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System IV – Teil 1

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Pressefreiheit

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IV-Serie Eine harte Sparpolitik, willkürliche Entscheide, Millionen für die Gutachter: Die Invalidenversicherung steht in der Kritik. Wir wollen wissen, was dahinter steckt – Auftakt zu einer vierteiligen Serie.

«Guten Tag, Sie sind gesund»

Teil 1 Alle sind sich einig, dass Tanja Domić psychisch krank ist–bis jemand anonym das Gegenteil behauptet. Die Frau verliert ihre IV-Rente und stürzt ab.

TEXT ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION

MARIA REHLI

Tanja Domić* wartet im schmucklosen Bahnhofsbuffet eines Zürcher Vororts, die Tasse Kaffee vor sich hat sie bereits leer getrunken. «Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen», sagt sie. «Aus Angst vor dem Gespräch.» Das war noch vor der Corona-Krise, vor dem Bleiben-Sie-zuhause-Aufruf des Bundes, doch für Domić spielt das keine Rolle. Sie verlässt das Haus praktisch nie, und wenn sie es doch tut, kann es gut sein, dass sie den Einkaufskorb im Coop stehen lässt und Hals über Kopf zurück in die Wohnung stürmt. Hat sie den Vorhang richtig zugezogen? Wirft er gleichmässige Falten? Befindet sich der Abschluss auf gleicher Höhe mit dem Fenster? «Solche Dinge beschäftigen mich den halben Tag lang», sagt sie. Sonst sei sie eigentlich ganz normal. «Das Problem ist, dass ich meine Aussetzer nicht kontrollieren kann.»

Die Zwangsstörung ist die Folge einer psychischen Erkrankung. Die Psychiaterin von Domić spricht von einer Persönlichkeitsstörung mit wiederkehrenden schweren Depressionen. Ihre Spitex-Betreuerin, die sie wöchentlich sieht, sagt: «Während wir sprechen, putzt sie oft wie im Wahn. Es gibt ihr Sicherheit, die Kontrolle über gewisse Dinge zu behalten, wo sie doch sonst im Leben oft machtlos war.» Die Ursprünge der Krankheit von Domić gehen weit zurück. Die heute 58-Jährige wurde mehrfach Opfer häuslicher Gewalt. Ihr Ex-Mann war gewalttätig und misshandelte sie – einmal drohte er ihr vor der gemeinsamen zweijährigen Tochter mit dem Tod, worauf Domić barfuss über eine Feuerleiter elf Stockwerke ins Freie flüchtete. Zudem verlor sie dreimal ein ungeborenes Kind. Aufgrund solcher Ereignisse attestieren die Ärzte ihr verschiedene Traumata.

Happige Vorwürfe

Vierzehn Jahre lang waren sich alle einig, dass Domić psychisch schwer krank ist. Sieben umfassende medizinische Gutachten und dreizehn Arztberichte wurden in dieser Zeit angefertigt. Im Januar 2010 bestätigen die Behörden letztmals die volle IV-Rente. Weniger als ein Jahr später erhält Domić erneut Post von der IV: Schon wieder soll ihr Gesundheitszustand überprüft werden. Was sie nicht weiss: Grund für die neuerliche Rentenrevision ist ein anonymer Hinweis, der bei der IV-Stelle Zürich eingegangen ist. Dieser wird einen Stein ins Rollen bringen, der Domić am Ende die IV-Rente kostet.

Die in der anonymen Meldung gemachten Vorwürfe sind happig: Domić mache mit dem Geld von der IV Ferien in Thailand. Sie habe sich eine Schönheitsoperation geleistet und ermögliche ihrem Lebenspartner ein schönes Leben. Ausserdem verdiene sie gutes Geld als Domina.

Die Sachbearbeiterinnen und Sachbe arbeiter bei der IV sind alarmiert, denn das passt nicht ins Bild, das sie aufgrund der Akten von Domić haben: eine Frau mit sozialen Ängsten, die meist zuhause ist und aufgrund ihrer Vergangenheit ein gestörtes Männerbild hat. In einem internen Feststellungsblatt heisst es, dass die Angaben in der anonymen Meldung «zwar nicht gesichert» seien, aber «Zweifel an der Stimmigkeit des Dossiers» bestehen blieben.

