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Chronik des Abbaus

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Surprise Porträt

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Angriffe auf die Sozialhilfe

Kaum in der Verfassung verankert, geriet das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein unter Beschuss. Da die Sozialhilfe kantonal geregelt ist, blieb der Umbau für viele unbemerkt. Eine Übersicht.

BaselStadt

2002 führt der Kanton ein Anreizsystem ein. Dieses belohnt Sozialhilfebezüger*innen mit einer Arbeitsstelle und senkt die Ansätze für alle anderen. Eine SVP-Volksinitiative, welche die Einbürgerung für Sozialhilfebezüger*innen verunmöglichen soll, wird 2017 zurückgezogen. 2019 scheitert ein Antrag von links auf Erhöhung des Grundbedarfs nur knapp. Angenommen wird die Idee, mit einem Pilotversuch die Anzahl Fälle pro Sozialarbeiter*in zu reduzieren.

BS

997.– Franken (exkl. Miete und Gesundheitskosten) soll der Grundbedarf der Sozialhilfe für eine Person betragen, empfiehlt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS).

Das ist der Betrag, den die 10 Prozent Ärmsten in der Schweiz zur Verfügung haben. 1998 lag er noch bei 1110.– Franken. Damals orientierte man sich am Budget der 20 Prozent ärmsten Haushalte.

Solothurn

Seit 2015 weicht der Kanton von den Richtlinien der SKOS ab: Der Grundbedarf wird in zahlreichen Bereichen gekürzt: unter anderem bei Wohn- und Umzugskosten, Versicherungsprämien und Zahnbehandlungen. Forderungen nach Kürzung der Beiträge für Ausländer*innen bzw. des Grundbedarfs scheitern. 2019 beschliesst der Kanton, Massnahmen zu entwickeln, um die Sozialhilfequote zu reduzieren.

NE JU

SO BL

BE

271400 Menschen beziehen in der Schweiz Sozialhilfe, darunter 79 200 Kinder. Das sind 3,2% der Bevölkerung. Diese Quote ist exakt gleich hoch wie 2005, als der Bund die Statistik ins Leben rief.

Die Sozialhilfe ist in der Schweiz Sache der Kantone. 1905 wird erstmals die Forderung nach einer Bundeslösung vorgebracht – und seither alle Jahre wieder.

9Vorstösse für ein Bundesgesetz gab es in den letzten 10 Jahren, um dem Wildwuchs in den Kantonen zu begegnen. 8 scheiterten, einer ist hängig.

VD FR

GE

Bern

Seit 2012 werden Sozialdienste für tiefe Sozialhilfekosten belohnt und für hohe Aufwände bestraft. 2013 wird eine Volksinitiative der Jungen SVP angenommen: Wer Sozialhilfe bezieht, soll nicht eingebürgert werden. Nach einer SVP-Motion tobt ein jahrelanger Kampf um geplante Kürzungen in der Sozialhilfe. Eine Senkung um 10 Prozent wird 2014 durchgesetzt. Weitere Einschnitte von bis zu 30 Prozent schickt das Volk 2019 bachab. Die Beiträge für Asylbewerber*innen werden 2020 massiv gekürzt.

VS

Grundbedarf für eine Person

977 Franken 986 Franken 997 Franken 1006–1110 Franken (Empfehlung SKOS ab 2022)

Januar 2000

Die neue Bundesverfassung garantiert erstmals ein Grundrecht auf Hilfe in Notlagen für ein menschenwürdiges Dasein.

2000–2005

Neoliberale Kreise wittern Missbrauch. Die SKOS kürzt den Grundbedarf in der Sozialhilfe und führt «Anreizleistungen» und Sanktionen ein.

2008–2010

Neues Bundesgesetz über Ausländer*innen: Wer Sozialhilfe bezieht, riskiert seine Aufenthalts-/ Niederlassungsbewilligung sowie den Familiennachzug. Unrechtmässiger Sozialhilfebezug führt nach Annahme der Ausschaffungsinitiative zum Landesverweis.

