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Seenotrettung

Normal wird es nie

Seenotrettung Im Mittelmeer sterben wieder mehr Flüchtende. Die europäischen Staaten halten sich weitgehend heraus, vor Ort sind vor allem zivilgesellschaftlich organisierte Seenotretter*innen. Ralph ist einer von ihnen.

TEXT UND FOTOS SEBASTIAN SELE

«All Station, all Station», rauscht es blechern aus den Funkgeräten: «Bereit zur Rettung.» Ralph streift sich die wasserdichte Hose über, ebenso die Schwimmweste und die Handschuhe. Er setzt seinen Helm auf und geht behäbig, aber zielstrebig die Treppen hoch. Sein Ziel ist das Deck der «Ocean Viking». Dort trifft er auf sein Team. «Was wissen wir über das Boot?», heisst es in einem kurzen Briefing. Und spätestens ab diesem Moment werden Ralph und sein Team zu Funktionen. Tanguy, der ehemalige Soldat, wird zum Anführer des Such- und Rettungsteams. Lisa, die ehemalige Weltenbummlerin, wird zu Crew 2. Amine, der ehemalige Erzieher, wird zu Crew 1. Und Ralph, er wird zum Fahrer. Dass sie alle funktionieren, kann darüber entscheiden, ob Menschen sterben oder leben.

Die «Ocean Viking» ist ein Seenotrettungsschiff, das im Auftrag der NGO SOS Méditerranée fährt. Seit 2016 hat die Organisation nach Eigenangaben mehr als 34 000 Migrant*innen zwischen Libyen und Lampedusa das Leben gerettet. Und trotzdem haben seit 2014 mehr als 22 700 im Mittelmeer ihr Leben verloren. Allein in diesem Jahr waren es bisher mehr als 1300, rund 1200 davon im zentralen Mittelmeer. Es ist die tödlichste Grenze der Welt. Man könnte sagen, es ist Europas Friedhof der Namenlosen. Doch diese grossen Zusammenhänge stehen für Ralph nicht im Vordergrund. «Ich bin Vater», erzählt der 43-jährige Philippiner im September auf dem Deck des Seenotrettungsschiffes. «Ich muss für meine Kinder sorgen. Das ist mein Fokus.»

Als einer der 25 Köpfe der Crew tut er also, was getan werden muss. Er steigt nach dem Briefing in eines der zwei Schnellboote. Er wartet, bis dieses vom Kran ins Wasser gelassen wurde. Und er warnt Tanguy, Lisa und Amine vor, wenn er mit den zwei 115-PS-starken Motoren beschleunigt. So lange, bis sie draussen sind, bei dem Boot, das in Seenot geraten ist, und dem schmalen Grat, der zwischen Leben und Tod liegt.

Zum ersten Mal fuhr Ralph 1999 auf See, gleich nach dem Abschluss der Academy. Ralph war jung, er war unabhängig und er lebte für den Job. «Ich dachte wirklich nur an die Arbeit», erinnert er sich. «Einmal war ich vierzehn Monate lang auf See.» Und so landete er irgendwann auch auf einem Schiff mit dem Namen «Aquarius». Die «Aquarius», in deutschem Besitz aber unter gibraltischer Flagge unterwegs, bot dem Wartungspersonal von Windparks ein temporäres Daheim. Ralph und sein Team fuhren die Arbeiter morgens vom Mutterschiff zum Windpark und abends wieder zurück. Bis irgendjemand irgendwann auf die Idee kam, dass dort, wo die Arbeiter schliefen, auch Migrant*innen schlafen könnten. Jene, die bisher im Mittelmeer ertranken.

Ralph fährt trotzdem raus

Die «Aquarius» wurde von der neu gegründeten NGO SOS Méditerranée gechartert, inklusive der Crew. Als Ralph zum ersten Mal von der neuen Mission hörte, dachte er bloss: «Ich habe Angst davor, tote Menschen zu sehen.» Als der Inhaber der «Aquarius» vor dem ersten Einsatz noch einmal betonte, dass nicht dabei sein müsse, wer nicht dabei sein wolle, fällte er aber eine Entscheidung: «Ich wollte es zumindest versuchen.» Das war vor fünf Jahren. Wie viele Tote Ralph seither gesehen hat? Schwierig zu sagen. Doch das erste Mal, das wird für immer in seinem Gedächtnis bleiben.

