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Verbringen Sie mindestens zwei Stunden pro

„VERBRINGEN SIE MINDESTENS ZWEI STUNDEN PRO WOCHE MIT EINEM ZUFÄLLIG AUSGEWÄHLTEN KUNDEN!“

Mit seiner Art der Recherche für seine Brand-Consulting-Firma überrascht Martin Lindstrom: Er besucht Kunden in ihrem Zuhause, verbringt dort viel Zeit mit ihnen –und öffnet sogar ihre Badezimmerschränke, schaut unter Betten und blättert durch Fotos. In seinem Buch „Small Data“ beschreibt Lindstrom, wie unzählige, winzige Infohäppchen zu einer Idee für ein besseres Geschäft werden. Wir wollten wissen, wie dieser Ansatz auf die Modebranche angewendet werden kann – und landeten bei einem Gespräch über Religion, Privatsphäre und Spiegel, die das Zauberwerkzeug von Schneewittchens Stiefmutter in den Schatten stellen. Interview: Petrina Engelke. Fotos: John Abbott

Herr Lindstrom, bei Ihnen heißt

Recherche, kleinste Beobachtungen zu analysieren, um versteckte Hinweise für Verbesserungen zu finden. Wie lässt sich diese Technik von jedermann nutzen?

Ich denke, am wichtigsten ist es, sich als Geschäftsinhaber zuallererst zu fragen: Wann haben Sie zuletzt Zeit mit einem Kunden verbracht, einem unbekannten, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchten Menschen? Die meisten würden antworten: noch nie. Aber unter keinen Umständen kann ein Bericht einen vernünftigen Eindruck der

Kundenmentalität liefern. Ich gehe mal davon aus, dass

Sie Ihren Partner auch nicht ausgesucht haben, indem

Sie eine Excel -Tabelle ausgefüllt, eine Nutzwertanalyse gemacht und dann entschieden haben, ob Sie ihn heiraten wollen oder nicht. Das ist aber in etwa, was wir im Geschäftsleben versuchen.

Wie lässt sich diese Erkenntnis auf kleinere Geschäfte als die großen Marken übertragen, mit denen Sie arbeiten?

Inhaber kleiner Läden und Jungunternehmer sind am

Anfang gut, weil sie meist selbst ein Bedürfnis hatten, für das sie eine Lösung erfanden. Aber wenn die Firma wächst, kann dieser Bedarf sich wandeln oder verschwinden oder die Verantwortlichen sind so mit der Bürokratie beschäftigt, dass sie den Kontakt zu neuen Entwicklungen verlieren. Deshalb rate ich als Daumenregel: Verbringen Sie mindestens zwei Stunden pro Woche mit einem zufällig ausgewählten Kunden, auch das gesamte Managementteam sollte das tun. Diese „Small Data“ stoßen ziemlich oft auf etwas ganz anderes, das dennoch äußerst wichtig ist, aber noch niemand sonst herausgefunden hat. In der konventionellen Recherche dagegen folgen alle den Big Data, und alle bekommen dieselbe Antwort.

In der Mode wirft zum Beispiel der Begriff Authentizität Fragen auf.

Lassen Sie mich zunächst einmal Authentizität definieren: Es muss echt sein, es muss ein Ritual sein, relevant und Teil einer Story. Ich finde, Mode neigt dazu, sich sehr schnell eine Dimension zu greifen und den Rest zu vergessen. Aber das Bedürfnis nach Authentizität ist nicht unbedingt erfüllt, wenn etwas handgemacht aussieht oder ein Stück Geschichte mitbringt oder ein Unikat ist. Authentizität ist ein Paket, genauso wie wenn man in eine Kirche geht: Die Raumwirkung, die Akustik, die Reden, das Kerzenlicht, all diese Dinge machen Kirche aus.

Welches Bedürfnis steht denn hinter Authentizität?

