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Das Prinzip von Spiel, Spaß und Spannung
DAS PRINZIP VON SPIEL, SPASS UND SPANNUNG
Schon 1974 hat Michele Ferrero mit seinem weltberühmten Überraschungsei vorgemacht, was sich gerade als gigantischer Markttrend etabliert: Gamification als Konsumbeschleuniger am PoS. Über hochentwickelte Technologien und KI-gesteuerte Systeme wird der natürliche Spieltrieb der Kunden nach Lust und Laune da platziert, wo er am meisten Sinn macht: im direkten Umfeld des Produkts und der Marke. Erste Leuchtturmprojekte im Handel lassen erahnen, dass der kreativen Spielwiese in der Kombination aus digitaler und physischer Welt kaum Grenzen gesetzt sind. So wird der Point of Sale zum Point of Emotion. Text: Isabel Faiss. Fotos: Stores
„Media Machine“ nennen die Architekten von Clou Architects ihr Konstrukt mit interaktiven Fassaden für die UniFun Mall in Chengdu. Digital bespielbare Flächen kommunizieren und interagieren mit ihrer Umwelt.
Gamification sammelt als Begriff alle Ideen, sich die Technik und Logik, Ästhetik und Funktionalität von Gaming-Plattformen zunutze zu machen und genreübergreifend einzusetzen. Die Herangehensweisen sind vielfältig, das Ziel aber immer das gleiche: Kunden sollen durch Spiele, den spielerischen Umgang mit Technologie und Waren oder direkt in ihren Lieblingsspielen angesprochen und zum Shoppen animiert werden. Das funktioniert über themenspezifische Capsule-Kollektionen, die exklusiv innerhalb eines Games angeboten werden, integrierte Gaming Tools am PoS oder App-gesteuerte Verknüpfungen von realer und virtueller Welt. Manche Marken legen im Metaverse buchstäblich eine Fährte und locken die User darüber in den realen Store. Der Spaß am Sammeln, Spielen, Entdecken und Gewinnen ist der menschliche Urtrieb, der daraus eine Erfolgsstory macht.
DAS PHYGITALE ERLEBNIS
Als sich Digital Design-Masterminds wie Art Director Andrés Reisinger, Amber Jae Sloten von The Fabricant und Fredrik Hellberg von Space Popular für das exklusive Dezeen Club Symposium über den rasanten Aufstieg des Metaverse austauschten, saßen sie in einer virtuellen Rooftopbar auf Gather. Per Avatar nahmen über 200 Gäste an der Diskussion teil, genossen die fiktive Szenerie, bestellten Cocktails. Was auf Plattformen wie Gather, Fortnite, Altspace oder Second Life mithilfe des Avatars Realität ist, kommt jetzt als Erlebnis in den physischen Retail: die fließende Vermischung von realem und digitalem Erlebnis in Echtzeit. Gamification schlägt im Physischen die Brücke zu einer individualisierten virtuellen Parallelwelt, doch der Konsum bleibt real abbildbar und der direkte Effekt einer Maßnahme ist dank Datenerfassung messbarer denn je.
Unifun/Chengdu Multimedia-Fassade
UniFun Chengdu ist eines der Projekte, die 2021 ein Zeichen gesetzt haben. Die Mall verbindet die physische und die virtuelle Welt, indem Kunden schon bevor sie den physischen Raum betreten über die interaktiven Flächen der Fassade virtuell buchstäblich hineingezogen werden – beispielsweise über das Scannen des angezeigten QRCodes. Die Mall interagiert über ihre Fassaden mit der Umgebung, die bewusst als kleiner Park angelegt ist – der perfekte Ort für den After-WorkTreff der aufstrebenden Generation von Technologen, die sich in dem Viertel Tianfu üblicherweise tummelt. Und Passanten werden über Spotlights, aktuelle Themen, kleine Games und Aktionen in Echtzeit themenspezifisch angesprochen.
Digitale Werbung, aktuelle Games, Feuerwerk zum chinesischen Neujahresfest – die interaktive Fassade des UniFun lässt sich individuell auch per Smartphone erleben.
Inspiriert von der
Anime-Game-Kultur in den sozialen Medien bietet das Cube-Konzept eine neue Plattform, Architektur und digitalen Kontext zu verbinden. Innovatives architektonisches Design und topaktuelle Inhalte – ob globalisiert oder lokalisiert – synchronisieren sich, um gemeinsam ihre jeweilige Reichweite über die Schnittstelle zwischen virtueller und physischer Welt zu erweitern.“
Clou Architects
18–20/01/2022 Frankfurt
Spaß am laufenden Band: Im Skill Cube lässt Puma seine Kunden in virtuellen Trainingssessions mit Profisportlern seine Produkte testen.
