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Mut ist eure einzige Chance
MUT IST EURE EINZIGE
CHANCE!
Inspiration! Überraschung! Begeisterung! Es ist der Job des Modeeinzelhandels, jede Saison Neues und Spannendes zu bieten. Aber oft fehlt es an der dafür nötigen Offenheit, Neugier und an Mut. Oder – Moment: Wandelt sich das gerade?
Text: Nicoletta Schaper. Fotos: Gesprächspartner
„Und, hast du was Neues gesehen?“ Das ist die auf Modemessen wohl am öftesten gestellte Frage unter Retailern. Doch die Antwort scheint nicht wirklich interessant. „Viele Händler sind auf den Messen nicht offen genug für Neues, sie sehen nicht nach rechts und nicht nach links, als hätten sie Angst, von uns Agenten angesprochen zu werden“, sagt René Michaelis, Inhaber der Michaelis Fashion Agency. „Vor allem viele kleine Händler sehen sich außerstande, überall Neues zu sichten und uns wirklich zuzuhören – wohl weil sie gefangen in ihren kaufmännischen Begebenheiten und frustriert sind, aufgrund von Frequenzmangel, unhöflichen Kunden und rückläufigen Umsätzen.“ Dazu kommt eine gewisse Überalterung im kleinen Facheinzelhandel, mit nicht wenigen Protagonisten, die ihr Geschäft in den goldenen 1980er-Jahren gegründet haben und denen ein Nachfolger und die Energie für die heute ungleich größeren Herausforderungen fehlt. „Wer kurz vor der Pensionierung steht, lehnt sich im Allgemeinen nicht mehr allzu weit aus dem Fenster und scheut das Risiko“, sagt Patrick Ebnoether von der Agentur Wearhouse im schweizerischen
„Nur wenn ich weiß, wer mein Kunde ist, kann ich für ihn ein
kaufen.“ Roberto Bauer, Inhaber Roberto Bauer, Lichtenfels
„Gute Einkäufer sind offener geworden, sie haben erkannt, dass die Konsumenten die Trends heute sofort haben wollen.“
Ben Botas, Inhaber Agentur Ben and
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„Keiner ordert die Nummer sicher, weil es eine Nummer sicher einfach nicht mehr gibt. Was letzte Saison gut war, ist diese Saison womöglich durch und flutet in geballter Ladung über billigere Kanäle.“
Patrick Ebnoether, Inhaber Agentur Wearhouse
Erlenbach. „Aber der Kunde, der schon vieles im Schrank hat, reagiert ja gerade auf neue Impulse. Dazwischen liegt die große Diskrepanz.“
Top oder Flop! Indes vollzieht der Markt seinen von der Digitalisierung vorangetriebenen Wandel umso dynamischer – und tiefgreifender. Dieser ist nach wie vor mit einem Überangebot von zu konformer Ware und mit Konsumenten, die manchen Einkäufer an Wissen und Information längst überholt haben, konfrontiert. Vor allem im Premiumsegment funktioniert nunmehr das Spezielle, das Einzigartige. Damit haben sich die Erfolgskriterien im Handel grundlegend geändert. „Die Sortimente brauchen Spannung und Emotion“, so Patrick Ebnoether. „Das Basic-Geschäft ist ohnehin ins Netz oder zu den Vertikalen abgewandert.“ Aber statt Innovationen wird immer noch am liebsten die ewig gleiche dunkelblaue Jacke geschrieben. „So glaubt der Verkäufer auf der Fläche, dass die Marke doch immer nur das Gleiche macht“, sagt René Michaelis. „Mit der Folge, dass seine Motivation in den Keller geht und kein Kunde gewonnen wird. Die dicken Pufferdaunenjacken à la Givenchy hat Zara schon längst erfolgreich auf der Fläche gezeigt, aber wir kriegen es kaum hin, sie für den nächsten Winter im Handel zu platzieren, da der Mut des Einkaufs fehlt.