Heute suchen die Menschen etwas, das ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl unter Gleichgesinnten vermittelt, weil die Welt zu groß ist. Unser Problem ist Transparenz. Je mehr Transparenz es gibt, desto mehr kann ich sehen, was andere haben und ich nicht, umso unglücklicher werde ich, umso mehr fühle ich mich verdrängt. Deshalb ist auch „aus der Region“ so groß geworden. Es gibt uns ein Sicherheitsgefühl, zurück vor die eigene Haustür zu gehen und unsere eigene Sprache zu entwickeln, die nur wenige verstehen. Es ist menschlich, auf steigenden Druck und Unsicherheit zu reagieren, indem es uns immer stärker zurück zu unseren Wurzeln zieht. Deshalb wenden immer mehr Konsumenten jetzt Rituale an, denn die liefern einen Rahmen aus Vertrauen und Sicherheit. All das verbindet sich mit Authentizität und es lässt sich keine einzelne Dimension herauslösen. Man muss das gesamte Paket verstehen, und das ist im Grunde eine Religion.

Dann müssen wir wohl eine Modereligion gründen. Moment mal: Mode ist gewissermaßen ja schon eine Religion!

In der Tat! Nehmen Sie United Colors of Benetton damals: Die hatten sehr klare Ansichten über die Welt, so wie Diesel eine Zeitlang. Aber manche Marken verraten ihre Werte, sobald sie lieber den Geldquellen folgen, als dem treu zu bleiben, wofür sie stehen. Und so was können Kunden heute riechen. Früher konnten sie das nicht, weil damals das Logo und Design die Modewahl bestimmten. Heute kommen viele Faktoren hinzu, die mindestens ebenso wichtig sind.

In der Modebranche gibt es auch Versuche, Wartezeiten zu reduzieren, etwa mit Selbstbedienungskassen,

Der BrandingExperte Martin Lindstrom hat sieben Bücher geschrieben, u. a.: „Small Data“ (2016) und „Buyology“ (2008). Sein Team hat Tausende Konsumenten zu Hause besucht, um zum Kern ihrer Bedürfnisse und Wünsche vorzudringen. Dabei arbeitete Lindstrom für Marken wie Maersk, Burger King und die Mall of the Emirates in Dubai im Auftrag von Majid al Futtaim.

Personal mit Tablets oder einstündigen Lieferzeiten. Meinen Sie, das bringt die Kunden dazu, bald wiederzukommen?

Nein, definitiv nicht. Der Glaube, dass Kunden sich rational verhalten wollen, dass sie alles so schnell wie möglich abwickeln wollen, mag beim Sockenkauf gerechtfertigt sein, aber in vielen anderen Modekategorien ist er falsch. Eines muss der Handel verstehen: Man muss seinem Channel treu bleiben. Für schnelle Transaktionen geht man online. Für den stationären Handel sollte man die vorhandenen Stärken nutzen: Dort kann man sich umschauen, etwas entdecken und man bekommt Vorfreude.

Wie würden Sie diese Stärken nutzen?

Als Händler kann man ein Gemeinschaftsgefühl herstellen. Wir verbringen viel Zeit mit Leuten, denen wir den gehobenen Daumen zeigen, ich mag dich, du bist mein Freund, aber wir wissen ganz genau, dass das keine echte Gemeinschaft ist. Den Modehandel der Zukunft wird prägen, dass er viele Gemeinschaften aufbaut, in denen sich Gleichgesinnte zusammenfinden. Sie werden unter anderem ihre Kleider feiern, aber das dient nur der Stärkung der Gemeinschaft. Zweitens werden Läden sinnlicher, und zwar für alle fünf Sinne. Das habe ich erst neulich in Dubai gesehen, mit einer Kombination aus Bar und Restaurant, die zufällig auch ein Modeladen war. Dort möchten die Leute gern Zeit haben, herumlaufen und gucken, einen tollen Service genießen und sich wichtig fühlen. Dort wird es zwei Arten von Transaktionen geben: Einmal Kleidung, an die jeder online herankommt, und zudem eine limitierte Kollektion, die es nur im Laden gibt, zu einem höheren Preis, aber verbunden mit Zugang zu bestimmten Teilen auf der Handelsfläche, wo sonst niemand hin kann, sodass man sich für etwas Besonderes halten kann.

Was ist denn mit Technologie, die Kundeninformationen sammelt, besonders wenn man Online- und Offlinekanäle verbindet?