Erlebnisse wie diese, die Online und Offline nahtlos verbinden, sind definitiv die Zukunft der Gamification im Handel. Aber der Schlüssel ist die Genialität. Stupide Technik-Tools auf seinen Flächen in der Hoffnung zu installieren, das mache einen besonders, wird nicht funktionieren. Man muss bei seinem Kunden anfangen, sich fragen, wie er tickt und daraus ein wirklich authentisches Erlebnis für ihn kreieren.“
Oliver Roddy, Greenroom Design Puma/New York Der Skill Cube – Markenbotschafter am PoS
Auf der Fifth Avenue in New York eröffnete Puma 2019 seinen ersten Flagshipstore in den USA. Mit technisch ausgestatteten Engagement Zones setzt das Konzept vor allem auf die Gaming- und Technikaffinität der jungen Zielgruppe. Das Designbüro Greenroom kreierte dafür als Herzstück den Skill Cube als Attraktion und Touchpoint zwischen Kunde und Marke: „Wir haben ein Testszenario für Produkte entwickelt, das es dem Kunden ermöglicht, gecoacht von Sportikonen wie Romelu Lukaku, Antoine Griezmann und Lewis Hamilton einige Übungseinheiten zu absolvieren“, sagt Oliver Roddy von Greenroom Design. Jeder Kunde kann sich für den Skill Cube im Store Produkte aussuchen und sie direkt testen.
Mit elf themenbezogenen Erlebniszonen und 29 verschiedenen Produktinteraktionsstationen, die sich über die fünf Stockwerke verteilen, soll die Mall zum mehrdimensionalen Erlebniszentrum werden.
JD Mall/Xi’an Erlebnistempel der Superlative
Omnichannel ist hier als nahtlose Verschmelzung von Serviceleistungen, Vertrieb, Logistik und Warensteuerung zu verstehen, denn JD.com profitierte für die Eröffnung seiner physischen Omnichannel-Mall in Xi’an von seiner Expertise im E-Commerce. Über das Scannen von QR-Codes in der App WeChat können sich Kunden Produkte direkt nach Hause schicken lassen, ihren Kauf auf WeChat mit ihrer Community teilen und Bonuspunkte sichern. Das Erlebnis steht überall im Vordergrund. Mit technischen Innovationen und Gadgets wie holografischen Projektionen, VR-Tools, KI in Form von Robotern, einem virtuellen Livestreamraum und einem öffentlichen Gamingbereich spricht die Mall ihre technikaffinen Kunden an.
@whitesandofficial
white-sand.it
Hipanda Store/Tokio Das Ghost House
Die dazugehörige App macht aus diesem Store im Herzen Tokios über AR und AE-Tools ein mehrdimensionales Erlebnis. Das Ghost House besteht aus einer Reihe von Sequenzen, in denen der Besucher auf der Suche nach dem Hausherrn, dem grimmigen Hipanda ist. Auf den ersten Blick ist er unsichtbar und taucht dann plötzlich bei verschiedenen Interaktionen auf. Einige davon digital, einige analog.
Mit dem Hipanda Store in Tokio schuf die japanische Designagentur Curiosity bewusst einen Erlebnisraum, der die Erwartungen der Kunden an das Einkaufserlebnis neu definierte.
Für Agenturgründerin und Kreativdirektorin Lubna Keawpanna von Smack Agency ist Gaming als Marketingtool bereits gesetzt.
Breakout with Karl ist ein klassisches Arcade-Game, das auf allen Devices mühelos gespielt werden kann – auch in den Karl Lagerfeld Stores.
Breakout with Karl/Smack Agency „Es zeigt, dass man sich Gedanken gemacht hat und etwas zurückgeben will“
Mit Breakout with Karl kreierte die britische Designagentur Smack Agency gerade das dritte Webgame für Karl Lagerfeld zum Launch der Frühjahr-/Sommer-Kollektion 2022. Kreativdirektorin Lubna Keawpanna erklärt, warum in diesem Thema viel mehr Wertschöpfung steckt, als auf den ersten Blick erkennbar ist.
Die Zusammenarbeit mit Karl Lagerfeld war der perfekte Kick-off. Wie viele weitere Projekte stecken gerade in der Pipeline?
