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Stadtgesellschaft

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Aufgelesen

Aufgelesen

Shinjuku, Tokio 2003. In Tokio werden nur diejenigen Menschen statistisch erfasst, die ihr tägliches Leben in Parks, auf der Strasse und anderen öffentlichen Orten verbringen. Ihre Zahl ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung äusserst gering. Dies aber auch, weil Wohnungslose, die in Not- und Obdach- losenunterkünften leben oder bei Familie und Freunden und an anderen Orten unterkommen, vollständig aus der Zählung ausgeklammert werden. Lebensraum o16 Ostpark. Wohnheim am Rande des Ostparks in Frankfurt am Main. Früher stand hier eine Notunterkunft aus Zelten, die in der Presse stark kritisiert wurde. Die schimmernde Fassade umschliesst das Wohnheim in Richtung Park und somit zum öffentlichen Raum. Das skulpturen- ähnliche Äussere bietet Parkbesucher*innen ein beeindruckendes Bild.

Befristetes Zeltlager für Obdachlose, Fulton St.,

San Francisco 2020. Lange versuchten viele Städte, Obdachlose aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen – angeblich, um sie zu schützen. Seit der Pandemie 2020 tauchten weltweit vermehrt Bilder von Massnahmen im Zentrum auf. In der Fulton Street wurden Zelte auf einem aufgemalten Raster von Rechtecken aufgestellt – unmittelbar vor dem Rathaus von San Francisco.

Keine Belohnung, sondern Menschenrecht

Stadtgesellschaft Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein strukturelles Problem, das nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann. Die Ausstellung «Who’s Next?» in München stellt die Frage, welchen Beitrag Architekt*innen leisten können.

TEXT GIULIA BERNARDI

Laut dem EU-Forschungsprojekt «Homelessness as Unfairness» leben in Europa rund drei Millionen Menschen ohne feste Bleibe. Ursachen dafür sind die wachsende Ungleichheit der Einkommen und die sinkende Anzahl von Sozialwohnungen. Somit handelt es sich bei Wohnungs- oder Obdachlosigkeit in der Regel nicht um individuelle, sondern um strukturelle Probleme, die verheerende Folgen für die betroffenen Menschen haben.

Dass sich Wohnungs- und Obdachlosigkeit nur gesamtgesellschaftlich erfassen lassen, betont auch Daniel Talesnik, Kurator der Ausstellung «Who’s Next?» im Architekturmuseum der Technischen Universität München. «Obdachlosigkeit ist die Auswirkung eines kapitalistischen Systems. Das zeigt sich etwa an der Liberalisierung des Marktes. Sie verunmöglicht Menschen mit geringem Einkommen in vielen Städten, eine erschwingliche Wohnung zu finden.» Die daraus resultierende steigende Obdachlosigkeit sei auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausstellung gewesen. «Darin beschäftigen wir uns mit der Frage, welche Rolle Architektur dabei spielt und welchen Beitrag sie leisten kann.»

Obdachlose in der Schweiz

Nach Angaben der Sozialwerke gibt es auch auf Schweizer Strassen immer mehr Menschen ohne festes Dach über dem Kopf. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz von 2019 hat ergeben, dass allein in Basel rund 100 Menschen obdachlos und weitere 200 Personen wohnungslos sind, also in Notunterkünften, Heimen oder bei Bekannten übernachten. Die Studie hält verschiedene Gründe fest: finanzielle Schwierigkeiten, Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Sucht- oder Beziehungsprobleme. Waren früher vor allem arbeitslose und drogensüchtige Menschen obdachlos, so sind es heute vermehrt auch Personen mit psychischen Problemen, Sans-Papiers oder Asylsuchende. Es werden unter anderem Modelle und Fotografien von neunzehn internationalen Wohnprojekten gezeigt. Ein Beispiel ist das Projekt «Holmes Road Studios». Die Sozialwohnungen, die sich im Nordwesten von London um einen gemeinschaftlich nutzbaren Garten organisieren, sind mit Ausbildungs- und Beratungsmöglichkeiten kombiniert, die für die rund fünfzig Bewohner*innen bereitstehen. Das Wiener Projekt «VinziRast-mittendrin» wiederum wurde durch eine studentische Initiative initiiert und beherbergt heute ehemals Obdachlose und Student*innen gleichermassen. Ein besonderes Augenmerk in der Entwicklung lag auf dem Problem der sozialen Ausgrenzung und räumlichen Segregation, dem mit gemeinsamen Aufenthaltsräumen begegnet werden soll.

Neben den Wohnprojekten, die Fragen der architektonischen und räumlichen Planung aufgreifen, sind in der Ausstellung mehrere Dokumentarfilme zu sehen, welche die Lebensrealitäten von wohnungs- und obdachlosen Personen thematisieren. Andere künstlerische Projekte verweisen auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, darunter etwa die öffentliche Installation «The Glowing Homeless» von Fanny Allié. Sie besteht aus einer Neonröhre, die auf einer Parkbank in Brooklyn platziert wurde und einem liegenden Menschen ähnelt. Mit dieser leeren, leuchtenden Silhouette thematisiert die in New York lebende Künstlerin die Unsichtbarkeit obdachloser Personen, ihre Entmenschlichung und die bewussten oder unbewussten Vorurteile, die damit einhergehen.