«Ich konnte zwei Nächte lang nicht schlafen», erzählt Ralph. Seine Stimme bleibt dabei kontrolliert. Aber sein Blick wird bohrender, seine Augen kleiner. «Ständig sah ich sein Gesicht. Ich sah, wie die Luftblasen aus seinem Mund kamen, wie er ertrank und ich nichts tun konnte. Der Seegang war schwierig, etliche andere Leute hingen am Schnellboot. Ich konnte es nicht drehen.» Im Anschluss sei es zu einer Diskussion zwischen ihm und dem Kapitän gekommen. Ralph, habe der Captain gefragt, wie geht es dir. Captain, habe Ralph geantwortet, dieser Mann ist während meines Einsatzes gestorben. Ja, habe der Captain entgegnet, aber 180 andere haben überlebt. «Aber Captain, der Mann ist tot.»

Warum fährt Ralph trotzdem noch raus, auf ein Meer, das nicht seines ist, wo Menschen sterben, für die er keine Verantwor-

1 Der Philippiner Ralph kam zum

Geldverdienen an Bord, heute sieht er mehr in seinem Job. 2 Auf den Schnellbooten hat jede

Person eine Funktion mit klaren

Aufgaben.

2

Das Budget der europäischen Grenzschutz agentur Frontex verdoppelte sich seit 2016 auf

543

Millionen Euro.

Die Schweiz erhöht ihre Beteiligung an der europäischen Grenzschutzagentur Frontex von

14 auf 16 Millionen Franken.

ITALIEN

ITALIENISCHE SAR-ZONE

TUNESISCHE SAR-ZONE

TUNESIEN Sizilien

Catania

MALTA Valletta ALBANIEN

GRIECHENLAND

GRIECHISCHE SAR-ZONE

«Ich sah, wie die Lu bläschen aus seinem Mund kamen, wie er ertrank und ich nichts tun konnte.»

RALPH

MALTESISCHE SAR-ZONE

Trypolis So sind die Search-and-Rescue-Zonen (SAR) zwischen Italien, Tunesien, Malta und Griechenland aufgeteilt.

50%

Fast jeder Zweite, der auf der Flucht von Libyen nach Italien übersetzen möchte, wird von der Küstenwache abgefangen. Sie werden in die Internierungslager des ehemaligen Bürgerkriegslandes zurückgebracht.

4

«Ich bin Vater. Ich muss für meine Kinder sorgen, das ist mein Fokus.»

RALPH

Flüchtende wählten allein in diesem Jahr die Route über das zentrale Mittelmeer.

Eine Fahrt über das Meer kostet zwischen

20 300

Geflüchtete sind seit 2014 sind im Mittelmeer fast gestorben oder verschollen.

80 000

3 Die Geretteten finden zum Gebet zusammen, nachdem sie erfahren haben, dass die italienischen Behörden der «Ocean Viking» einen sicheren Hafen zugewiesen haben. 4 Eine Mutter macht ihr Kind bereit, um in

Augusta (Sizilien) von Bord der «Ocean Viking» zu gehen. 5 Die 129 Geretteten schlafen in zwei weissen

Containern: einer für Männer, einer für Frauen und Kinder. 6 Zwei Gerettete haben ihre Sachen gepackt.

Sie sind bereit, nach sechs Tagen die

«Ocean Viking» zu verlassen.

700 und 2500

US-Dollar.

6

7 Tanguy, Leiter des «Search and Rescue»-Teams, nimmt ein Baby entgegen. 8 Bereits Gerettete beobachten von der «Ocean Viking» aus, wie das «Search and Rescue»-Team arbeitet.

«Rettet man Leben, verändert man etwas. Rette ich Menschen, fühle ich mich anders.»

RALPH

700

flossen mindestens seit 2014 aus der EU nach Libyen. Mehr als

90 Millionen Millionen Euro

tung trägt? «Fuck», sagt er, er habe gemerkt, dass er es wieder tun möchte. Er spricht von den Umarmungen der Geretteten, von ihrem Applaus und ihren Tränen. «Rettet man Leben, verändert man etwas», sagt er. Und ergänzt: «Rette ich Menschen, fühle ich mich anders.» Manchmal, da empfinde er sogar etwas Stolz auf das, was er hier tue.

Die ersten Einsätze fuhr Ralph noch als Teil der Marine Crew, der Wartungscrew. Von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends kümmerte er sich sieben Tage die Woche um den Unterhalt des Schiffs. Und wenn die Menschen auf dem Meer auftauchten, liess er sich wecken, egal wann, egal wie wenig Schlaf, egal wie hoch die Wellen. Er fuhr raus. Seine Situation veränderte sich, als sich auch die Lage der Seenotrettung als Ganzes veränderte.

