht. Ich treffe bei den Recherchen für die Ausstellung in einem Shisha-Café auf der Eisenbahnstraße einen jungen Mann namens Marek. Er sieht gepflegt aus, er macht eine Ausbildung zum Elektriker in der Konstantinstraße. Wir kommen ins Gespräch. Ich hatte eigentlich vor, mich mit dem Thema Kindheit in der Neustadt zu beschäftigen und frage ihn nach seiner ganz persönlichen Geschichte über die Neustadt. Er zögert kurz, lächelt dann aber und erzählt. Er habe seine Identität hier wiedergefunden, und das erst vor 2 Jahren. Er sei damals perspektivlos gewesen, habe nichts mit sich anzufangen gewusst und

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hätte viel rumgehangen. Damals wäre er mit ein paar Freunden in ein Abrisshaus eingestiegen und der eine hätte sich beim Einsturz der Treppe schwer verletzt. Er hätte beim Rauslaufen in der Hand noch eine Zeitung in der Hand gehabt, eine Pornozeitung. Und er hätte sie, Gott weiß warum mitgenommen. Und erst zu Hause wäre ihm aufgefallen, dass Sie nicht Deutsch gewesen sei. Ungarisch! Wie ein Zeichen! Ein Zeichen, dass er hier zu Hause sein durfte. Glaubte er doch tief im Innern als Sohn einer ehemaligen aus Ungarn stammenden Vertragsarbeiterfamilie immer nicht ganz angekommen gewesen. Etwas entwurzelt, etwas entrückt. Und nun dieses Zeichen, wer weiß woher. aufbewahrt hatte er sie, die Pornozeitung. Und in ihrer Hässlichkeit wäre sie für ihn so schön gewesen und hätte so viel bedeuted. „Und da endlich hab ich gewusst, was mir gefehlt hat. Ich hab das mit der Zeitung irgendwie so gesehen, dass es ein Wink war. ‚Hallo, du bist hier Willkommen! Du darfst so sein, wie du bist.‘ Und wenn‘s nicht wichtig gewesen wär, also so unterbewusst ... dann hätt ich die Zeitung ja wohl nicht unwillkürlich mitgenommen, oder?“ Er schmunzelt. „Ich mein, ich wusste ja immer, wo ich ursprünglich herkomm‘. Meine Mutter hat ja oft genug von Ungarn erzählt ... und davon wie es hier als Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR so zuging, aber ... irgendwie hab ich noch meine eigene Schubs in die Realität gebraucht. Und da war er.“ Bis zum Ende der DDR kamen aus verschiedenen ehemaligen sozialistischen Partnerländern wie zum Beispiel Vietnam, Mosambik, Angola oder Ungarn fast 94.000 Vertragsarbeiter ins Land. Sie stellten damit die größte Gruppe der Ausländer in der DDR. Die Arbeiter sollten hier einen Facharbeiterabschuss erlangen und den Arbeitskräftemangel der DDR decken. Die Leipziger Neustadt diente insbesondere in den 70er Jahr des vergangenen Jahrhunderts als Wohnstätte für viele Vertragsarbeiter in der Stadt. Besonders aber nach der Wende, als eine regelrechte Flucht aus diesem Stadtteil stattfand, belebten viele Migranten das Viertel wieder und machten es zu der bunten Kulisse, die es heute ist.

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Autor Verena Böß Literatur Marianne Krüger-Potratz: Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Waxmann, Münster 1991 Fotos Verena Böß

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Verrosteter Kronkorken 33 × 37 × 1 mm Metall, Kunststoff Fundort: Einertstraße gefunden am: 23.04.2012

Zerdrückt. Verrostet. Den Kräften der Natur ausgesetzt. Nur die Zacken und Kunststoffdichtung auf der Rückseite verraten die frühere Funktion. Dennoch ist der Kronkorken auch ein Symbol für die bedeutenden Entwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts.

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Eine Erinnerungsreise Nur durch Suchen in den sonst unscheinbaren Ecken der Leipziger Neustadt, finde ich den verrosteten Kronkorken. Unter Staub und Dreck vergraben im Schatten einer Häuserwand. Scheinbar nutzlos liegt er in einer Ecke der Einertstraße. Jedoch erinnert der verrostete Kronkorken nicht nur an eine weltweite Erfindung und deren Durchbruch. Er trägt auch die Historie einer längst vergangenen Epoche der Leipziger Neustadt in sich, die für die Bewohner des Stadtteils bedeutende Entwicklungen bereit hielt. War es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch üblich Waren und Lebensmittel auf Märkten zu kaufen und um Preise zu feilschen, entstanden im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung auch in Deutschland erste Warenhäuser mit festgeschriebenen Preiskennzeichnungen. Im damaligen Sachsen wurden sogenannte „Consumvereine“ gegründet. Kleine Vereine mit einer überschaubaren Mitgliederzahl sollten es der Bevölkerung ermöglichen, preisgünstige Güter in einem Laden erwerben zu können. Nachdem seit 1884 zwei Consumvereine, Vorläufer der heutigen „KONSUM“ Filialen, in Plagwitz und Connewitz entstanden waren, bemühten sich auch die Neustädter um einen solchen. Am 13. Dezember 1889 war es soweit. Der dritte Consumverein Leipzigs durfte offiziell gegründet werden. Die erste Filiale im Stadtteil Neustadt wurde in der Eisenbahnstraße Ecke Einertstraße eröffnet. Verkaufsstelle des ersten »Consumvereins« der Leipziger Neustadt im Jahr 1920