Meiner Meinung nach wird Privatsphäre in Zukunft der Faktor Nummer eins. Letztendlich werden diejenigen Marken gewinnen, die von Anfang an eine sehr klare Haltung dazu haben und sich entsprechend aufstellen. Auf dem Weg dahin wird es eine Phase mit vielen Abkürzungen geben, die es erlauben, auf Datenbasis Kunden schneller und genauer zu bedienen und eine Zeit lang viel daran zu verdienen. Aber an irgendeinem Punkt werden sich die Kunden die Finger verbrennen, weil die Daten offengelegt oder verkauft oder sonst wie missbraucht werden. Diesen Weg können Firmen nicht einfach so gehen, sie müssen intern sehr strenge ethische Richtlinien aufbauen, die die Zukunft der Marke definieren. Tun sie das nicht und lassen ihre IT-Abteilung einfach mal machen, werden sie die ganz e Marke ruinieren.

Was denken Sie über Läden, die Gesichtserkennung nutzen, um Personal zu reduzieren, wie Amazon Go in den USA oder Jack & Jones und Vero Moda in China?

Diese Technologien werden übernommen werden, aber nur in ganz bestimmten Teilen von Ländern und Gruppen. Wir werden eine neue Generation erleben, die zunehmend unsicher und instabil ist. So ist etwa die Selbstmordrate unter jungen Menschen in Großbritannien in den letzten Jahren um 25 Prozent gestiegen. Die Mode- und Kosmetikbranche wird versuchen, diese Unsicherheit zu kompensieren, indem sie das Gefühl vermittelt, nicht allein zu sein, und die Antwort liefert, mit der man sich sicherer fühlt. Und das wird dann wohl mit dem verbunden, was wir in China sehen: Ein digitaler Spiegel sagt dir, dass du deinen Look ändern musst, um mehr akzeptiert zu werden, dann bekommst du mehr Daumen hoch beim nächsten Snapchat-Foto, das du machst. Diese Art Technologie wird sich in bestimmten R egionen der Welt durchsetzen, etwa in China, wo Privatsphäre anders definiert wird, als Sie und ich es täten. In den USA mag es auch eine gewisse Bedeutung bekommen, aber in Europa wird so etwas schwer zu kämpfen haben.

Wenn das nun so recht kein Vorbild für Europa ist, was ist denn zentral für CRM in europäischen Läden?

Nun, das ist ganz einfach: Man muss Kultur aufbauen. Heute ist es dem Personal schnurz, ob es bei H&M oder bei Zara arbeitet. Es braucht Kulturen, die so stark sind, dass man beim Besuch eines Ladens denkt, man sei in einer Sekte gelandet, wo das Personal Feuer und Flamme für die Marke ist und für ihre Werte und Ethikrichtlinien. Wenn ich wiederkehre und sie sagen: „Hey Martin, schön dass du wieder da bist, ich hab dir das hier zurückgelegt, weil ich dachte, das passt super zu dir“, dann werde ich ständig wiederkehren. Im Onlineteil davon werde ich mich dagegen in Gemeinschaften einklinken, da hilft mir die Marke, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen. Und diese beiden Dimensionen müssen sich verbinden. Deshalb glaube ich, dass viele Händler zu einer Art Gemeindezentrum werden. Statt dass wir in die Kirche oder so gehen, könnte der Modeladen ein richtiges Gemeindezentrum werden, wo man etwas trinken geht, und wo man auch die Uniform kauft, die zur Gemeinde oder zum Stamm gehört.

Viele sogenannte Minderheiten in den USA sagen „representation matters“, und eine erste Wirkung sieht man in Hollywood. Ist das auch etwas, das die Modebranche in Zukunft bedenken sollte?

Definitiv. Mode muss sehr klare Ansichten über richtig und falsch vertreten. Modemarken, die versuchen, alles für jeden zu sein, können nicht überleben. Es gibt natürlich immer Ausnahmen, aber die Leute wollen Dinge kaufen, die eine starke Meinung über das Leben haben und darüber, wer sie sind. Denn Menschen brauchen dringend eine Identität.

„Modemarken, die versuchen, alles für jeden zu sein, können nicht überleben.“

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