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Frauenstimmrecht
Frauenstimmrecht Ein halbes Jahrhundert dürfen Frauen in der Schweiz nun politisch mitbestimmen. (K)ein Grund zum Feiern.
«Man könnte über eine Entschädigung nachdenken»
Zum 50-jährigen Jubiläum zeigt eine Ausstellung im Bernischen Historischen Museum: Was damals erkämpft wurdeh, ist heute noch aktuell. Kuratorin und Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger erklärt, wieso.
INTERVIEW GIULIA BERNARDI
Fabienne Amlinger, Sie sind seit 2006 am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern tätig. Warum Geschlechterforschung?
Seit ich denken kann, fallen mir Differenzen auf, die zwischen Frauen und Männern gemacht werden, und die Ungerechtigkeiten, die damit einhergehen. Entsprechend war ich schon früh politisch und feministisch aktiv.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie besonders geprägt hat?
Es gibt viele Beispiele, die ich nennen könnte. Ich erinnere mich, wie entsetzt meine Mutter war, als sie erfuhr, dass Lilian Uchtenhagen, die als erste Frau für die Schweizer Landesregierung kandidierte, von der bürgerlichen Mehrheit nicht als Bundesrätin gewählt wurde. Obwohl ich das Ereignis damals noch nicht richtig einordnen konnte – ich war sieben Jahre alt –, ist es mir bis heute geblieben. Mich interessieren solche Frauenfiguren.
Wie beobachten Sie die aktuelle Medienberichterstattung über die Einführung des Frauenstimmrechts 1971?
In erster Linie freut es mich, dass das Thema so ausgiebig aufgegriffen wird. Ich hatte anfänglich die Befürchtung, dass die Einführung vor 50 Jahren nun als «Jubiläum» gefeiert wird, finde aber doch, dass sie auch kritisch reflektiert wird.
Welche Aspekte sollten heute dennoch stärker in den Fokus rücken?
Man könnte das Unrecht stärker betonen und über eine Entschädigung nachdenken. Solche Worte zu verwenden, öffnet neue Denkräume und Diskussionen. In der medialen Debatte wird viel zurückgeschaut: Warum ging es so lange, bis das Frauenstimmrecht angenommen wurde? Wer waren die Kämpferinnen? Das sind wichtige Aspekte, und dennoch sollte die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Frage gelenkt werden, was sich seither verändert hat. Und da merkt man schnell: Wir leben noch immer in einer patriarchalen Gesellschaft. Fundamentale Einflüsse, welche die Einführung des Frauenstimmrechts lange verhindert hatten, sind noch heute präsent.
Inwiefern?
Das Feld der institutionalisierten Politik wurde 1848 von Männern für Männer konstituiert und 123 Jahre so weitergetragen. Frauen können erst seit kurzer Zeit mitwirken. Was Politik ist und wie sie betrieben wird, ist entsprechend männlich konnotiert. Natürlich gibt es neue Themen, die von Frauen auf die politische Agenda gebracht wurden, etwa der Schwangerschaftsabbruch oder die Revision des Eherechts. Dennoch sind die Strukturen männlich. Das ist das Ursprungsproblem. Als Beispiel: Noch heute werden im Bundeshaus Sitzungen zeitlich so festgelegt, dass sie für Frauen mit Kindern unvorteilhaft sind. Auch die Logik, wie Demokratie funktioniert, ist eine männliche Setzung.
Auch Ihr Buch «Im Vorzimmer der Macht?», das 2017 erschienen ist, stellte diese Frage: Haben Frauen nach der Annahme des Frauenstimmrechts überhaupt die Möglichkeit, ihre Anliegen in einer männlich dominierten Politik anzubringen?
Im Zuge dessen thematisiere ich im Buch auch die vielseitigen Anpassungsleistungen, die Frauen erbringen mussten, damit sie überhaupt mitwirken konnten. Das fängt etwa bei der Architektur an, da es im Bundeshaus anfänglich keine Frauentoiletten gab. Aber auch die Sprache spielt dabei eine Rolle. Als Hanna Sahlfeld, eine der 1971 gewählten Nationalrätinnen, während einer Parlamentssitzung mit der Antwort des Nationalrats auf einen ihrer Vorstösse nicht zufrieden war, drückte sie das mit der protokollarisch vorgesehenen Aussage «teilbefriedigt» aus. Daraufhin lachten ihre männlichen Kollegen, weil sie das Wort sexuell konnotierten, sobald es von einer Frau ausgesprochen wurde. So sah sie sich gezwungen, ein anderes Wording zu finden.