Daraufhin studiert der Vertrauensarzt der IV die Akten. Dieser kommt zum Schluss, dass verfügbare Arztberichte zwar mit den Angaben von Domić (die über einen Fragebogen zu ihrem allgemeinen Gesundheitszustand befragt wurde) übereinstimmten. Im Widerspruch dazu stehe allerdings die anonyme Meldung. Statt diese zu prüfen oder mit Domić das Gespräch zu suchen, empfiehlt er zur «Klärung des Sachverhalts» ein externes Gutachten. Ein solches gibt die IV sodann in Auftrag. «Bitte berücksichtigen Sie die in der ano nymen Meldung gegebene Information», heisst es darin. Zuständiger Gutachter ist ein in Hamburg praktizierender Psychiater,

der zu diesem Zeitpunkt erst seit kurzer Zeit in der Schweiz tätig ist. Jeweils auf Auftrag des Swiss Medical Assessment and Businesscenter (SMAB) fliegt er in die Schweiz. Dieses auf IV-Gutachten spezialisierte Unternehmen wurde von der IV mit den Abklärungen beauftragt. Weil Domić auch über Rücken- und Kopfschmerzen klagt, soll sie dort zusätzlich von einem Neurologen sowie einem Orthopäden untersucht werden.

«Das war ein Verhör»

Der Psychiater erfüllt die Vorgabe der IV und macht die anonymen Informationen zum Hauptbestandteil seiner Untersuchung. Das legen die Akten nahe, die Surprise vorliegen. Domić habe erst «bei insistierendem Nachfragen und Konfrontation mit Akteninhalten» relevante Sachverhalte eingeräumt, steht darin.

Domić erinnert sich noch gut an das Gespräch, das dem Psychiater als Grundlage für das schriftliche Gutachten diente. Nach Fragen zu ihrer Kindheit habe der Arzt umgeschwenkt. «Er fragte mich: ‹Wollten Sie sich verschönern lassen?›» Später habe er wissen wollen, wie es in Thailand gewesen sei. Zudem verlangte er ihren Reisepass und holte während des Gesprächs eine Zeugin hinzu. «Zur Verifizierung der Angaben», wie der Psychiater später im Gutachten begründete. Domić sagt, sie sei völlig überrumpelt gewesen und habe sich wegen diesem Misstrauen zurückgezogen. «Das war kein Gutachten, sondern ein Verhör.»

Für das Gespräch mit Surprise im Bahnhofsbuffet hat Domić ihre Spitex-Betreuerin mitgenommen. «Nicht persönlich nehmen, aber Sie sind nun mal ein Mann.» Sie spricht viel und schnell – und verheddert sich zunächst, es entstehen Widersprüche, die sich aber erklären lassen, wenn man sich die Zeit nimmt, sich die teilweise intimen Hintergründe erklären zu lassen – von ihrer Betreuerin, ihrer Psychiaterin, ihrer Anwältin. Bei der angeblichen Schönheits-OP handelte es sich um eine Wiederherstellungs-Operation nach der Geburt ihrer Tochter – unter der asymmetrischen Brust habe sie psychisch stark gelitten. Für die Kosten kam die Krankenkasse auf. Als Domina betätigte sich Domić ein einziges Mal und verdiente damit 120 Franken. Ihre Psychiaterin hatte ihr wegen dem gestörten Männerbild dazu geraten. Mit ihrem Partner lebt sie platonisch zusammen. Von all ihren Reisen ins Ausland wussten die Behörden. Von solchen Hintergründen erfährt der Psychiater nichts – auch weil Domić sich dem Gespräch wegen dessen forscher Vorgehensweise zunehmend verweigert. Im Gutachten benutzt der Psychiater die «eingeräumten Lebensumstände» als Hauptbeweis dafür, dass Domić nicht schwer depressiv sein kann. Auch eine posttraumatische Belastungsstörung stellt er in Abrede. Beide Schlüsse zieht er allein aufgrund des rund einstündigen, offensichtlich harzig verlaufenden Gesprächs. Tests führt er keine durch, auch Auskünfte holt er keine ein. Obwohl sein Befund in diametralem Widerspruch zur langjährigen Krankheitsgeschichte steht, schreibt der Gutachter Domić gesund. Sie leide lediglich an einer leichten Depression und sei zu 80 Prozent arbeitsfähig.