Seitdem haben wir Games für Tory Burch für den Markt im Nahen Osten erarbeitet und bringen nächsten Monat ein Spiel zum 50. Jubiläum von Molton Brown heraus. Und wir hatten das Glück, in den letzten zehn Jahren Spiele für großartige Einzelhändler wie Ted Baker, Crabtree & Evenlyn, St. Tropez, Olivia Burton und viele mehr zu entwickeln.
Worin steckt das große Potenzial für den Einzelhandel?
Gamification ist eine großartige Möglichkeit, Kunden zu bewegen und ihnen das Gefühl zu geben, etwas für sie getan zu haben. Dass man an sie gedacht hat und ihnen etwas zurückgeben möchte. Es zeigt diese großen Marken in neuem Licht, macht sie spielerischer, sympathischer und zugänglicher. Die Nutzer lieben es, mit digitalen Aktionen zu interagieren, die gut gemacht sind und ihren Lifestyle repräsentieren, abgerundet durch ein tolles Werbegeschenk. Das ist die Win-win-Situation für beide, für Marke und Konsument.
Wieviel Kraft hat das Thema in Zukunft?
Wenn Marken auf völlig neue Art wahrgenommen werden, bleiben sie im Gedächtnis, wodurch sich der Umsatz steigert. Es ist eine großartige Möglichkeit, bestehende und neue Kunden zu binden, das Kundenerlebnis zu verbessern, eine Marke einzigartig zu machen und die Erwartungen technisch versierter Kunden zu erfüllen. Das wird bald ein No-Brainer sämtlicher Marketing-Mixes in der Modeindustrie.
Nike/Paris Europas House of Innovation
Nach New York und Schanghai öffnete in Paris das erste Nike House of Innovation in Europa. Der Name ist Programm, wie es die Liste an technischen und App-basierten End-to-end-Digitallösungen erkennen lässt, die Online und Offline nahtlos miteinander verknüpfen. So kann man sich beispielsweise online eine Auswahl erstellen und beim nächsten Besuch direkt in die Umkleide liefern lassen oder per Swoosh Text mit den Mitarbeitern chatten.
Showcase der geballten Data-Kompetenz. An der Mission-ControlWand veröffentlicht Nike alles an Daten, was den Kunden interessiert: Sportergebnisse, Aktionen im Store und weltweit, App-Innovationen, Produktinfos aus dem Research Lab und auch das Wetter. An der interaktiven Gaming Station Kids Pod können Kunden die Produkte aus der Kinder- und Jugendabteilung bei kurzen Bewegungsspielen über den Monitor direkt ausprobieren.
Philipp Reinartz/Pfeffermind „Das Meiste geschieht im Kopf“
Die Berliner Agentur Pfeffermind ist eine der wenigen, die sich ausschließlich auf die Entwicklung von Games und gamebasierten Lösungen für Unternehmen spezialisiert hat. Mit Kampagnen für unter anderem Ikea, Samsung und das Goethe Institut kennt Agenturinhaber Philipp Reinartz die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten für den Einzelhandel.
Stecken hinter dem Erfolg von Gamification eigentlich hochkomplexe Marktmechanismen oder pure, menschliche Logik?
Die Erfolgsgeschichte von Gamification beruht meiner Erfahrung nach auf der Konzentration auf das Individuum. Es wird eben nicht primär nach Marktmechanismen geschaut. Wir überlegen heutzutage viel mehr als früher: Was macht Menschen wirklich Spaß? Wie können wir sie motivieren? Wie können wir ihnen lästige To-Dos angenehmer gestalten?
Gibt es Sweet-Spots, an denen man idealerweise in das Thema einsteigt?
Gamification kann auch im Einzelhandel in ganz verschiedenen Bereichen eingesetzt werden. Geht es um die Mitarbeiter, geht es um die Kunden? Was sind meine Ziele? Spiele sind Motivationskunstwerke. Gamification überträgt deren Pinselstriche auf andere Leinwände.
Wie viel Potenzial sehen Sie lang- und mittelfristig?
Der Gamification-Markt wächst seit einigen Jahren rasant. Mittlerweile haben die meisten großen Firmen das Thema auf dem Schirm, mit einem Drittel der DAX-Konzerne habe ich bereits Projekte gemacht. Vor zehn Jahren mussten wir Klinken putzen, um Gehör für unsere Ideen zu finden.
Als Gamification-Experte arbeitet Philipp Reinartz mit seiner Agentur Pfeffermind mit Kunden wie Ikea, Sky oder Samsung zusammen.