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Migration

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Aufgelesen

Aufgelesen

Zum ersten Mal davon gehört hatte ich im Spätherbst 2016, in Subotica, einer Stadt im Norden Serbiens, keine halbe Stunde von der ungarischen Grenze entfernt: von diesen «Pushbacks», bei denen Flüchtlinge von der ungarischen Grenzpolizei angeblich gewaltsam nach Serbien zurückgeschickt wurden; von kaputten Handys, den zerrissenen Kleidern, von Verletzungen, Prellungen und Hundebissen an Armen und Beinen; und davon, dass die Flüchtlinge von den Grenzpolizisten bespuckt und verhöhnt wurden.

Im Frühjahr 2017, wieder an der serbisch-ungarischen Grenze, hatte ich sie dann mit eigenen Augen gesehen, Dutzende Vertriebene mit Bandagen an Beinen, Armen, auf dem Rücken oder am Kopf. Damals schrieb ich über Zarar Z., einen 24-jährigen Pakistani, der bereits seit Monaten in einer verlassenen Ziegelei unweit von Subotica hauste – ohne fliessend Wasser, ohne Strom – und der schon unzählige Male das «Game» wagte, wie die Geflüchteten ihren Versuch nennen, unbemerkt über die Grenze in ein EU-Land zu gelangen. Doch jedes Mal lauerte die ungarische Grenzpolizei ihm auf und schickte ihn nach Serbien zurück. In den folgenden Monaten begegnete ich Zarar Z. immer wieder, und jedes Mal zeigte er mir seine Blessuren. Mal war es ein Hundebiss am Unterschenkel, mal Verbrennungen am Unterarm, mal sein mit blauen Flecken bedeckter Rücken, immer aber – und wie zum Beweis dafür, wie grausam die Polizisten wirklich sind – sein zerschlagenes Handy, das Wichtigste, das Flüchtlinge bei sich tragen, um mit ihren Familien zu kommunizieren, um sich zu organisieren, um sich abzulenken, um zu überleben. (Zarar Z. lebt heute mit vier anderen Pakistani in einer 3-Zimmer-Wohnung unweit von Padua und arbeitet neun Stunden am Tag für einen Monatslohn von 550 Euro in einer Fabrik.)

Dass bei den Pushbacks Gewalt im Spiel sei, bestritt die ungarische Regierung konsequent. Zwar hatten zahlreiche Organisationen – darunter Médecins sans Frontières (MSF) und Amnesty International – begonnen, entsprechende Vorfälle zu dokumentieren. Deren Berichte wischte Orbán indes mit der lapidaren Bemerkung beiseite, sie seien allesamt vom ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros finanziert, der die «Flüchtlingskrise» für seine politischen Zwecke instrumentalisieren wolle. Am Ende war Orbáns rigide und teils offen rassistische Flüchtlingspolitik durchaus wirksam: Als Ungarn und die umliegenden Länder 2016 ihre Grenzen dichtmachten, wurde die sogenannte Balkanroute offiziell geschlossen. Zu jenem Zeitpunkt waren bereits mehr als eine Million Migrant*innen über den Balkan in die EU gelangt.

