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Pflege
«Peter ist sensibel, ein Melancholiker», sagt sein bester Freund Hans Rhyner, der ihn regelmässig im Pflegeheim in Schaffhausen besucht.
Gefangen in der inneren Unruhe
Pflege Früher hetzte Peter Conrath wegen seiner Schulden rastlos durchs Leben. Nun sitzt der Surprise-Stadtführer und -Verkäufer nach einer Hirnblutung halbseitig gelähmt im Rollstuhl.
TEXT ANDRES EBERHARD FOTOS ROLAND SCHMID
Eine Journalistin fasste Peter Conraths Biografie einmal mit dem Satz zusammen: «Er ist nach jedem Rückschlag wieder aufgestanden und hat weitergemacht.» Ein anderer bezeichnete das Lied «Steh auf, wenn du am Boden bist» von den Toten Hosen gar als passende Hymne für Peter Conraths Leben. Nun passt das Bild des Stehaufmännchens nicht mehr – beziehungsweise nicht mehr im wortwörtlichen Sinn. Anfang dieses Jahres erlitt Peter Conrath, 57, eine Hirnblutung. Seither ist er halbseitig gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Aufstehen, das geht vorläufig nicht mehr. Aber ein Kämpfer, der nicht aufgibt, ist er auch in dieser Zeit, der vielleicht schwierigsten seines Lebens.
Wie er diesen erzwungenen «Lebenswandel» hingenommen hat, hat manchen in seinem Umfeld erstaunt. «Er war ein Schaffer, immer im Stress, immer unter Menschen», sagt Carmen Berchtold, bei Surprise für das Zürcher Team der sozialen Stadtführer*innen verantwortlich, in dem Conrath seit Jahren eine tragende Figur war. Jetzt hat Conrath viel Zeit, ist praktisch immer alleine und rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen. Trotzdem habe er seinen Lebensmut nicht verloren, schmiede bereits neue Pläne. «Sein Optimismus ist bewundernswert», sagt Berchtold.
In seinem alten Leben war Conrath erst Koch, Securitas-Angestellter und dann Unternehmer mit eigener Firma in der Reinigungsbranche, ehe er durch einen Töffunfall in den Ferien alles verlor. Da er als Selbständiger nicht versichert war, geriet er in die Schuldenfalle. Doch schon weniger als ein Jahr nach dem Unfall stand Conrath bereits wieder an einem Wurststand und machte sich daran, sich eine neue Existenz aufzubauen. Später belegte er Sandwiches, verkaufte Maroni, verkaufte Surprise und zeigte als Stadtführer die Stadt aus der Perspektive armutsbetroffener Menschen. Über fünfzehn Jahre lang lebte er von den rund 2000 Franken im Monat, die er verdiente. Mithilfe von Surprise machte er eine Schuldensanierung und beglich alle noch ausstehenden Rechnungen. Zumindest vorübergehend war er schuldenfrei. Immer genügend Geld zu verdienen, um für sich selbst zu sorgen, blieb allerdings ein Kampf.
Seine Notlage – die Last des Schuldenbergs auf seinen Schultern – hatte Conrath gezeichnet. Er hetzte von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Seine Rastlosigkeit war auch der Grund dafür, dass Conrath etwas Tollpatschiges anhaftete. Seine Beine waren manchmal schneller als sein Kopf. Immer wieder liess er sein Handy liegen. «Einmal riefen wir ihn an, da klingelte es bei uns im Büro», erzählt Berchtold und lacht. Wenn er aber einmal zu wenig Arbeit hatte, wurde er sehr ungeduldig. Er sei der Typ, bei dem immer etwas laufen müsse, pflegte er dann zu sagen. Peter Conrath ist ein geselliger Typ. Berchtold hat ihn auch bei gemeinsamen Essen oder Kegelabenden mit dem Surprise- Team erlebt. Für solche Gelegenheiten, bei denen er loslassen konnte, sei er immer sehr dankbar gewePeter Conrath ist an diesem sen. Von sich aus gönnte er sich aber selten etwas. «Er hatte lange Zeit das Gefühl, Tag nahe am Wasser dass ihm das nicht zusteht, solange er Schulden hat», sagt sie. Dass er sich selgebaut. Erst lacht er Tränen. ber vernachlässigte und zu wenig zu sich selbst schaute, zeigte sich auch darin, Aber dann, als er über dass er seit Jahren seinen hohen Blutdruck nicht behandeln liess, obwohl er sein altes Leben spricht, darüber Bescheid wusste. Am 24. Januar 2021, Peter Conrath war zieht sich sein Gesicht für ein paar Tage Ferien zu seinem Freund Ruedi Kälin nach Davos gefahren, brach er zusammen. auf einem Spaziergang zusammen. Das nächste, woran er sich erinnern kann, ist ein Spitalbett in Chur. Es folgte eine wahre Odyssee, die ihn durch verschiedene Pflegebetten führte. Per Helikopter wurde er zunächst in seinen Wohnort Schaffhausen überführt. Nach dem Spital folgte eine Reha in Baden. Es schien aufwärts zu gehen, doch dann erlitt Conrath mehrere Lungenembolien. Zurück im Spital, dieses Mal in Zürich, hing sein Leben wieder an einem dünnen Faden. Conrath war nicht mehr ansprechbar, und weil er keine Patientenverfügung hatte, war es an seiner Schwester Monika zu entscheiden, ob man ihn im Falle eines Herzstillstands reanimieren sollte. «Ich entschied mich dagegen, aber das ist mir extrem schwergefallen», erzählt sie. Erinnerungen an ihre Mutter, die an einem Hirnschlag gestorben war, wurden wach. «Ich kam mir vor wie eine Mörderin.»