Wie noch heute in Konsumfilialen gängig, wurden auch damals im Neustädter Consumverein Getränkeflaschen aus Glas verkauft. Diese wurden Ende des 19. Jahrhunderts mit verschiedensten Arten von Deckeln verschlossen. Sowohl Porzellandeckel mit Gummiring als auch Korken mit Metallbügel waren als Verschluss weit verbreitet. Dass die Verschlüsse dem Druck des Flascheninhaltes oft nicht standhielten, war jedoch ein unangenehmes Problem. Die Flasche wurde undicht, der Inhalt lief aus oder wurde ungenießbar.

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Der Amerikaner William Painter löste dieses Problem und stellte 1892, kurze Zeit nach Eröffnung des Neustädter Consumvereins, seine Erfindung „Crown Cork“ vor. Eine kreisrunde und zackenförmige Metallplatte mit einem dünnen Korkring auf der Innenseite, die Getränkeflaschen luftdicht verschloss. Der Kronkorken war geboren und eroberte seitdem die Welt. In Deutschland setzte sich William Painters Erfindung erst sehr viel später, Anfang der 1970er Jahre, durch. Somit durften die Mitarbeiter des ersten Neustädter Consumvereins Ende des 19. Jahrhunderts noch nichts von der revolutionären Entdeckung des Amerikaners gehört haben. Verkaufsstelle des ersten »Consumvereins« der Leipziger Neustadt im Jahr 1924

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Autor Ulrike Riemann Links http://www.foodnews.ch/food_chain/50_forschung/Kronkorken.html http://www.rp-online.de/wissen/leben/warum-haben-kronkorken-immer-21-zacken1.2315154 http://leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf7.html Fotos Ulrike Riemann Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

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Vierkantschlüssel 60 × 37 × 12 mm Metall Ludwigstraße 60 - 80, Leipzig Neustadt gefunden am: 20.04.2012

Vier|kant|schlüs|sel, der Ein Vierkant ist ein Gegenstand mit einer vierkantigen Vertiefung am vorderen Ende. Er wird auf den entsprechend großen, vierkantigen Zapfen einer Schließvorrichtung aufgesetzt, um diese mit einer Drehbewegung zu öffnen oder zu schließen. Diese Schließvorrichtungen werden z. B. an Sicherungskästen, Fenstern oder zur Betätigung von Entlüfterventilen an Heizkörpern genutzt.

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Der Vierkantschlüssel In einem Container liegt er vor mir, als ob er auf mich wartet. Umgeben von Dreck, Kohlestücken, Scherben und Zigarettenstummeln, die die Arbeiter zurückgelassen haben. Das Haus, das ihn wohl Jahre lang beherbergte ist grau und heruntergekommen. Es steht in der Ludwigsstraße. Schon 1910, kurz nach ihrer Bebauung, war sie eine der einwohnerreichsten Straße Leipzigs. Heute gehört sie zu dem Stadtteil, der mit über 50% die höchste Leerstandsquote Leipzigs aufweist. So steht auch dieses Haus leer – leer, wie viele andere alte Häuser, die hier langsam verfallen oder nur zum Teil und sehr langsam saniert werden, weil das Geld fehlt. Am Fundort: Ludwigsstraße Nr. 75, leerstehend.

Wie in vielen Häusern zuvor auch, wird hier jetzt ausgeräumt und längst Vergessenes wieder zu Tage befördert – wenn auch nur, um diese vergessenen Gegenstände fortan an einem anderen Ort sich selbst zu überlassen. Einer davon ist ein Vierkantschlüssel. Er ist völlig seiner ursprünglichen Umgebung, seiner einstigen Aufgabe beraubt… nutzlos für den Arbeiter, der ihn in den Container warf. Nutzlos, vergessen, alt, überflüssig, beschmutzt und voller Oxidationsspuren. Aber nutzlos ist er nicht für mich. Ich fische ihn aus dem Container und nehme ihn an mich. Denn für mich ist er ein Teil Neustadt. Inzwischen steht er vor mir auf einem Sockel. Aus dem Gebrauchsgegenstand ist ein Ausstellungsstück geworden. Er ist völlig seiner ursprünglichen Umgebung, seiner einstigen Aufgabe beraubt – aber das ist nicht schlimm, denn er hat eine neue. Autor Julia Staatz Literatur Stein, Harald (1993): Geschichte Leipzig - Neustadt/Neuschönefeld. Neustädter Markt e.V. (Hrsg.) http://www.duden.de/rechtschreibung/Vierkantschluessel http://www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/projekte/stadtentw/stadtt/ost/ http://de.wikipedia.org/wiki/Vierkantschlüssel Fotos Julia Staatz