Erdrückende Beweise

Seither haben sich die Fluchtwege nach Westen verlagert. Speziell im Frühjahr und Sommer 2018 stieg die Zahl der Migrant*innen, die im Norden Bosniens die Grenze nach Kroatien überqueren wollten, auf 2500 pro Monat an. Anders als im flachen Norden Serbiens, wo seit 2015 ein 175 Kilometer langer und drei Meter hoher Zaun die Grenze zu Ungarn markiert, ist der dichtbewaldete und hügelige Norden Bosniens schwieriger zu kontrollieren. Entsprechend gross war das Aufgebot an kroatischen Grenzschützern; 6000 an der Zahl sollten es schon im Sommer 2018 sein. Weil die von der Regierung in Sarajewo beauftragten und von der International Organisation for Migration (IOM) betriebenen Lager schon bald überfüllt waren, mussten viele der Geflüchteten in verlassenen Häusern unterkommen oder in öffentlichen Parks von Velika Kladuša und Bihać, beides Städte nahe der kroatischen Grenze. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Von 8000 Migrant*innen, die derzeit im Nordwesten Bosniens festsitzen – manche Organisationen reden von 12 000 –, leben geschätzte 2000 ausserhalb der sechs offiziellen Camps unter sehr prekären Umständen. Wie Adil N. aus Marokko, den ich zum ersten Mal im Herbst 2018 in einem Lager bei Velika Kladuša antraf, dann wieder im Winter 2019 in Bihać auf einer ehemaligen Müllhalde und zuletzt im Januar vor einem Jahr, erneut in Velika Kladuša, dieses Mal aber in einer verfallenen Automobilfabrik. Als Adil N. vor drei Jahren den Entschluss fasste, seinem Bruder nach Frankreich zu folgen, war er gerade 15 Jahre alt – ein Junge. Jetzt sass er seit Monaten kurz vor der EU-Grenze fest, zwischen Autoreifen, Plastikflaschen, feuchten Decken, Matratzen und Hundedreck. Wie oft er das «Game» schon gespielt hat, wusste Adil nicht zu sagen. Doch wenn er von den kroatischen Grenzschützern erzählt – wie sie sein Handy kaputtschlugen, sein Gesicht in den Matsch drückten, ihm die Arme verdrehten, den Mund mit faulem Obst vollstopften, ihn halbnackt im Kreis laufen liessen, ihm zwischen die Beine fassten und dabei grölten und johlten –, dann spricht der Junge laut und hastig, und er beginnt immer von Neuem, als würde ihm keiner glauben, als habe er sich das alles bloss eingeredet. (Ich habe Adils Geschichte in der Surprise-Ausgabe 471 aufgeschrieben.)

Inzwischen sind die Beweise erdrückend. Im Dezember vergangenen Jahres publizierte das Border Violence Monitoring Network (BVMN), ein Zusammenschluss von NGOs und Menschenrechtsorganisationen, auf 1500 Seiten ein «Schwarzbuch der Pushbacks». Darin werden 892 Zeugnisse von Abschiebungen in Italien, Griechenland, Ungarn, Kroatien und Slowenien erfasst,

Spuren der Gewalt: Die Bilder zeigen Geflüchtete nach Pushbacks und sind in Ungarn, Serbien und Bosnien entstanden.

Slowenien:

1266

Betroffene Personen

36%

Ungarn: 1114

Betroffene Personen

69%

davon Minderjährige

die insgesamt 12654 Personen betreffen. Offenbar verlaufen 60 Prozent der Pushbacks gewalttätig. Wie Jahre zuvor die ungarische Regierung weist aber auch Kroatien die Vorwürfe vehement zurück. Zwar hatte 2019 die damalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF eingeräumt, dass ihr Land Abschiebungen vornehme und dabei «natürlich ein wenig Gewalt» nötig sei. Inzwischen ist aber von «haltlosen Behauptungen» die Rede und davon, dass sich die Geflüchteten derlei Verletzungen bloss ausdächten oder gar sich selbst zufügten. Auch die kroatische Regierung weiss, dass Pushbacks gegen geltendes Recht verstossen – und zwar unabhängig davon, ob Gewalt im Spiel ist. Wer in seinem Heimatland bedroht oder verfolgt wird, hat nämlich grundsätzlich das Recht, in einem anderen Land um Schutz und Asyl zu ersuchen. Dieses in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthaltene Recht auf Asyl wird von Staaten wie Kroatien verletzt, sobald Flüchtlinge aufgegriffen und auf der anderen Seite der Grenze wieder abgesetzt werden.

Eine solche Abschottungspolitik wird von der EU gefördert. In ihrem Haushaltsrahmen für 2021–2027 hat die EU-Kommission unlängst eine Erhöhung der Finanzmittel für die Posten «Grenzsicherung» und «Migration» auf 34,9 Milliarden Euro vorgeschlagen; im Zeitraum 2014–2020 waren es noch 13 Milliarden. Kritiker*innen sagen, die EU versuche mit dem verstärkten Grenzschutz lediglich zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen könne.