Nach dem Termin beim Psychiater ahnt Domić Schlimmes – tags darauf nimmt sie sich eine Anwältin. Diese verlangt von der IV die vollständigen Akten. Erst jetzt erfährt Domić von der anonymen Meldung. Ihr ist schnell klar, dass diese von einem abgewiesenen Verehrer stammen muss, mit dem sie einst befreundet war. Diesem hatte sie sich zunächst in langen Gesprä chen anvertraut. Später, als er Avancen

machte, habe sie ihn zurückgewiesen und den Kontakt abgebrochen.

Keine Chance vor Gericht

Vier Monate später hat Domić wieder ein Schreiben der IV im Briefkasten. «Guten Tag», beginnt die Verfügung zur Einstellung der Invalidenrente. «Aus unseren Abklärungen geht hervor, dass sich der Gesundheitszustand von Frau Domić verbessert hat.»

Gegen diesen Entscheid wehrt sich Domić. Doch sie scheitert vor dem Zürcher Sozialverwaltungs- und später auch vor Bundesgericht. Den Einwand, der Gutachter habe eher wie ein Detektiv ermittelt, als dass er den Gesundheitszustand von Domić abgeklärt hätte, weisen die Gerichte zurück. Die Aufgabe des Gutachters sei es durchaus, die Aussagen der Versicherten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, gerade weil die Betroffene psychisch krank sei. Dass ihm dies gelungen ist, stellen sie nicht in Zweifel. Genauso wenig stört sie der Widerspruch zwischen dem Befund des Psychiaters und der jahrelangen Krankheitsgeschichte. Es liege im Ermessen des Gutachters, ob er für die Diagnose behandelnde Ärzte kontaktiere oder Tests

Millionen für falsche Gutachten

«Dank IV: Ärzte scheffeln Millionen»: Diese Schlagzeile machte vor einem halben Jahr die Runde. Der Sonntagsblick hatte aufgedeckt, dass einzelne Gutachter von der IV jährlich bis zu drei Millionen Franken kassieren. Manche hatten Patienten nie gesehen, arbeiteten mit Copy-Paste oder stuften praktisch niemanden als arbeitsunfähig ein. Daraufhin beschloss das nationale Parlament Verbesserungen bei der Transparenz: In Zukunft müssen Gespräche bei Gutachterinnen aufgezeichnet werden. Zudem werden von der IV Statistiken verlangt, welche Gutachter beauftragt werden und wie die Resultate ausfielen. Ob das reicht, ist umstritten, denn viele Gutachterinnen sind nach wie vor wirtschaftlich von der IV abhängig. Weil sie pauschal pro Fall bezahlt werden, bestehe zudem der Anreiz für ein

«psychiatrisches Speed-Dating».

durchführe, heisst es. Dem Gutachten wird «volle Beweiskraft» attestiert.

Nach dem Bescheid der IV verschlech tert sich der Gesundheitszustand von Tanja Domić: Zwei Monate verbringt sie stationär in einer psychiatrischen Klinik. Gegen die schwere Depression nimmt sie zusätzlich zu ihren Antidepressiva starke Medikamente. Wieder zuhause, kommt einmal wöchentlich die Spitex, die sie bis heute beansprucht. Auch körperliche Beschwerden häufen sich, ausserdem geht Domić öfter zur Psychiaterin. «Ihre Gesundheitskosten sind nach der Ausmusterung durch die IV ungefähr um den Faktor 20 gestiegen», sagt diese.

Gesund ist Tanja Domić auch heute einzig in den Akten der IV. Domić lebt von der Sozialhilfe, ihre Psychiaterin schreibt sie regelmässig krank. In besseren Phasen trinkt sie mit einer Freundin Kaffee, besucht den Flohmarkt oder spaziert auf einen nahegelegenen Hof, wo sie die Pferde streichelt. «Als Kind wollte ich Berufsreiterin werden», sagt sie. In schlechteren Phasen verschanzt sie sich zuhause. Eine solche hat sie, als der Lockdown vorbei ist und alle anderen wieder nach draussen strömen. Surprise würde die verantwortliche IV-Stelle gerne mit dem Fall konfrontieren. Doch Domić, welche die Öffentlichkeit nicht selber gesucht hat, zweifelt. Und unterschreibt die dazu nötige Vollmacht nicht. Sie lässt ausrichten, dass es keinen Sinn mache. Nichts mache Sinn.