Gesamtgesellschaftliche Fragen

Das Ausmass der weltweiten Wohnungs- und Obdachlosigkeit stellt die Ausstellung mittels einer umfangreichen Recherche dar, welche die Lage in acht Städten genauer analysiert: Dabei untersuchten lokale Expert*innen etwa die Bevölkerungsdichte oder ermittelten, wie viele Personen unterhalb der Armutsgrenze leben oder täglich in Notunterkünften übernachten. «Wir haben uns auf Städte fokussiert, die einen gewissen urbanen Wohlstand erreicht

The Glowing Homeless, Greenpoint, Brooklyn, 2011. Neonskulptur der Künstlerin Fanny Allié, die sich mit der Entmenschlchung von Obdachlosen in New York auseinandersetzt. In New York City schliefen im Jahr 2020 einer Statistik der «Coalition for the Homeless» zufolge rund 120 000 Männer, Frauen und Kinder in städtischen Unterkünften.

Blick in eins der privaten Zimmer im VinziRast Mittendrin.

In diesem dauerhaften Wohnprojekt in Wien hat jede Wohnung eine eigene Küche, weiter gibt es einen Aufenthaltsraum, Werkstätten, einen Studienraum, ein öffent - liches Restaurant und einen Dachgarten. Das Aussergewöhnliche ist die Zusammensetzung der Bewohner*innen: je zur Hälfte Student*innen und Ex-Obdachlose. haben, der wiederum mit extremer Armut kollidiert», erklärt Talesnik. Er spricht von Metropolen wie New York, São Paulo oder Tokio. «Die Auswahl fiel auf nicht-europäische Städte, weil Europa noch über ein Sozialhilfesystem verfügt, wenngleich auch ein mangelhaftes, das dringend gestärkt werden sollte.»

Während der Pandemie hat sich die ohnehin schon prekäre Lage von Obdachlosen weiter verschärft. Die meisten Notunterkünfte waren aufgrund der neu eingeführten Hygienemassnahmen nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar. Vielerorts wurden Hotelzimmer umgenutzt oder andere kreative Massnahmen getroffen: Im befristet genehmigten Zeltlager in der Fulton Street in San Francisco beispielsweise stellte man die Zelte innerhalb von vordefinierten Markierungen auf dem Asphalt auf, um den Abstand zu gewährleisten und weitere Ansteckungen zu verhindern.

Dass die steigende Obdachlosigkeit eine globale Herausforderung ist, wird nun während der Pandemie besonders sichtbar und wird sich zunehmend auch in weiteren Krisenphänomenen zeigen, wie Talesnik im Ausstellungskatalog schreibt: Er nennt Bürgerkriege, die Klimakrise oder systemische Probleme wie häusliche Gewalt, Homo- oder Transfeindlichkeit, welche die Menschen dazu zwingen, aus ihren Ländern zu flüchten. Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind auch eine Folge jener gesamtgesellschaftlichen Fragen, die uns alle umtreiben.

Bedingungsloses Wohnen

«Die Art und Weise, wie Wohnraum in Städten verteilt ist, muss sich ändern.» Talesnik bezieht sich auf «Housing First», das Anfang der 1980er-Jahre in den Vereinigten Staaten aufkam und wohnungslosen Menschen dauerhaft und in der Regel bedingungslos Wohnraum zur Verfügung stellt. Als Projekt enthält es vielerorts zusätzliche Unterstützungsangebote, an denen freiwillig teilgenommen werden kann. Dass nicht wie in vielen Resozialisierungsprogrammen zuerst die eigene «Wohnfähigkeit» nachgewiesen werden muss, um ein Dach über dem Kopf zu bekommen, verdeutlicht: Wohnen soll keine Belohnung sein, es ist ein Menschenrecht. Problematisch sei allerdings, dass sich «Housing First» ausschliesslich an Personen richte, die als «chronisch obdachlos» gälten, sagt Talesnik. Entsprechend kann das Modell nur wirken, wenn es in eine umfassende Strategie eingebettet wird. Wie diese gestaltet sein könnte, wird auch in der Ausstellung reflektiert. «Wir stellen einerseits die Frage, was Architektur erreichen kann, verdeutlichen andererseits aber auch, dass sich ein systemisch angelegtes Problem nicht nur mit Architekt*innen lösen lässt, sondern nur gemeinsam mit anderen Disziplinen bewältigt werden kann.»

«Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt», Ausstellung, Di bis So, 10 bis 18 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, bis So, 6. Februar, Architekturmuseum der TUM, Barer Strasse 40, München. www.architekturmuseum.de Die gleichnamige Ausstellungspublikation (Hg. Daniel Talesnik und Andres Lepik) ist im Buchhandel erhältlich.

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