Europa lässt Libyen machen

Europas Politiker*innen und Behörden begannen, die zivilen Seenotretter*innen vor Gerichte zu zerren und ihre Schiffe in Häfen zu blockieren. Die Seenotrettung musste sich professionalisieren, um weiterarbeiten zu können. Ralph hatte inzwischen eine Ausbildung zum Offizier absolviert und wechselte von der Wartungscrew, die nebenbei Rettungen fuhr, zum Rettungsfahrer, der nebenbei der Wartungscrew hilft. «Manchmal vermisse ich meinen alten Job», sagt er. Die meisten in der Wartungscrew sind, wie er, Philippiner. Mehr als jeder vierte Angestellte in der Hochseefahrt kam vor Corona von den Philippinen. 2019 spülten diese Seefahrer*innen mehr als sechs Milliarden US-Dollar in die philip pinische Wirtschaft.

Europas setzte derweil immer mehr auf Abschottung. Im östlichen Mittelmeer wurde der Grenzschutz in die Türkei ausgelagert, während in Griechenland das Lager Moria abschreckte. Im Westen stehen die hochgerüsteten Zäune von Spanien und im zentralen Mittelmeer übernahm Libyen: Europa intensivierte die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Es lieferte Geld, Boote und Informationen und zog sich mit den eigenen Schiffen vom Meer zurück – obwohl bekannt ist, dass die libysche Küstenwache schon mal auf Migrant*innen schiesst, statt sie zu retten.

Inzwischen fängt die libysche Küstenwache fast jede*n Zweite*n, der*die von Libyen nach Italien übersetzen möchte. Sie bringt sie zurück in Internierungslager, in denen Gewalt zur Tagesordnung gehört, körperliche, sexuelle und psychische. Kürzlich zogen sich selbst die Médecins sans frontières aus diesen Lagern zurück. Die Gewalt in den Camps und die damit einhergehenden Risiken für ihr Personal seien nicht weiter tragbar.

Drei Worte werden an Bord der «Ocean Viking» immer wieder wiederholt: nie wieder Libyen. Für dieses Versprechen, die Migrant*innen nicht zurück nach Libyen zu bringen, werden Seenotretter*innen wie Ralph von europäischen Regierungen schon mal als «Taxis der Meere» gebrandmarkt, als Schlepper. Sie entgegnen darauf, dass Seenot rettung nichts mit Politik zu tun hat. Es ist eine rechtliche Frage: Das Seerecht verpflichtet dazu, Menschen aus Seenot zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Dass Libyen kein sicherer Hafen ist, darüber sind sich alle einig – selbst die Europäische Union.

«Ich wusste nicht, was in Europa los ist», sagt Ralph. «Ich lese keine europäischen Nachrichten.» Aber er hörte zu, wenn an Bord über Politik gesprochen wurde. Darüber, wie die Europäer mit den Libyern zusammenarbeiten. Über den Angriff der 22 Rechtsextremen auf das Hauptbüro seines Arbeitgebers in Marseille. Und darüber, dass die maltesischen Behörden nicht einmal mehr das Telefon beantworten, wenn die «Ocean Viking» anruft. Ralph hat so auch gelernt, mit den Toten zu leben. Jeweils vor dem Schlafengehen spricht er mit Gott. «Danke, Gott», sagt er an manchen Tagen, «dass du mich hierher geschickt hast.» Vielleicht bekomme sein Leben so einen Sinn. Und an anderen: «Danke, Gott, aber ein Mensch ist gestorben.» Man gewöhne sich daran, die Leichen zu sehen. Aber normal werde es nie.

Die Monate zwischen den Einsätzen verbringt Ralph auf den Philippinen. «Ich bleibe einfach daheim, esse, trinke und spiele mit den Kindern», sagt er. Solange, bis er wieder draussen ist, auf dem Meer, das nicht seines ist, wo er zu einer Funktion wird und zwei 115 PS starke Motoren so lange durchdrückt, bis seine Crew am schmalen Grat zwischen Leben und Tod angekommen ist. Und während er das tut, trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift SOS, save our souls. Darüber baumelt ein Kreuz. Der Container, der zur Lagerung der Leichen bestimmt ist, thront ganz oben auf der «Ocean Viking».

Seit einem rechtsextremen Angriff auf ihr Hauptbüro in Marseille verzichtet SOS Méditerranée darauf, die vollen Namen ihres Personals zu veröffentlichen.

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