Domić will einen Schlussstrich unter den jahrelangen, erfolglosen Kampf für die Anerkennung ihrer Krankheit ziehen. Andere wehren sich. Bei der Organisation Inclusion Handicap melden sich zahlreiche Menschen, die angeben, Opfer von Gutachter-Willkür geworden zu sein. Nachdem der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen kürzlich eine entsprechende Meldestelle eingerichtet hat, waren es innerhalb von 24 Stunden deren 80. «Wir vermuten, dass die bisher bekannt gewordenen Fälle nur die Spitze des Eisbergs sind», sagt Sprecher Marc Moser.

Fachleute sind sich sicher, dass das Unrecht bei der IV System hat. Einerseits häuft sich die Kritik an den medizinischen Gutachten, die für die Rentenvergabe zentral sind. So wurde vor Kurzem publik, dass einzelne Ärzte alleine mit IV-Gutachten mehrere Millionen Franken pro Jahr verdienen (siehe Box). Ausserdem wird es vor allem für psychisch Kranke immer schwieriger, sich gegen falsche Gutachten zu wehren. «Gerichte korrigieren IV-Entscheide praktisch nie», kritisiert der Zürcher Anwalt Philip Stolkin, «es kommt höchstens zu Rückweisungen an die Vorinstanz.» (siehe Seite 17).

Während nun mehrere Politikerinnen und Politiker für unabhängigere Gutachten sorgen wollen, fordern Ärztinnen und Therapeuten Wiedergutmachung für Betroffene wie Tanja Domić. «Das ganze Ausmass der Falschbegutachtungen in den letzten rund zehn Jahren ist unbekannt. Das muss nun aufgearbeitet werden, Fall für Fall», sagt der Kardiologe Michel Romanens, Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz (VEMS).

*Name der Redaktion bekannt

Meldestelle für Opfer der IV-Willkür von Inclusion Handicap: umfrageonline.ch/s/IV_AI. Auf Anfrage ist der Fragebogen auch als PDF oder Ausdruck erhältlich.

Auf dem Weg ins soziale Elend?

Rente Der Sparkurs der Invalidenversicherung hat massive soziale Folgen.

In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl IV-Renten um rund 40000 zurückgegangen. Und dies, obwohl die Bevölkerung im selben Zeitraum um fast eine Million gewachsen ist. Grund ist ein politisch verordneter Sparkurs: Bis 2007 hatte sich die Invalidenversicherung mit über neun Milliarden Franken ver- schuldet. Seither erfüllt die IV regelmässig die politischen Sparziele – auch wenn es voraussichtlich noch bis 2030 dau- ern wird, bis die Schulden bei der AHV ganz getilgt sind.

Wie aber spart man bei kranken Menschen? Die IV sieht die Einsparungen als Erfolg. So rühmt sie sich immer wieder als Eingliederungsversicherung. Dass Integration allerdings relativ selten gelingt, zeigte vor einem Jahr eine gross ange - legte Studie des Bundes, in der die Betroffenen selbst befragt wurden. 45 Prozent der körperlich Kranken und nur 25 Pro- zent der psychisch Kranken, die eine berufliche IV-Massnahme abgeschlossen hatten, erzielten im Jahr darauf ein Einkom- men von über 1000 Franken im Monat. Kritikerinnen und Kritiker werfen der IV darum vor, dass ihre Rentenentscheide auf realitätsfernen Annahmen über den Arbeitsmarkt beru- hen. Rainer Deecke, Anwalt und Präsident des Schmerzver- bandes touché.ch, sagt: «In den Entscheiden der IV-Gutach- ter wird oft darauf verwiesen, dass eine Arbeit in einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit möglich ist. Die Ge- richte stützen sich dann auf solche Aussagen. Das Problem ist, dass es solche Jobs auf dem realen Arbeitsmarkt insbe- sondere für Niedrigqualifizierte kaum noch gibt.»

