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Vor Gericht
Verlorene Munition
60000 Schuss Munition sind in den vergangenen zehn Jahren bei der deutschen Bundeswehr verschwun den. In mehr als hundert Fällen fehlt jeder Hinweis auf den Verbleib der Dienstwaffen. Dazu kommen 48000 Schuss Munition und 62 Kilogramm Sprengstoff, die unauffindbar sind.
BODO, BOCHUM/DORTMUND
Keine Heimkehr in Sicht
200000 Seeleute sitzen derzeit auf Schiffen oder in Häfen fest, weil sie infolge der Corona-Pandemie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Manche sind bereits seit fünfzehn Monaten an Bord. Üblicherweise wechseln sich die Crews jeden Monat ab, damit die Seeleute ihre Familien daheim besuchen dürfen – was nun auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist. Weltweit arbeiten allein auf den rund 55000 Handelsschiffen etwa 1,2 Millionen Seeleute, meist aus den Philippinen, Indien, Russland, der Ukraine und China.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Grosse Flucht
79,5 Millionen Menschen waren 2019 weltweit auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl an Geflüchteten, die je mals verzeichnet wurde, und entspricht rund einem Prozent der Weltbevölkerung. Etwa 40 Prozent der Geflüchteten sind jünger als 18 Jahre. Die Gründe für Flucht sind vielfältig: Krieg, Verfolgung, Terror, Klima, Armut. Weil die Zahl der Menschen auf der Flucht verglichen mit dem Vorjahr um rund neun Millionen anstieg und sich seit 2010 weltweit fast verdoppelt hat, spricht das Flüchtlingswerk UNHCR in seinem aktuellen Bericht auch von einem «Jahrzehnt der Flucht».
Wahre Strafe
Therapeutische Rechtsprechung. Auf dieses Stichwort folgt in der Schweiz meist das Schlagwort «Kuscheljustiz». Wenn die Täter*innen in den Augen der Öffentlichkeit nicht nur eine lasche Strafe erhalten, sondern auch noch therapiert werden. Ein Hohn für die Opfer, heisst es oft. Anders im angelsächsischen Rechtsverständnis. Dort ist die «therapeutic jurisprudence» die Prämisse, dass Recht, gerichtliche Prozesse und das Verhalten des juristischen Personals unweigerlich einen Einfluss haben auf das Wohlergehen der involvierten Menschen – und damit auch auf das Gemeinwohl.
Ein Merkmal dieses Ansatzes ist das Victim Impact Statement: das Anrecht des Opfers, sich nach dem Schuldspruch im Rahmen der Strafzumessung zu äussern. Über das Geschehene zu sprechen soll die Opfer ermächtigen und ihren Heilungsprozess befördern. Bei den Täter*innen wiederum, die so mit den Auswirkungen ihrer Handlungen auf das Leben der Opfer direkt konfrontiert werden, können die Statements wahre Einsicht bewirken.
Solche Gefühlsduselei ist hierzulande unüblich. Justiz soll nüchtern und sachlich sein – was aber auch ein Verlust ist. Denn es ist eindrücklich, wenn Gefühle nicht durch juristische Floskeln gefiltert werden. Ein Beispiel dafür, und vielleicht einer der stärksten Momente der #Metoo-Bewegung, war der Prozess um den früheren TeamArzt der US-Kunstturnerinnen, Larry Nassar, der sich an seinen Schützlingen sexuell verging. In seinem Fall äusserten sich im Januar 2018 über 150 Betroffene im Gerichtssaal von Ingham County, Michigan. Während sieben Tagen wurden ihre Berichte darüber, welch verheerende Auswirkungen der sexuelle Missbrauch auf ihr Leben hatte, live gesendet. Es sprachen junge Schülerinnen und Olympiagewinnerinnen. Manche schluchzend, manche schreiend. Aber alle entschlossen und quälend offen. Wie wund sich ihre kindlichen Vaginen angefühlt hatten. Und sie irgendwie wussten, dass nicht in Ordnung ist, was ihnen geschieht, aber eben auch nicht.
Als Erste sprach Kyle Stephens: Nassar habe sie im Alter von sechs bis zwölf Jahren missbraucht – wenn er zu Besuch war, als Freund der Familie. Die glaubte der jungen Frau nicht, als sie sagte: Der Doktor massiere ihre Füsse mit seinem Penis. Als der Vater realisierte, was er seiner Tochter angetan hatte, brachte er sich um. Vor Gericht sagte Stephens: «Sexueller Missbrauch ist so viel mehr als nur ein verstörender physischer Akt. Er ändert die Fahrtrichtung deines Lebens.» Und an Nassar gewandt: «Kleine Mädchen wachsen zu starken Frauen heran – wir werden deine Welt zerstören.» Clasina Syrovy fragte: «Sag, Larry, wie viele von uns gibt es? Weisst du es überhaupt?» Und Olympiasiegerin Aly Raisman: «Larry, wir sind jetzt eine Macht. Und du bist ein Nichts».
Nassar sass während der ganzen Zeit gekrümmt in seinem Stuhl. Die Zeugnisse setzten ihm zu. Die sieben Tage, an denen er seinen Opfern zuhören musste, waren die fast härtere Strafe, als die von Richterin Aquilina verhängten maximal 175 Jahre. Und Raisman sagte auch das: «Hätte nur ein einziger Erwachsener zugehört und den Mut und Charakter gehabt einzuschreiten, wäre diese Tragödie zu verhindern gewesen.» Die ganze Geschichte ist jetzt in der Netflix-Dok «Athlete A» zu sehen.
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.