Eine zentrale Rolle spielt die 2004 gegründete Grenzschutzagentur Frontex, welche Länder an den EU-Aussengrenzen bei ihrer Migrationskontrolle unterstützt. Dabei wurden die Mittel und Möglichkeiten der Agentur seit 2016 erheblich ausgebaut. So soll das Budget von Frontex bis 2027

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auf 12 Milliarden Euro angehoben und die Zahl der Beamt*innen von 1500 auf 10 000 aufgestockt werden; diese werden in Zukunft mit Waffen und modernster Überwachungstechnik ausgerüstet sein. Auch die Kompetenzen von Frontex wurden in den vergangenen Jahren erweitert, namentlich dürfen sie Abschiebungen vornehmen. Kontrolliert wird die Agentur indes kaum. Das zeigen Menschenrechtsverletzungen bei Pushbacks in Bulgarien, Griechenland und Ungarn, die 2019 und 2020 bekannt wurden und die Frontex toleriert haben soll; das Verfahren gegen die Agentur ist noch im Gange.

«Schutzschild Europas»

Wo Frontex höchstens eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt, werden die einzelnen Grenzländer von der EU umso mehr in ihrer Rolle als «Schutzschild Europas» bestätigt. Das gilt gegenwärtig vor allem für Kroatien. Seit sich die Balkanroute in Richtung Westen verschoben hat, unterstützt die EU den kroatischen Grenzschutz mit 6,8 Millionen Euro pro Jahr. Beim Treffen der EU-Innenminister*innen in Zagreb vor gut einem Jahr wurde Kroatien für sein Migrationsmanagement denn auch ausdrücklich gelobt. Der Regierung dürfte derlei nur recht sein. Zwar ist das Land seit 2013 Mitglied der EU, jedoch kein Teil des Schengenraums. Schon deswegen wird Kroatien einiges daransetzen, dem Rest der EU zu zeigen, dass es sehr wohl in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen.

Ob diese Abschottungs- und Abschiebungspolitik Menschen davon abhalten wird, in die EU zu flüchten, ist zu bezweifeln. In einem Interview mit Surprise (Ausgabe 486) sagte der Soziologe Jean Ziegler auf die Frage nach der Effizienz der EU-Flüchtlingspolitik: «Wer aus Idlib im Nordwesten Syriens, wo der Massenmörder Putin Wohnquartiere, Spitäler und Schulen bombardiert, fliehen muss, wird nach Europa kommen, egal wie schlimm die Zustände in den Lagern an den EU-Aussengrenzen sind.» Das dürfte auch für jene Migrant*innen gelten, die sich nach wie vor auf den griechischen Inseln und dem Festland befinden, an die 120000 sollen es sein. Viele von ihnen werden trotz massivem Polizeiaufgebot den Weg durch den Balkan auf sich nehmen – und dabei neue und alte Routen ausprobieren.

Wie zum Beispiel über Nordmazedonien nach Serbien oder von Rumänien via Serbien nach Ungarn – also genau dorthin, wo vor Jahren die Balkanroute abgeklemmt wurde. Tatsächlich sind hier wieder vermehrt Flüchtlinge anzutreffen. Als ich mich im Herbst 2020 erneut an der serbisch-ungarischen Grenze aufhielt, war das Lager in Subotica überfüllt. Zahlreiche Migrant*innen hausten entlang der Grenze in verfallenen Häusern und warteten auf eine Gelegenheit, nach Ungarn zu gelangen – ob mithilfe von Schmugglern oder auf eigene Faust. Unter ihnen war auch Baltan N., ein 18-jähriger Afghane, der vor zwei Jahren aus Kabul flüchtete. Als ich ihn traf, war er gerade dabei, seinen Fuss zu kurieren. Wie viele andere, hatte er sich beim «Game» verletzt. Dass Baltan N. sein Glück unweit von Horgoš sucht, hat etwas Ironisches: Die kleine serbische Grenzstadt geriet ganz zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 in den Brennpunkt der Weltöffentlichkeit, als es zu schweren Zusammenstössen der ungarischen Polizei mit Flüchtlingen kam. Damals hatte Orbán bereits mit dem Bau des Grenzzauns begonnen; derweil sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre inzwischen berühmten Worte: «Wir schaffen das!»

Baltan N. scheint zumindest den ersten Schritt geschafft zu haben. Anfang Jahr schreibt er per Whatsapp, er habe die Grenze überquert und sei in Deutschland angekommen.

Hintergründe im Podcast:

Klaus Petrus erzählt mehr über seine Beobachtungen an den EU-Aussengrenzen im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk

Griechenland:

3632

Betroffene Personen

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