Womöglich hilft eine IV-Rente sogar bei der Eingliederung. Diese Auffassung vertritt die Zürcher Psychiaterin Doris Brühl- meier. In einer Umfrage unter Berufskolleginnen stellte sie fest, dass von 200 Fällen 48 Prozent der Teilrentner und 36 Prozent der Vollrentnerinnen nebenher arbeiteten (Arbeit ist für IV-Rentner bis zu 30 Prozent erlaubt). Unklar ist, was mit den Menschen passiert, deren Rente gestoppt wird oder die von der IV abgelehnt wurden. In Brühlmeiers Untersuchung waren 93 Prozent aller abgelehnten und 60 Prozent der von der IV zurückgewiesenen Patienten vom Sozialamt abhängig: «Die Ausmusterung durch die IV stürzt viele Betroffene ins soziale Elend.» Der Bund hat dazu keine aktuellen Zahlen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verweist auf eine laufende Studie, die den Vorwurf klären soll, dass die IV auf Kosten der Sozialhilfe spart. Eine umfassende Nachun- tersuchung über die von der IV «ausgemusterten» Patienten ist allerdings nicht in Sicht. EBA

Surprise Talk:

Reporter Andres Eberhard spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk

Willkür mit System?

Gutachten Wer krank ist, muss das beweisen. So einfach ist das aber nicht.

Nicht nur die Praxis bei der Vergabe von IV-Renten, auch die Rechtsprechung hat sich in den letzten rund fünfzehn Jahren verschärft – vor allem für Menschen mit psychischen Krank- heiten. Lange galt vor Gericht die Vermutung, dass sich so- matoforme Schmerzen – Beschwerden, die nicht mit einer körperlichen Störung erklärt werden können – in der Regel «mit einer zumutbaren Willensanstrengung» überwinden liessen. Zwar änderte das Bundesgericht 2015 seine Praxis. Seither soll mit einem ergebnisoffenen Beweisverfahren der Einzelfall geprüft werden. Trotzdem hat sich die Situation für Betroffene nicht entscheidend verbessert. Studien der Uni Zürich zeigen, dass das oberste Gericht in den ersten zwei Jahren der neuen Rechtspraxis von 290 Beschwerden deren 260 ablehnte und nur in einem Fall eine IV-Rente zusprach.

Vor allem Depressiven und Schmerzkranken fällt es schwer, ihre Krankheit anhand objektiver Kriterien zu bewei- sen. Denn «psychosoziale Gründe» – also beispielsweise psy- chische Probleme, die nach einem Schicksalsschlag auftreten – gelten heute vor Gericht als «IV-fremd». Schadenanwälte, behandelnde Ärztinnen und Therapeuten kritisieren dies scharf. Der Zürcher Psychoanalytiker Werner A. Disler sagt: «Dieses Denken entspricht einem Krankheitsbild aus dem 17. Jahrhundert.» Chronische Krankheiten liessen sich nicht in körperliche oder psychische Beschwerden unterteilen. Rainer Deecke, Schadenanwalt in Zug und Präsident des Schmerz- verbandes touché.ch, kritisiert zudem die Haltung des Bun- desgerichts gegenüber den externen Gutachterinnen. «Seit Jahren hält es an der Auffassung fest, dass Gutachter neutral urteilen können, obwohl sie wirtschaftlich von der IV abhän- gig sind. Das zu glauben, ist naiv.» Gutachten seien im IV-Pro- zess das zentrale Beweismittel. «Darum ist es wichtig, dass sie unabhängig sind.» Dass Gutachterinnen vor allem bei Men- schen mit psychischen Störungen häufig unterschiedlicher Meinung sind und so die Gefahr von Willkür besteht, zeigen Studien der Uni Basel. Weil auch die Gerichte kaum je auf der Seite der Betroffenen stehen, ist sich der Zürcher Anwalt Phi- lip Stolkin sicher: «Willkür hat bei der Vergabe von IV-Renten System. Die Versicherten haben keine Chance.» EBA

«Das System IV»

Die Zahl der Renten ist in den letzten zehn Jahren zurückge- gangen, die Schulden der IV bei der AHV werden abgebaut. Ein Erfolg? Manche sprechen von einem «unmenschlichen System», das auf Kosten kranker Menschen spare. In einer vierteiligen Serie beleuchten wir die Hintergründe. Hinweise zur Recherche: andres.eberhard@strassenmagazin.ch

Teil 1: Sparen bei den Kranken

Teil 2: Richter als neue Mediziner Teil 3: Das Geschäft mit den Gutachten Teil 4: Die IV unter Druck – wie weiter?

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