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Familie

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Verhüllungsverbot

Verhüllungsverbot

Plötzlich um ein Familienmitglied reicher: So ging es dem wohnungslosen Jochen Hartmann, als er den Autor traf.

1 Eine Containersiedlung bietet ein Dach über dem Kopf. Für Flair braucht es die Bewohner*innen. 2 Wäsche waschen, Essen kochen, sich um seine Mitbewohner*innen kümmern – Hartmann ist die gute Seele der Siedlung. 3 Wegen seiner langen Haare nannte man ihn Mohikaner, passend dazu die Indianerfahne überm Bett.

Selbst die Mülltonnen wirken heruntergekommen. Schmutz klebt auf den Deckeln, Risse ziehen sich durchs Plastik. Klappstühle, Blumentöpfe, Eisenstangen liegen verstreut um vier Wohncontainer herum, frei bleibt das Gras nur vor dem fünften, vorne rechts. Gegenüber der Tür flattern Handtücher, Unterhosen, T-Shirts an einer Wäscheleine, der Duft nach Weichspüler wird überlagert von Alkohol und kaltem Zigarettenrauch.

Hier lebt er also.

Ich klopfe. Niemand reagiert. Zweimal umrunde ich den Container und finde zwei Fenster, beide geschlossen. Ich atme enttäuscht aus und wende mich ab. Da klackt das Schloss.

Der Fremde mustert mich aus hellgrauen Augen, den gleichen, die meine Grossmutter hat – auch seine müssen einmal blau gewesen sein. Ein schmales Gesicht mit grauem Wochenbart und Schnauzer, die Haare fallen über beide Schultern auf ein dunkelblaues T-Shirt und enden auf Höhe des Herzens. Dort klebt das Wappen einer Brauerei. «Was ist los?», knurrt die raue Stimme des Kettenrauchers.

In Lichtenfels, der etwa 11000-Einwohner-kleinen Kreisstadt meiner Heimat in Oberfranken, heisst er «der letzte Mohikaner». Der siebzig Jahre alte Wohnungslose lebt am Rand der Stadt in der Containersiedlung. Ich kenne ihn seit ich dreizehn war vom Anstehen an der Supermarktkasse – ich kaufte Gummibärchen und Schokolade, er Tabak und Alkohol. Dann und wann belauschte ich, wie er anderen Kunden von vergangenen Abenteuern erzählte; Touren mit dem Jeep durch Nordafrika, Wanderungen im Wüstensand.

Jahrelang hatte ich nicht an ihn gedacht, bis zu einem Abend im Spätherbst 2018. Ich sass mit Kollegen in einer Kneipe, als ein Betrunkener «O sole mio» grölte – mit der Anmut eines Seelöwen. Ich fragte mich: Hat eigentlich jeder Ort eine solche Kunstfigur wie den letzten Mohikaner?

Familienabend: Der Onkel, die Tante und meine Grossmutter waren zu Gast bei meinen Eltern. Smalltalk. «Woran arbeitest du?» Ich erzählte, dass ich über den letzten Mohikaner schreiben wolle. Oma war empört.

«Dem darfst du nichts glauben!»

«Wieso?»

«Der schmarotzt sich durchs Leben. Ein Lügner und Betrüger.»

«Wir kennen den Typen doch gar nicht.»

«Und wie! Viel zu gut.»

«Woher denn?»

«Er ist mein Bruder.» «Du weisst das doch», sagt Oma noch. Ich widerspreche, so etwas hätte ich wohl kaum vergessen. «Egal», sagt Oma, das sei abgeschlossen. Nur so viel: Man habe ihn noch vor meiner Geburt verstossen, etwa dreissig Jahre sei das her.

Langsame Annäherung

Die Notunterkunft für Obdachlose liegt fünfzehn Minuten Autofahrt entfernt vom Haus meiner Eltern, der einzige Nachbar ist das örtliche Tierheim. Das Bellen der Hunde verfängt sich zwischen den Bäumen und Büschen, die das Container-Gelände vor Blicken schützen. Es ist Juli, als der Mann mit den grauen Augen mir die Tür öffnet. Unsere Verbindung verschweige ich. Die Pausen nach jedem Satz fülle ich mit so vielen Ähms und Ähs, dass er misstrauisch die Augen zusammenkneift.

