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Verkäufer*innenkolumne
Reaktionen
Als meine Kolumne über meine Erlebnisse in der Schweiz erschien, war ich zuerst unsicher, wie die Leute reagieren würden. Ich erwartete, dass es auch negative Reaktionen geben würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich habe nur Gutes gehört und erlebt. Am eindrücklichsten fand ich eine Frau, die vorher schon hin und wieder ein Heft gekauft hatte. Eine Zeitlang gingen unsere Söhne in die gleiche Klasse, aber wir haben nie miteinander geredet und uns kaum gegrüsst. Seit sie meinen Text über Rassismus gelesen hat, kommt sie immer bei mir vorbei, und sie muss immer weinen, wenn sie mich sieht, weil es sie dermassen berührt hat, was ich alles erlebt habe.
Ich muss mich dann fast verstecken, weil ich nicht auch weinen will. Doch dann reden wir miteinander und ich erkläre ihr, dass diese schlimmen Erlebnisse in der Vergangenheit liegen und mich nicht mehr bedrücken. Inzwischen habe ich in der Schweiz sehr viele liebe Menschen kennengelernt. Ich bin hier angekommen und fühle mich wohl.
Die Corona-Krise hingegen war auch für mich nicht einfach. Ich verkaufe in einem Einkaufszentrum, das wie alle Läden lange Zeit geschlossen war. Als die Geschäfte endlich wieder geöffnet wurden, habe ich mich wieder hingestellt, aber viel weniger Hefte verkauft. Das Problem ist, dass die Leute kein Bargeld mehr dabeihaben, seit man aufgefordert wurde, überall mit Karte zu bezahlen. Eines Tages fragte mich eine Frau, die regelmässig das Heft kauft, wie es so gehe, und ich schilderte ihr meine Lage. Sie sagte mir, dass sie für die katholische Kirchenzeitung arbeite und mir helfen wolle. Tatsächlich hat sie in der nächsten Ausgabe auf mein Problem aufmerksam gemacht und die Leute aufgefordert, daran zu denken, Bargeld mitzunehmen. Das hat geholfen, ich habe gemerkt, es kommen Leute, die genau die sechs Franken für das Heft dabeihaben. Es ist das einzige Bargeld, das sie mitnehmen. Das hat mich sehr gerührt. Sie ist Katholikin, ich bin Muslima, trotzdem setzt sie sich für mich ein.
Überhaupt ist das etwas, das mir in der Schweiz immer wieder auffällt. Die Leute sind am Anfang sehr verschlossen. Es braucht viel, bis sie sich öffnen, aber wenn sie einen kennenlernen, haben sie ein grosses Herz. Das konnte ich immer wieder erfahren.
Inzwischen hat mir die Frau, deren Kinder zusammen mit meinen zur Schule gehen und die immer weinen muss, sogar ihre Mutter vorgestellt. Früher wussten wir nur ungefähr, wer die andere ist. Heute kennen wir uns wirklich.
SEYNAB ALI ISSE, 49, ist Somalierin und hat in ihrer letzten Kolumne «Angst vor Fremden» (Heft 495) über Rassismus geschrieben. Sie beobachtet immer wieder, dass ihr Schweizer*innen anfangs ablehnend gegenübertreten. Sie selbst ist aber nicht nur ein herzlicher, sondern auch ein hartnäckiger Mensch – und schafft es tatsächlich immer wieder, dass die Leute im zweiten Anlauf plötzlich positiv auf sie reagieren.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.