“ In den letzten Saisons herrschte vielfach der Blick in den Rückspiegel vor. Ein Stück weit nachvollziehbar, meint Marino Edelmann. „Der Einkäufer hat seine knallharten Kennzahlen, die er erreichen muss“, so der Geschäftsführer Vertrieb und Marketing Drykorn. „Aber mancher Modehändler scheint mehr Mathematiker als Modekenner zu sein. War bei vielen vor eineinhalb Jahren bei Namen wie Vetements und Off-White noch ein großes Fragezeichen in den Gesichtern, ändert sich das gerade spürbar: Weil der Handel verstanden hat, dass es ohne Neues nicht funktioniert. Der Kunde will überrascht werden und braucht konstant neue Impulse. Das zeigt sich allein daran, dass sich die besonderen Teile im Markt gerade deutlich besser verkaufen als das Bewährte.“ Entsprechend steht die Order nach Abverkaufslisten der Vorsaison vielfach in der Kritik. „Je größer die Handelsunternehmen sind, desto datengestützter arbeiten sie“, sagt René Michaelis. „Das ist kein Fehler, sofern der Einkauf aus den Zahlen die richtigen Schlüsse zieht. Er muss sensibel analysieren und abwägen, welche Marke wofür steht und inwieweit man ihrer Entwicklung in der Kollektion Rechnung trägt. Einige große Händler wie zum Beispiel Lodenfrey und Breuninger haben diesen Part an Freiheit und nutzen ihn ganz gezielt, um Neues auszuprobieren.“ Dabei gilt es vor allem, die Stärken der jeweiligen Kollektion herauszuschreiben. „Ein guter Einkäufer vermag, richtig zu quantifizieren, von welchem Trend und welchem Produkt er wie viel schreiben muss und welche Kollektion wofür steht“, so Patrick Ebnoether. „Die richtige Gewichtung zu treffen, ist ein wirklich anspruchsvoller Job, der viel Erfahrung und Gefühl erfordert.“ Denn zu lange wurde auch nach rechts und links nach dem Mitbewerbern geschaut. „Unterdessen ist der Markt so anspruchsvoll, dass sich viele auf sich selbst konzentrieren und für sich herausfinden, wofür sie stehen wollen“, sagt Patrick Ebnoether. „Gute Einkäufer trauen sich, bei einer Kollektion auch mal das Doppelte des Vorjahres zu schreiben, wenn Produkt, Aussage und Vertrieb stimmen. Waren die Steigerungen früher homogener und verhaltener, heißt es heute eher Top oder Flop. Es werden auch Kollektionen trotz einigermaßen guter Abverkäufe ganz gestrichen, wenn es nicht mehr passt.“ Zugleich bekennen sich vor allem die Tophändler umso schneller zu einer neuen Kollektion, sofern diese überzeugt. „Wir haben seit vergangener Wintersaison die neue Outerwearkollektion Duno im Programm und konnten wichtige Kunden auf Anhieb gewinnen“, sagt Patrick Ebnoether. „Im Premiumsegment fehlte lange ein neues Jackenprodukt, und hier stimmen Modegrad, Preis und Leistung.“
Mit Budget reingehen, mit Emotion inszenieren Ganz oder gar nicht: Wer Neues zeigt, muss auch überzeugend darstellen. „Ein großes Potenzial liegt in der Präsentation, Zusammenstellung und Darstellung und im Verkaufspersonal“, sagt Patrick Ebnoether. „Hier kann noch so viel mehr gemacht werden! Wir überlegen deshalb, uns hier als Agentur noch mehr einzubringen, um die Ware in den Läden unserer Kunden zu inszenieren.