«Heute ist schlecht», sagt er.

«Wann würde es denn passen?»

«Montag ist okay.»

Jochen Hartmann weiss nicht, dass es draussen regnet und windet. Als ich um 15 Uhr ankomme, hat er den Container noch nicht verlassen. Sein Zimmer, das sind zehn Quadratmeter, bestückt mit einem Sessel, einem niedrigen Holztisch und einem Bett, über dem ein Tuch hängt, das einen Indianer mit Kopfschmuck zeigt. Zi-

«Meine Schwester treffe ich ein paar Mal im Monat beim Einkaufen. Wir nicken, das war’s.»

JOCHEN HARTMANN

garettenrauch hat sich in die Wände und Möbel gefressen, so intensiv, dass die Zunge kaum einen Unterschied schmeckt, wenn Hartmann frischen Tabak anzündet.

«Regel Nummer eins: Ich bin der Jochen. Regel Nummer zwei: Wir sind hier beim Du. Soooo – was willst du wissen?»

Vermisst du deine Familie, will ich fragen. «Wie war das denn in Afrika», frage ich stattdessen. Er beschreibt Marktstände in Gassen und erzählt von Feuerschalen, deren Rauch sich mit Gewürzen mischt.

«Gibt es Fotos?»

«Tausende. Aber die hat sich mein grosser Bruder unter den Nagel gerissen. Und mit meiner buckligen Verwandtschaft habe ich nichts mehr zu tun.»

«Wieso nicht?»

«Ach, weisst du, ich war der Einzige mit ausgelerntem Beruf – Bürokaufmann, Abschlussnote 1,2. Das hat den anderen nie gepasst.»

«Wieso eigentlich ‹letzter Mohikaner›», frage ich und deute auf die Flagge.

«Mein bester Freund hat mich Mohikaner getauft, wegen meiner Haare. Wir waren von Anfang an hier, vor dreissig Jahren haben wir die Container mit aufgestellt. Seit er tot ist, bin ich der letzte.»

Er erzählt von Frauen, die er hatte, als er in Hamburg und Berlin lebte, von garstigen Schwiegermüttern in spe und davon, dass Heimat eben Heimat sei. Deshalb sei er auch zurückgekommen nach Lichtenfels. Und wegen seiner «Lieblingsmama», die sei schwer krank gewesen und habe ihn gebraucht. «Pflegen. Süppchen kochen. Wer hätte es denn sonst tun sollen? Keiner von der buckligen Verwandtschaft!»

Ein Onkel für viele

Klopfen. Ein Mann von der Statur eines Türstehers will sich Wasser leihen.

«Nimm so viele Flaschen mit, wie du brauchst.»

«Danke, Onkel Jochen!», er klemmt sich drei Flaschen in die linke Armbeuge und hebt die rechte Hand zum Abschied.

Onkel Jochen?

«Ach, ich bin hier sowas wie der Bürgermeister von Blechhüttenstadt.» Wenn die Duschen mal wieder Zicken machten oder es was mit dem Amt zu klären gebe, regle er das. Und sonntags koche er für alle, Gemüse, Schnitzel oder auch mal einen Braten. «Soll bloss niemand denken, er wäre hier unter armen Leuten!»

Aber wieso Onkel? «Das hat sich halt so eingebürgert. Streiten tut man manchmal, aber wer hierherzieht, auf den wird aufgepasst. So gehört sich’s bei einer Familie.»

Aber zu deiner biologischen Familie hast du keinen Kontakt mehr? «Neeee. Meine Schwester treffe ich ein paar Mal im Monat beim Einkaufen. Wir nicken, das war’s.»

Was denn passiert sei, dass gar kein Kontakt mehr besteht?

«Lange Geschichte.»

Wir schweigen. Eine Minute, zwei Minuten. Sollte ich sagen, wer ich bin?

