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Steigende Kosten, mehr Druck

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Surprise Porträt

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Sozialhilfe unter Druck

Infolge der Corona-Pandemie benötigen immer mehr Menschen Unterstützung. Gemeinden denken bereits über Steuererhöhungen nach.

TEXT SIMON JÄGGI

Allein im ersten Jahr der Corona-Krise stützte der Bund gangenen Jahr überdurchschnittlich stark gestiegen sind, die Wirtschaft und Arbeitnehmer*innen mit 14 Milliar- werden ebenfalls Steuererhöhungen geprüft, wie die Soden Franken. Damit finanzierte er die Kurzarbeit und zialdirektion mitteilt. den Erwerbsersatz, zudem sind in den Kantonen die «Insgesamt kommen massive Mehrausgaben und geHärtefallprogramme angelaufen. Für dieses Jahr bud- waltige Herausforderungen auf die Gemeinden zu», sagt getiert der Bundesrat für diese Massnahmen weitere 18 Claudia Hametner, stellvertretende Direktorin des SchweiMilliarden. «Mich reut jeder Franken», sagte Finanzmi- zer Gemeindeverbands. Dabei sei zu erwartende Anstieg nister Ueli Maurer gegenüber den Medien, aber der Bund der Sozialhilfekosten durch die Corona-Pandemie der müsse schauen, dass nicht die Schwächsten durch die wichtigste Faktor, aber nicht der einzige. «In den verganMaschen fielen. genen Jahren hat eine zunehmende Verlagerung von der

Trotz aller Hilfsmassnahmen: Wenn die Prognosen IV zur Sozialhilfe stattgefunden.» Aufgrund der restrikzutreffen, wird die Zahl der Armutsbetroffenen in der tiven Rentenpraxis bei der vom Bund finanzierten IV steigt Schweiz in den kommenden zwei Jahren deutlich steigen. die Zahl der Sozialhilfefälle und damit die Belastung für Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) pro- die Gemeinden zusätzlich. «Vor dem Hintergrund der gnostiziert bis 2022 einen Anstieg von 57 800 zusätzlichen Corona-Pandemie sind diese Verlagerungen höchst beSozialhilfebezüger*innen, 21 Pro- denklich, die Sozialhilfe muss vorzent mehr als 2019. Im schlimmsten Fall rechnet die SKOS sogar mit ei- Es kommen massive ausschauend entlastet werden», sagt Hametner. ner Zunahme von 75900 Personen. «Das wird in jedem Fall eine grosse Mehrausgaben Dauerbezug Herausforderung», sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der und gewaltige Heraus- Die Krise fällt zudem mit einer Entwicklung zusammen, die den SoSKOS. «Einen Anstieg in dieser Grössenordnung gab es noch nie.» Es forderungen auf zialämtern seit einiger Zeit Sorgen bereitet. Immer mehr Menschen ist ein Szenario, das ihm Sorgen bereitet. Die Sozialhilfe müsse perso- die Gemeinden zu. bleiben dauerhaft bei der Sozialhilfe und schaffen den Sprung zunell und finanziell aufgestockt wer- rück in den Arbeitsmarkt nicht. Was den, sagt Kaufmann. Die SKOS hat CLAUDIA HAMETNER, Sozialämter seit Längerem beobbereits einen Brief an den Bundes- STELLVERTRETENDE DIREKTORIN achten, zeigte vergangenes Jahr rat geschrieben, in dem sie mehr SCHWEIZER GEMEINDEVERBAND auch eine Studie der Berner FachUnterstützung vom Bund fordert. hochschule und der Städteinitia-

