style in progress 1/2019 – Deutsche Ausgabe

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SO LÄUFT’S

B e s s e r m ac h e n – O m n i ta i l

„VERBRINGEN SIE MINDESTENS ZWEI STUNDEN PRO WOCHE MIT EINEM ZUFÄLLIG AUSGEWÄHLTEN KUNDEN!“ Mit seiner Art der Recherche für seine Brand-Consulting-Firma überrascht Martin Lindstrom: Er besucht Kunden in ihrem Zuhause, verbringt dort viel Zeit mit ihnen – und öffnet sogar ihre Badezimmerschränke, schaut unter Betten und blättert durch Fotos. In seinem Buch „Small Data“ beschreibt Lindstrom, wie unzählige, winzige Infohäppchen zu einer Idee für ein besseres Geschäft werden. Wir wollten wissen, wie dieser Ansatz auf die Modebranche angewendet werden kann – und landeten bei einem Gespräch über Religion, Privatsphäre und Spiegel, die das Zauberwerkzeug von Schneewittchens Stiefmutter in den Schatten stellen. Interview: Petrina Engelke. Fotos: John Abbott

H

err Lindstrom, bei Ihnen heißt Recherche, kleinste Beobachtungen zu analysieren, um versteckte Hinweise für Verbesserungen zu finden. Wie lässt sich diese Technik von jedermann nutzen? Ich denke, am wichtigsten ist es, sich als Geschäftsinha­ ber zuallererst zu fragen: Wann haben Sie zuletzt Zeit mit einem Kunden verbracht, einem unbekannten, nach dem Zufallsprinzip ausgesuchten Menschen? Die meisten würden antworten: noch nie. Aber unter keinen Umstän­ den kann ein Bericht einen vernünftigen Eindruck der Kundenmentalität liefern. Ich gehe mal davon aus, dass Sie Ihren Partner auch nicht ausgesucht haben, indem Sie eine Excel-Tabelle ausgefüllt, eine Nutzwertanalyse gemacht und dann entschieden haben, ob Sie ihn heiraten wollen oder nicht. Das ist aber in etwa, was wir im Ge­ schäftsleben versuchen. Wie lässt sich diese Erkenntnis auf kleinere Geschäfte als die großen Marken übertragen, mit denen Sie arbeiten? Inhaber kleiner Läden und Jungunternehmer sind am Anfang gut, weil sie meist selbst ein Bedürfnis hatten,

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für das sie eine Lösung erfanden. Aber wenn die Firma wächst, kann dieser Bedarf sich wandeln oder verschwin­ den oder die Verantwortlichen sind so mit der Bürokratie beschäftigt, dass sie den Kontakt zu neuen Entwicklungen verlieren. Deshalb rate ich als Daumenregel: Verbringen Sie mindestens zwei Stunden pro Woche mit einem zufällig ausgewählten Kunden, auch das gesamte Managementteam sollte das tun. Diese „Small Data“ stoßen ziemlich oft auf etwas ganz anderes, das dennoch äußerst wichtig ist, aber noch niemand sonst herausgefunden hat. In der konven­ tionellen Recherche dagegen folgen alle den Big Data, und alle bekommen dieselbe Antwort. In der Mode wirft zum Beispiel der Begriff Authentizität Fragen auf. Lassen Sie mich zunächst einmal Authentizität definieren: Es muss echt sein, es muss ein Ritual sein, relevant und Teil einer Story. Ich finde, Mode neigt dazu, sich sehr schnell eine Dimension zu greifen und den Rest zu vergessen. Aber das Bedürfnis nach Authentizität ist nicht unbedingt erfüllt, wenn etwas handgemacht aussieht oder ein Stück Geschichte mitbringt oder ein Unikat ist. Authentizität ist ein Paket, genauso wie wenn man in eine Kirche geht: Die Raumwirkung, die Akustik, die Reden, das Kerzenlicht, all diese Dinge machen Kirche aus. Welches Bedürfnis steht denn hinter Authentizität? Heute suchen die Menschen etwas, das ihnen ein Zuge­ hörigkeitsgefühl unter Gleichgesinnten vermittelt, weil die Welt zu groß ist. Unser Problem ist Transparenz. Je mehr Transparenz es gibt, desto mehr kann ich sehen, was andere haben und ich nicht, umso unglücklicher werde ich, umso mehr fühle ich mich verdrängt. Deshalb ist auch „aus der Region“ so groß geworden. Es gibt uns ein Sicherheits­ gefühl, zurück vor die eigene Haustür zu gehen und unsere eigene Sprache zu entwickeln, die nur wenige verstehen. Es ist menschlich, auf steigenden Druck und Unsicherheit zu reagieren, indem es uns immer stärker zurück zu unseren Wurzeln zieht. Deshalb wenden immer mehr Konsu­ menten jetzt Rituale an, denn die liefern einen Rahmen aus Vertrauen und Sicherheit. All das verbindet sich mit Authentizität und es lässt sich keine einzelne Dimension herauslösen. Man muss das gesamte Paket verstehen, und das ist im Grunde eine Religion. Dann müssen wir wohl eine Modereligion gründen. Moment mal: Mode ist gewissermaßen ja schon eine Religion! In der Tat! Nehmen Sie United Colors of Benetton damals: Die hatten sehr klare Ansichten über die Welt, so wie Diesel eine Zeitlang. Aber manche Marken verraten ihre Werte, sobald sie lieber den Geldquellen folgen, als dem treu zu bleiben, wofür sie stehen. Und so was können Kunden heute riechen. Früher konnten sie das nicht, weil damals das Logo und Design die Modewahl bestimmten. Heute kommen viele Faktoren hinzu, die mindestens ebenso wichtig sind. In der Modebranche gibt es auch Versuche, Wartezeiten zu reduzieren, etwa mit Selbstbedienungskassen,


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