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Zündkerze 20 × 20 × 70 mm Porzelan, Eisen Fundort: Mariannenstraße 66 gefunden am: 23.10.2011

Dieses Prachtexemplar einer Zündkerze der Marke „Isolator“ gelangte unter dubiosesten Umständen in meinen Besitz. Eines Abends, in der Karnevalszeit, war ich zu Besuch bei einem, mir bis dahin unbekannten, Typen. Der es sich nicht grad leicht machte.

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Ich kannte da mal so einen Typen, ziemlich groß und sein Style war mindestens so heruntergekommen wie seine Bude in der Mariannenstraße, nur war sie im Gegensatz zu ihm recht klein. Er brauchte nicht viel, so lag überall im Raum kleineres Zeug herum und im Zentrum von diesem Chaos lag seine Matratze. Allein lebte er nicht, das konnte man an dem weiblichen Schliff in der Wohnung erkennen. Denn die Topfpflanzen wären wahrscheinlich in wenigen Tagen verdorrt und abgefackelt worden. Und so saß ich dort mit ein paar Freunden und diesem Typen und redeten über Gott, den er nach dem buddhistischen Glauben liebte, und die wunderbare Welt, die seiner Meinung nach eingeäschert werden sollte. Meine Blicke wanderten, während dieser Gespräche, des öfteren über das umliegende Sammelsorium. Zum einen war ich oft verwundert, zum anderen leicht angeekelt. Nur einen Karton mit diversen Autoerzatzteilen konnte ich mir nicht erklären. „ Hast du n Auto?“ „ Man weiß ja nie!“ entgegnete er mir. War ja eigentlich auch egal warum der Mist da stand, wird schon seine Richtigkeit gehabt haben. Der Typ war mir sowieso unklar, wahrscheinlich hat er sich in den umliegenden verlassenen Häusen umgesehen um Inventar für die Wohnung zu organisieren. Jedenfalls war der Umstand dieses Besuches ein nicht ganz so fröhlicher gewesen. Er war vor ein paar Monaten mit so einer Kleinen zusammen gezogen, die er auf ner Party kennen gelernt hatte. Blöd nur, das sie noch mit ihrem Macker zusammen war, der saß zwar grad im Knast wegen 2 kg Methamphetamin. Der hat sich ein wenig dumm angestellt! Und dann haben sie ihn geschnappt. Sicherlich hat sie ihn auf der Party mal ran gelassen, soll ja vorkommen so was, und dann hat der Arme sich verliebt und wohnte nun mit ihr zusammen. Scheiß Geschichte wenn ihr mich fragt. Aber so sind die Weiber halt. Ich weiß nicht ob er das Anfangs gewusst hat, aber er hat es ihr dann schon übel genommen, als dann seine falschen Hoffnungen auf rabiate Art und Weise zerstört wurden. Das sorgte selbstverständlich für eine angespannte Wohnsituation. Der Typ und die Kleine wechselten kaum ein Wort und liefen ohne ein „Guten Morgen“ an einander vorbei. Darauffolgend ertränkte er sich in einem Cocktail aus Selbstmitleid, billigem Wein und bewusstseinserweiternden Drogen. Sicherlich nicht die beste Möglichkeit um mit seinen inneren Befindlichkeiten fertig zu werden. Aber da sollte ich mal ganz still sein, den Fehler muss wohl jeder selber machen. Das schlimmste war ja noch das die Straße in der er wohnte genau so hieß wie sie. Marianne aus Stralsund, war mir auf jeden Fall bekannt, denn auch ich hatte sie mal auf einer Party kennen lernen dürfen. Und wie es der Zufall wollte war es genau so eine Art Veranstaltung auf der wir, nach einer Weile, an diesem Abend, auf dem Weg waren.

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So raffte sich die träge Meute auf, steuerte in den Flur und zog sich die Schuhe an. Ich selbst stand auch auf und die Kiste mit Autoteilen stand mir im Weg und kippte aus. Das hat dann, Gott sei Dank, niemanden weiter interessiert. Nur mich störte es, ich hätte mir schließlich bald den Hals gebrochen! Ich hob, nicht besonders liebevoll, die Schachtel auf und steckte mir eine Zündkerze in die Tasche. Warum? Man weiß ja nie!

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Autor Christoph Knitter

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HOMEPAGE http://www.uni-leipzig.de/wunderkammer/fundstuecke/ LEITUNG Dr. Roland Meinel, Prof. Andreas Wendt GESAMTBEARBEITUNG Lisa Breyer INSTITUT FÜR KUNSTPÄDAGOGIK Ritterstraße 8-11 04109 Leipzig www.uni-leipzig.de/studienart Leipzig 2012

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