“ Ben Botas, der mit seiner Agentur Ben and das junge, gehypte Label NA-KD vertreibt, plant gemeinsam mit Händlern wie Ludwig Beck Pop-up-Flächen von etwa 15 Quadratmetern. Die Pop-up-Fläche hat mit den üblichen Shop-in-Shops wenig zu tun. Denn es geht um eben diese Inszenierung: die Kollektion für die Zielgruppe überraschend und ansprechend zu präsentieren, immer wieder neu. Ben Botas sieht deshalb die Aufgabe seiner Agentur, nicht nur die Möblierung zu planen, sondern auch die laufende Warenbestückung mitzudenken. Es wird also nicht nachgezogen, was gut verkauft wurde, sondern mit Trendteilen immer neu dargestellt. Denn das Erfolgsprinzip dieser jungen Marken sind ja die täglich neuen Modeimpulse. „Die Bestseller wieder aufzufüllen, ist richtig für Onliner wie zum Beispiel Zalando, der täglich mehrere hundert Teile von NA-KD verkauft“, sagt Ben Botas. „Im stationären Handel muss dagegen
ein immer wieder neues Bild präsentiert werden – gerade für die junge Zielgruppe, die schnell gelangweilt ist und immer wieder neu begeistert werden will.“ Ganz bewusst ist die Wholesale-Kollektion von NA-KD nicht online erhältlich, wird jedoch bei na-kd.com beworben: verlinkt mit dem nächsten Händler in der Nähe und gepusht durch Kooperationen mit lokalen Bloggern. „Ein Megasupport, der zeigt, dass der Wholesale ein großer Fokus der Marke ist“, sagt Ben Botas. Drykorn setzt ebenso auf die Vernetzung online und offline – weil es nunmehr wichtig ist, den Konsumenten auch im Netz abzuholen. „Seit eineinhalb Jahren stellen wir dem Handel unser Mediapackage digital zur Verfügung und richten unsere Kommunikation Social-Media-lastiger aus“, sagt Marino Edelmann.. „Indem wir unsere Key-Looks über Newsletter, mit Bloggern und Social Media pushen, geben wir auch den Leitfaden für die Händler vor. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam spielen.“
Haben wollen Die sozialen Medien zu nutzen, ist für Händlerin Sandra Lemmich fast zur zweiten Natur geworden. „Im Handel wird brutal unterschätzt, was Instagram für eine Reichweite und Zugkraft hat“, sagt die 37-Jährige. „Ich bin mit vielen Händlern vernetzt, um mich über Neues auszutauschen. Auch in der Kommunikation mit den Kunden wird Instagram immer wichtiger. Viele entdecken uns dort: Letztens kamen ein paar Mädels aus München zu uns, weil sie neugierig geworden waren, und haben uns fast den Laden leergeshoppt.“ Sandra Lemmich arbeitete bei s.Oliver und beim Einkaufsverband Katag, bevor sie vor drei Jahren Maingold übernahm, um ihn zu ihrem Womenswear-Konzept namens Mainglück zu machen. Der Name ist Programm: Der Laden brummt auf seinen nur 100 Quadratmetern. Weil Sandra Lemmich die Vorteile nutzt, die sich ihr als kleiner Händlerin bieten. „Wir sind viel flexibler als jeder Filialist, der viel mit Vororder arbeiten muss“, so Sandra Lemmich. „Bei uns deckt die Vororder lediglich 45 Prozent ab, der Rest läuft kurzfristig.“ Sandra Lemmich ist fast jeden Tag auf der Fläche und beobachtet genau, wie die Ware ankommt. Fühlen sich die Kundinnen von den neuen, weiten Hosentypen angesprochen? Braucht es Strick in neuer Akzentfarbe dazu? „Ich kann dann schnell und kurzfristig reagieren. Wenn etwas gut läuft, kann ich mich schnell meine Lieferanten für Sofortware anrufen und so den Umsatz weiter pushen.“ Dieses Finetuning erfordert viel Fingerspitzengefühl – und einigen Aufwand. „Es verändert sich viel von Saison zu Saison, manche Lieferanten fallen weg, andere werden klarer in der Ausrichtung“, meint Lemmich. „Das kann ich nur nutzen, wenn ich dranbleibe.