BaselLandschaft

Die Regierung revidiert 2020 das Sozialhilfegesetz. Ihr Entwurf enthält unter anderem die Umsetzung zweier Motionen von Peter Riebli (SVP) – die Kürzung der Sozialhilfe um bis zu 30 Prozent sowie Senkung der Beiträge für Ausländer*innen. Der Vorschlag sieht ein kompliziertes, fünfstufiges «Anreizsystem» vor, bei dem Betroffene anfangs lediglich 690 Franken erhalten. Nach heftiger Kritik zieht die Regierung das Modell zurück. Der neue Entwurf behält den jetzigen Grundbedarf bei.

SH

ZH*

ZG

NW SZ TG

SG AR

AI

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UR GR

TI Aargau

Martina Bircher (SVP) fordert mehrfach Kürzungen für Ausländer*innen sowie die Möglichkeit, sie einfacher ausschaffen zu können. 2018 verlangt sie unter dem Schlagwort «Motivation statt Sanktion» eine Kürzung der Sozialhilfe um 30 Prozent. Das Parlament beauftragt den Regierungsrat, den Vorschlag zu prüfen – dort ist er nach wie vor hängig. 2019 sorgt die Aargauer Regierung für einen Eklat, als sie per Verordnung Armenhäuser wieder einführen will. Sie macht die Änderung rückgängig.

St. Gallen

Im Jahr 2013 verhindert Stadtpräsident Thomas Müller (SVP), dass eine Sozialhilfebezügerin nach Rorschach zieht. Die Frau lässt sich in St. Gallen nieder. Nach einem Entscheid des Bundesgerichts muss Rorschach trotzdem für die Sozialhilfebeträge aufkommen. 2019 werden mehrere SVP-Anträge zur Senkung des Grundbedarfs um bis zu 30 Prozent abgelehnt.

Zürich

Zahlreiche Angriffe werden abgewehrt: Autoverbot, erschwerte Einbürgerung, Kürzungen für Ausländer*innen sowie Senkung des Grundbedarfs um 10 bzw. 30 Prozent. Erfolgreich sind Vorstösse, die Sozialhilfebezüger*innen Ferien, Studium und «medizinische Luxusbehandlungen» verbieten. Zudem können Weisungen (abgesehen von Sanktionen) nicht mehr angefochten werden. Dagegen kämpft die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) auf dem Rechtsweg.

Luzern

Als erste Gemeinde in der Schweiz führt Emmen 2005 Sozialdetektive ein – ein Beispiel, das Schule machen wird. Im Jahr 2013 kürzt der Kanton im Rahmen eines Sparpakets den Grundbedarf für Personen, die weniger als 18 Monate in der Schweiz gearbeitet haben, um 10 bis 15 Prozent.

Wallis

Der Kanton arbeitet derzeit an einer Totalrevision des Sozialhilfegesetzes. Der aktuelle Vorschlag sieht zahlreiche Verschärfungen vor. So zum Beispiel beim Datenschutz: Armutsbetroffene wären diesbezüglich schlechter gestellt als Schwerverbrecher*innen, kritisiert die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Sie erachtet den Entwurf als teilweise verfassungswidrig.

Graubünden

Der Kanton trennt die Sozialhilfe in wirtschaftliche und persönliche Hilfe. Geldleistungen erbringen die Gemeinden, Beratungen der Kanton. Ein Versuch, dieses «Bündner Modell» aus Spargründen zu kippen, scheitert 2018. Im gleichen Jahr tritt ein neues Bürgerrechtsgesetz in Kraft: Eingebürgert wird nur noch, wer die Sozialhilfegelder der letzten zehn Jahre zurückbezahlt hat. Die Regelung geht über das Bundesgesetz hinaus, welches eine Frist von drei Jahren vorsieht.

Juni 2015

Die SVP lanciert eine schweizweite Kampagne gegen die Sozialhilfe und legt dem Positionspapier Mustervorstösse für Lokalpolitiker*innen bei.

2017–2019

Die unter Druck geratene SKOS unterstellt sich politischer Kontrolle. Ein neues Bürgerrechtsgesetz erschwert Sozialhilfebezüger*innen die Einbürgerung. Zahlreiche Angriffe auf die Sozialhilfe in den Kantonen.

März 2020–heute

Corona-Krise: Die SKOS prognostiziert eine starke Zunahme Armutsbetroffener. Nationalrät*innen fordern Hilfen für Papierlose, die keinen Zugang zur Sozialhilfe haben.

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