Finanziell trifft der Anstieg der tive. Wie die Daten zeigen, verlässt Sozialhilfefälle in erster Linie die ein Drittel der Beziehenden die SoGemeinden, sie tragen den Grossteil der Kosten. Zugleich zialhilfe innerhalb eines Jahres wieder. Jedoch nimmt der rechnen viele Gemeinden als Folge der Corona-Krise mit Anteil von jenen, die bei der Sozialhilfe bleiben, stetig zu. einem Rückgang der Steuereinnahmen. Vielerorts brechen «Diese Fälle erhöhen die durchschnittliche Bezugsdauer, weitere Einnahmen weg, etwa aus Mieten für kommunale die Fallzahlen und die Kosten. Weil sie nicht nur wenige Liegenschaften wie Restaurants oder Läden. Zusammen Monate, sondern mehrere Jahre lang Sozialhilfe benötimit den steigenden Sozialhilfekosten könnten so viele gen», sagt Oliver Hümbelin, Professor für Soziale Arbeit Gemeinden unter Druck geraten. «Ich bin überzeugt, dass an der Berner Fachhochschule. Besonders gefährdet sind die Mittel nicht reichen werden», sagt Renate Gautschy. Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, ohne Sie ist Präsidentin der Gemeinde Gontenschwil und der Berufsbildung, Alleinerziehende oder Menschen mit Gemeindeammänner-Vereinigung des Kantons Aargau. Migrationshintergrund und tiefem Bildungsstand. «Die Sie rechnet damit, dass viele Gemeinden zu einer Steue- Sozialhilfe soll eigentlich eine Notlage überbrücken helrerhöhung gezwungen sein werden. Damit ist sie nicht fen», sagt Hümbelin. «Diese wichtige Funktion nimmt sie allein. Das Aargauer Städtchen Aarburg rechnet mit Mehr- immer noch wahr. Sie übernimmt zunehmend aber eine ausgaben von einer Million Franken für die Sozialhilfe. In Doppelrolle und sichert für einen Teil der Fälle die Exisder Stadt Luzern, wo die Sozialhilfefälle bereits im ver- tenz langfristig.»

Ein wichtiger Faktor für diese Entwicklung sind aus Sicht des Sozialwissenschaftlers die steigenden Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Einfache Tätigkeiten erledigen zunehmend Maschinen und Computer. Mit dem Einbruch von Gastronomie und Tourismus geraten Stellen im Tieflohnbereich nun noch weiter unter Druck. Zugleich führt die Pandemie in vielen Branchen zu einer weiteren Digitalisierung und zusätzlichem Leistungsdruck. «Für Menschen ohne Bildungsabschlüsse wird es immer schwieriger.»

Wie stark die Armut infolge der Corona-Pandemie zunehmen wird, sei auch stark von den Hilfsmassnahmen von Bund und Kantonen abhängig, sagt Hümbelin. Deshalb sei es von grosser Wichtigkeit, dass der Bund die Unterstützungsmassnahmen fortsetzt. «Der Bund sollte die Kurzarbeit fortführen, bis auf dem Arbeitsmarkt eine Entspannung eintritt. Dasselbe gilt auch für die Härtefallentschädigungen. Möglicherweise führt Corona auch zu einer Beschleunigung des Strukturwandels. Dann wäre es angezeigt, die betroffenen Menschen mit Umschulungen zu unterstützen.» So könnten die Behörden einem weiteren Anstieg bei der Sozialhilfe entgegenwirken.

Markus Kaufmann von der SKOS geht nicht davon aus, dass die Zahlen bei der Sozialhilfe nach der Pandemie rasch wieder sinken. «In unserer Prognose rechnen wir wieder mit einer Abnahme ab 2023.» Dass die Quote wieder so tief werde wie vor der Pandemie, sei aber eher unwahrscheinlich. «Möglich wäre das gegen 2030, wenn die bevölkerungsreichsten Jahrgänge in Pension gehen. Dann wird auch die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wieder steigen.» Bis dahin aber könnte die Sozialhilfequote auf eher hohem Niveau verbleiben.

Kaufmann sieht in der aktuellen Krise trotz aller problematischen Entwicklungen aber auch eine Chance. In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass im Bereich der Sozialhilfe Weiterentwicklungen nötig sind. Bereits vor drei Jahren haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen in der Schweiz einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreichen sollen. Das als Ansatz, um das Armutsrisiko zu verkleinern. «Zudem braucht es für Sozialhilfebeziehende mehr Integrationsarbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt.» In der Krise werde nun deutlich, wie stark Wirtschaft und Soziales zusammenhängen. «Aktuell ist die Politik bereit zu Investitionen in die Sozialwerke», sagt Kaufmann. Es zeige sich, dass Armut nur mit Investitionen in die Soziale Sicherheit bekämpft werden könne. «Wir hoffen, dass sich diese Einsicht nachhaltig durchsetzt.»

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