«Ich wollte zur Bahn», sagt Jochen unvermittelt, und zum ersten Mal schleicht sich etwas Trauriges in seine Stimme. «Ich wollte unbedingt zur Bahn. Aber mein Vater hat gesagt: Du wirst Bürokaufmann.» Jochen bläst Rauch gegen die geschlossenen Jalousien seines Fensters. «Ich habe es gehasst.»

4 Früher hat Hartmann mal in Hamburg gelebt, geblieben ist ihm dieser Flaschenöffner. 5 Nun ist er längst kein Fremder mehr, sondern der Grossonkel, der sich über Besuch freut.

Er wollte weg von seinem Vater, deswegen sei er nach der Ausbildung nach Hamburg gezogen, das muss Mitte der 1970er gewesen sein. «Die Schiffe verschwinden im Horizont, das musst du gesehen haben. Bei dem Anblick lernst du, was Freiheit bedeutet.» Von der Zeit in Hamburg ist ihm nur ein Flaschenöffner geblieben, Eisen in Form eines Dreimast-Seglers.

Als ich mich verabschiede, ruft eine Frau Mitte dreissig mir nach, die gern Andrea genannt werden möchte, «weil ich doch eigentlich gar nicht hierher gehöre». Sie sagt, sie sei erst seit einer Woche hier, Jochen habe sie geholt, als sie aus dem Entzug der Bezirksklinik geschmissen wurde. «Wir hier gelten als das Letzte», sagt Andrea, «aber einen wie ihn gibt es draussen nicht. Er kocht für alle und teilt, was er hat. Wir hier sind wie Familie.»

Familie. Was bedeutet das überhaupt? Die Frage hält mich wach, als ich im Bett meines alten Kinderzimmers liege. Ich denke an Jochen, der im Brauerei-Shirt vor mir sass, den Rücken gekrümmt, umgeben von Wäsche, Schmutz und leeren Bierflaschen.

Drei Tage später: Seine Schwester, meine Oma, eröffnet das Gespräch mit: «Ich bin ein Familienmensch» und erklärt mir dann, dass es ihr egal wäre, wenn ihr Bruder stürbe. Wir sitzen am Holztisch ihrer Vierzimmerwohnung, sie hat Kaffee gekocht, Kuchen gekauft und vor wenigen Minuten den Namen ihres jüngsten Bruders ausgesprochen – zum ersten Mal seit dreissig Jahren. «Jochen.» Seitdem beginnt sie fast jeden Satz mit «der Gammler», als könne sie durch Beschimpfung den Namen erneut begraben.

Keine schöne Kindheit

«Der hat zu viele Wohltaten durch die Verbrennungen erfahren», sagt sie und erzählt, dass ihr anderer Bruder, Wolfgang, als Zwölfjähriger mit einem Freund rauchen wollte. Sie kauerten sich unter einen Holzstapel im Garten und stopften Holzwolle zwischen die Ritzen, damit kein Rauch nach aussen drang. Jochen war nicht älter als fünf und Wolfgang sollte auf ihn aufpassen, also nahm er ihn mit. «Ich sehe ihn noch heute. Die Haut hängt in Fetzen von Armen, Beinen. Bis zum Eingang der Klinik hab ich es gehört, als sie seine Verbände gewechselt haben. Er hat so laut gebrüllt.»

Aber wieso dann Gammler?

Die Eltern hätten ihm nach den Verbrennungen regelrecht verboten, mit anzufassen, und er habe es sich im Nichtstun gemütlich gemacht. Für sie sei das abgeschlossen. Wolfgang könne ja noch etwas erzählen.

«Einen wie ihn gibt es draussen nicht. Er kocht für alle und teilt, was er hat.»

ANDREA

Wolfgang lebt in einem Einfamilienhaus mit kleinem Garten, etwa vierzig Minuten Autofahrt entfernt von Jochens Wohncontainer. Als wir auf der Terrasse sitzen, sagt er über seine Schwester: «Sie ist ein Feingeist.» Und Jochen? «Mit so etwas möchte ich nicht herabgewürdigt werden, auch wenn es mein leiblicher Bruder ist.»