“ Verhindert der stationäre Handel manchmal Trends, wie ein Flaschenhals? Mitunter haftet ihm dieses Image an, zumal manche Innovationen schneller im Netz als auf den Verkaufsflächen sichtbar sind und die Konsumenten die neuen Sachen heute sofort haben wollen, nicht erst ein halbes Jahr später. „Manche Trends würgen wir im Handel sicher ab“, sagt Sandra Lemmich. „Mein Team und ich schauen auf den Berliner Messen und im Netz und entscheiden uns nur dann für Neues, wenn wir glauben, es auch verkaufen zu können. Was eine Frau auf Instagram gut findet, gefällt ihr noch lange nicht an ihr selbst, die Trends bauen sich viel langsamer auf, als man denkt. Letzten Endes gefällt ihr der von uns zusammengestellte Look nur, wenn sie sich darin wohlfühlt. Egal, was in der Zeitschrift steht oder was im Netz gepostet wird.“
Passion und Engagement Das Rad wird also nicht ständig neu erfunden, sondern es dreht sich weiter, immer ein kleines bisschen. Dass sich die Mode jede Saison rundum erneuern muss, ist vielleicht der Irrglaube, von dem man sich lösen sollte. Es geht viel mehr um eine evolutionäre Weiterentwicklung, um die Verfeinerung in den Kollektionen und manchmal sind es nur Nuancen, die es wieder spannend machen. Diese Nuancen gilt es für den Handel, zu finden – und das Richtige für ihn und seine Kunden auszuwählen. „Der Einkauf muss Trichter sein“, formuliert es Roberto Bauer. Sein gleichnamiges Herrenausstattergeschäft hat er 1986 in Lichtenfels gegründet – seine Leidenschaft für sein Metier hat ihn bis heute nicht verlassen. „Auf den Messen im In- und Ausland hole ich mir Appetit, mit Farben Formen und Looks. Ich bin viel unterwegs, um mir die Firmen anzuschauen, es gibt so tolle Manufakturen! Die finde ich aber nur, wenn ich mich zu ihnen aufmache, offen und neugierig bleibe.“ Im Anschluss nimmt sich Bauer gemeinsam mit Tochter Sara, die am Geschäft beteiligt ist, die Zeit, die Eindrücke einzuordnen. „Es ist wichtig, zu überlegen, was mein Kunde im Schrank hat. Braucht er noch die 27. Daunenjacke? Oder habe ich den Mut, ihn mit etwas Unerwartetem zu locken?“ Nur wer seinen Kunden kennt, kann für ihn auch einkaufen, weiß Roberto Bauer. Daran arbeitet er mit Spaß und Engagement: Vorn im Sortiment etwas anbauen, hinten etwas wegnehmen. „Akzeptiert der Kunde den Look, den Preis, den modischen Grad? Es ist eine Philosophie und zugleich ein immerwährender Prozess“, beschreibt Roberto Bauer. „Unserem Kunden geht es um Begehrlichkeit, Ehrlichkeit, Kompetenz und Qualität. Jede Saison birgt eine große Chance und jede Saison beginnt immer bei Null.“
„Der Handel soll überraschen, gleichzeitig hat er seine knallharten Kennzahlen und sieht sich mit Kunden konfrontiert, die oft besser informiert sind als er selbst.“
Marino Edelmann, Drykorn Geschäftsführer Vertrieb und Marketing
„Alle reden darüber, wie wichtig Individualität ist, aber nur die wenigsten setzen es in ihren Sortimenten glaubhaft und konsequent um.“
René Michaelis, Inhaber Michaelis Fashion Agency
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„Die Reichweite und Zugkraft von Instagram wird im Handel brutal unterschätzt.“
Sandra Lemmich, Inhaberin Mainglück, Würzburg
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