Aktuell sind in der Schweiz verschiedene Ausstellungen zur Einführung des Frauenstimmrechts zu sehen, unter anderem die von Ihnen kuratierte. Wie gestaltet man eine Ausstellung zu einem unrühmlichen Jubiläum?
Mittlerweile ist es gesamtgesellschaftlich mehrheitlich anerkannt, dass es ein Demokratieverstoss war, das Frauenstimmrecht so spät einzuführen. Doch wie kann man dieses Unrecht spürbar
Fabienne Amlinger ist am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung an der Universität Bern tätig und kuratierte die Ausstellung «Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht» im Bernischen Historischen Museum. Im Jahr 2017 erschien ihr erstes Buch «Im Vorzimmer der Macht?» und 2020 ein Essay im Sammelband «Jeder Frau ihre Stimme», welcher die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der Einführung des Frauenstimmrechts thematisiert.
«Mittlerweile ist es gesamtgesellschaftlich anerkannt, dass es ein Demokratieverstoss war, das Frauenstimmrecht so spät einzuführen.»
machen? Das Kernstück der Ausstellung, die auf die Jahre nach 1971 fokussiert, besteht aus zwölf Interviews, in denen Politikerinnen verschiedener Parteien und Generationen zu Wort kommen. Mir war klar: Man muss diesen Frauen zuhören, wenn man Politik verstehen will. Die Gespräche, die auf grossformatigen Screens zu sehen sind, machen einem breiten Publikum die Erinnerungen und Erfahrungen der Politikerinnen zugänglich. Sie sollen auch zeigen, dass nach dem Kampf um das Frauenstimmrecht der nächste folgte – jener um die politische Teilhabe von Frauen.
Was hat Sie an den Geschichten besonders berührt?
Die Gespräche führen einem vor Augen, mit welchen Ungerechtigkeiten und Angriffen viele dieser Politikerinnen zu kämpfen hatten. Ich finde aber auch die Kraft eindrücklich, mit der sie sich oft trotz Widrigkeiten in die Politik einbrachten und ihre Überzeugungen vertraten.
Die Ausstellung soll auch eine Anregung sein, die eigene Position zu reflektieren. Wie ist das gemeint?
In der Ausstellung erzählen Frauen beispielsweise, was ihnen Unerhörtes passiert ist – etwa, dass ihnen Kompetenzen abgesprochen oder dass sie wüst beschimpft wurden. An dieser Stelle wird die Befindlichkeit der Besucher*innen abgefragt: Was macht das Video mit ihnen? Um diese Frage zu beantworten, muss man reflektieren, was man gesehen und gehört hat, und sich dazu positionieren. Sich seiner Position und des eigenen politischen Handelns bewusst zu werden, ist zentral: Denn letztlich geht es darum zu überlegen, wie wir zusammenleben und die Gesellschaft gestalten möchten.
Die Ausstellung soll demnach nicht nur Rückblick sein, sondern auch ein Blick auf die aktuelle Lage. Wie wird Gleichstellung heute diskutiert?
Einerseits sind viele überzeugt, dass heute die Geschlechtergleichstellung erreicht ist oder dass die letzten Ungerechtigkeiten mit der Zeit schon noch verschwinden. Andererseits rückten in den letzten Jahren durch den Frauenstreik oder die #MeToo-Debatte die nach wie vor bestehenden Gleichstellungsdefizite und der omnipräsente Sexismus ins kollektive Bewusstsein. Nicht zuletzt gab die Black-Lives-Matter-Bewegung der Gleichstellungsdebatte einen Anschub, vermehrt einen intersektionalen Ansatz zu berücksichtigen. Das heisst, es werden auch die Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen – etwa aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Klasse – und die spezifisch daraus resultierende Benachteiligung stärker aufgegriffen.
Heute wird von blinden Flecken in der Gleichstellung gesprochen. Welche sind Ihrer Meinung nach die dringlichsten?
Dass überhaupt von «blinden Flecken» gesprochen wird. Denn das impliziert, dass die Gleichstellung fast erreicht ist und es nur noch einige wenige Randbezirke gibt, die der Besserung bedürfen. Dabei hängt alles zusammen: Sexismus, geschlechtergerechte Sprache, Transphobie, häusliche Gewalt etc. Genau das macht die Diskussion über Geschlechtergleichstellung so komplex und ja – auch anstrengend. Tatsache ist, dass die gesellschaftliche Geschlechtergleichstellung nicht erreicht ist.
«Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht»,
Ausstellung, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, bis So, 14. November, Bernisches Historischen Museum, Helvetiaplatz 5. www.bhm.ch