Als Flüchtlinge seien die Geschwister in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, zwölf Quadratmeter für die ganze Familie. Der Vater sei jähzornig gewesen und habe getrunken, die Mutter habe sich nicht durchsetzen können. «Wir hatten keine schöne Kindheit, deine Oma und ich.» An

seine Sätze hängt er oft ein «deine Oma und ich», als hätte es nur zwei Kinder gegeben.

Wie war euer Verhältnis? «Wir haben uns immer gut verstanden», antwortet er und erzählt, seine Schwester habe sich manchmal mit einem Verehrer eingeschlossen und das Radio aufgedreht – «zum Schmusen». Er habe Wache gehalten.

Und Jochen? «Mit dem haben wir leben müssen. Er hat immer wieder ein paar hinter die Ohren gekriegt, wenn er nicht gespurt hat. Das war für uns Erziehung.»

«A-weng a Arschloch»

Im Arbeitszimmer meiner Oma hängt ein Bild, auf dem sie Josef Neckermann, dem legendären Firmengründer, die Hand schüttelt. Wolfgang wurde eine Auszeichnung des bayerischen Ministerpräsidenten verliehen. Es sind Symbole für den Aufstieg der beiden, heraus aus dem Elend ihrer Flüchtlingskindheit. Bei Jochen hängt ein Tuch überm Bett, von dem ein Indianer-Gesicht auf Bettwäsche, Bierflaschen und Hustenbonbons lächelt.

Zwei Tage später sitze ich wieder bei Jochen in seinem Zimmer, Andrea ist auch da. Beide sind müde von der letzten Nacht – Party in Blechhüttenstadt. «Beim Feiern sauf ich immer zu viel. Ich bin halt a-weng a Arschloch», sagt Jochen.

«Er hat immer wieder ein paar hinter die Ohren gekriegt, wenn er nicht gespurt hat. Das war für uns Erziehung.»

WOLFGANG

«Was bist du?», fragt Andrea.

«Ein Aaaarschloch!»

«Quatsch, Onkel Jochen! Du bist quasi mein Adoptiv-Papa!»

«Na dann gut Nacht, schöne Welt.»

«Was hast du heut früh zu mir gesagt, was ich für dich bin?»

«Ist ja gut. Mei Töchterla.»

Andrea grinst. Auch Jochen lächelt.

Ein paar Stunden später stehen wir an der Einfahrt zur Containersiedlung und verabschieden uns. Morgen will er für alle Bewohner gefüllte Paprika kochen, am Sonntag Klösse. Jochen, da ist noch etwas, beginne ich. Er dreht sich zu mir und seine grauen Brauen heben sich überrascht. «Was?» Ich zögere. In meiner Vorstellung ist er enttäuscht, schreit mich an.

«Die Schwester, von der du erzählt hast – das ist meine Grossmutter.»

Für einen Moment bleibt er still.

«Meine Schwester hatte Probleme mit dem Herz, hab ich gehört. Geht’s ihr gut?» Seine Stimme bleibt ruhig. Er weiss, wo seine Schwester lebt und dass meine Mutter ein Ehrenamt ausübt. «Weisst du, ich bin halt das schwarze Schaf. Aber ich darf doch informiert bleiben.»

Erst als er sich später wegdreht und zu den Containern läuft, schüttelt er den Kopf und murmelt vor sich her: «Das gibt’s ja nicht! Jetzt ist der mit mir verwandt ...»

Jochen und ich schreiben uns, schicken Bilder und erzählen aus dem Alltag. Meinen Eltern und Oma erzähle ich, dass er ein guter Mensch ist, der für jeden ein Bier übrighat oder einen guten Rat. Sie glauben mir, sagen sie. In der Familie wollen sie ihn trotzdem nicht. Bin ich in der Heimat, schaue ich bei ihm vorbei. Jeder Besuch beginnt etwa gleich: Ich klopfe an einem der Fenster, er fragt mürrisch von drinnen, wer etwas wolle. Dann sieht er mich und lacht. Meistens reden wir über Politik oder über eine Doku, jeden Tag sieht er eine – «weil ich nicht blöd werden will».

6 Der hohle Fels: Hierher kam Jochen als Jugendlicher, trank Bier und quatschte mit Freunden. 7 Beim Einkaufen begegnet er zuweilen der Schwester. Sie nicken sich dann zu. 8 Für Jochen war Lichtenfels schon früh zu klein und eng, es zog ihn in die weite Welt – und doch kam er zurück.

Einmal erzählt er mir, er habe mit dem Rauchen aufgehört. Auch trinken wolle er weniger. «Ich will ja noch ein wenig leben.» Der Tabakgeruch wirkt tatsächlich weniger aufdringlich. Statt Bier stehen Wasserflaschen auf dem Tisch. Wie immer fragt er, wie es seiner Schwester gehe und dem Rest der Familie. Ich erzähle. Er kramt in einem Regal und sagt: «Ich hab noch was für dich». Jochen hält mir einen kleinen Stapel Bilder hin, leicht ausgeblichen, aber frei von Staub. Auf einem der Bilder sind zwei Mädchen zu sehen, erst ein paar Jahre alt, auf anderen Fotografien sind sie älter, vielleicht dreizehn, sie tragen Kleider und halten Blumen. Eines zeigt eine Dame um die dreissig.

«Das sind deine Mutter und ihre Schwester, als sie klein waren. Die Frau ist deine Oma. Eins muss man ihr lassen, elegant war sie schon immer.»

«Jochen», beginne ich, «was ist denn passiert?»

«Weisst du», sagt er und sieht mir in die Augen, «ich habe richtig grosse Scheisse gebaut.»

Nach der Ausbildung lief es nicht so gut mit dem Job und den Kollegen, und als es gar nicht mehr lief, habe er sich mit Aushilfsjobs durchgeschlagen. Einmal sollte er auf die Wohnung meiner Grosseltern aufpassen. Er sah sich um und entdeckte in einem Schrank zwei Scheine, je 500 D-Mark.

«Ich habe mich gefühlt wie ein Schatzsucher. Ich hatte noch nie so viel Geld gesehen!» Jochen gestikuliert, ringt mit den Worten. Dann lässt er die Schultern sinken: «Ich hab’s eingesteckt. Damals dachte ich, für die ist das ja nix. Das war scheisse, ich hab meine eigene Schwester bestohlen.»

Das war der Moment, als seine Geschwister beschlossen: Den kennen wir nicht länger.

Jetzt hört Jochen nicht mehr auf zu reden. Er erzählt, wie er zurück nach Lichtenfels kam, als seine Mutter zum Pflegefall wurde. Gelegenheitsjobs statt fester Arbeit, schwieriges Verhältnis zum trinkenden Vater. Irgendwann brach er sich den Lendenwirbel, vor der Operation fragte der Arzt nach einem Kontakt zur Familie. Jochen nannte seine Schwester. Ich habe keinen Bruder, sagte diese am Telefon und legte auf.

Von da an lief es schlecht bei Jochen. Zuerst keine Arbeit mehr, dann keine Mutter, irgendwann auch keinen Vater. Er musste raus aus der Wohnung, die Stadt schickte ihn in die Container. «Ich habe keinen Bruder», wiederholt Jochen leise. Er sagt es in einem Ton, irgendwo zwischen verwirrt und unsicher. Seit er von unserer Verbindung weiss, spricht er nicht mehr von der «buckligen Verwandtschaft», sondern nennt die Namen und erinnert mich sogar an Geburtstage – «Da musst du dran denken!» Als ich ihn frage, wieso er das alles noch auswendig weiss, antwortet er. «Mein Hirn ist geeicht für Daten in der Familie.»

Nur an den eigenen Geburtstag erinnert er sich nicht, ich bringe trotzdem selbstgebackenen Zitronenkuchen. «Du bist ja tatsächlich da!», freut er sich. Wir sitzen zu zweit in seinem Zimmer und trinken Kaffee. Er habe wieder angefangen, mit Bier und Zigaretten, das ärgere ihn ein wenig. Andrea von gegenüber habe sich inzwischen von ihrem Freund getrennt – vielleicht besser so, sie sei ein kluges Mädel.

Am Tag danach schickt er mir eine Nachricht, zum ersten Mal endet sie mit «Dein Grossonkel Jochen».

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