Doch Peter Conrath erholte sich. Er kam wieder zurück nach Baden, dann für eine weitere Reha nach Zurzach und schliesslich nach Schaffhausen in ein Pflegeheim. Dort hat ihn seine Schwester an einem Herbstmorgen abgeholt und ihn für ein Treffen auf die Terrasse einer Bäckerei in Schaffhausens Altstadt geschoben.
Die Sonne scheint, steht aber noch nicht so hoch, dass sie die engen Gassen der Schaffhauser Altstadt erreichen könnte. Monika legt ihrem Bruder zwei wärmende Decken über die Beine und holt dreimal Kafi und Gipfeli. Peter Conrath nippt an seiner Tasse, doch er widersteht der Verlockung des frischen Gebäcks. «Ein einziges Gipfeli hat so viele Kalorien wie mehrere Brötli», sagt er.
Dass er hier sitzen kann und wieder sprechen kann, ist ein erster Erfolg auf dem Weg zurück. Den Aufwärtstrend möchte er nicht mit einem Gipfeli gefährden. Conrath hat immer gerne währschaft gegessen, vor seinen Stadttouren etwa genehmigte er sich am Würstlistand Calypso im Zürcher Niederdorf oft einen Chäschlöpfer mit Ketchup und Mayonnaise. Doch nun schaut er aufs Gewicht, über dreissig Kilogramm hat er in der langen bettlägerigen Zeit bereits abgenommen. «Es dürfte noch mehr weg», sagt er. Übergewicht ist ein Risikofaktor für hohen Blutdruck. Und dieser könnte zu einer weiteren Hirnblutung führen. «Geraucht und gesoffen hat er aber nie», sagt seine Schwester, wie um zu verdeutlichen, dass man eben nur einen kleinen Teil seines Schicksals in der Hand hat. «Ab und zu ein Panaché, das ist alles.» Nur dass er in den letzten dreissig Jahren nie zum Arzt ging, selbst nach unerklärlichen Stürzen oder Schwindel nicht, das nimmt sie ihrem Bruder übel.
Isoliert im Heim
Peter Conrath ist an diesem Tag nahe am Wasser gebaut. Erst lacht er Tränen, etwa dann, als seine Schwester liebevoll über seinen Lieblings-Wollpullover herzieht, der bei jedem Waschen etwas kleiner geworden sei und den sie nun entsorgt habe. («Der war doch noch tipptopp», protestiert ihr Bruder.) Dann aber, wenn er über sein altes Leben spricht, zieht sich sein Gesicht zusammen und er muss weinen. Sein Befinden pendelt im Minutentakt zwischen Dankbarkeit für die Hilfe seiner Nächsten und dem Bedauern, was alles gerade nicht möglich ist, hin und her. «Ich vermisse die Stadttouren», sagt er. «Wenn ich in Zürich unterwegs bin, Hefte verkaufe oder Touren mache, spreche ich ständig mit Menschen. Für manche bin ich der Seelentröster. Und auch mir fehlen diese Leute.»
Conrath ist in Schaffhausen ziemlich alleine. Das liegt auch daran, dass er erst kurz vor der Hirnblutung hierhergezogen war. Davor hatte er in Zürich in einem einfachen Zimmer mit geteilter Küche und Bad gelebt, in einem Haus, das über kurz oder lang saniert worden wäre. Deshalb gründete er, als sich die Chance bot, gemeinsam mit einem anderen Surprise-Verkäufer in Schaffhausen eine WG. Abwegig war der Umzug nicht, denn in Schaffhausen verkauft Conrath schon seit vielen Jahren Surprise-Hefte vor der Migros. Sein Umfeld aber, die sozialen Kontakte, beschränkte sich auf die Menschen, die er auf der Strasse antraf. Das reichte ihm damals. Doch nun, isoliert in einem Heim und nicht imstande, eigenständig unter die Leute zu kommen, fehlen diese Begegnungen.
Conrath selbst hat keine eigene Familie gründen können, Surprise ist für ihn so etwas wie ein Ersatz. Das zeigt sich auch jetzt, denn neben seinen Geschwistern besuchen ihn vor allem Freunde und Mitarbeitende – sein guter Freund und Stadtführer Hans Rhyner und die Sozialarbeiter*innen aus Zürich.
Es ist seine Schwester, die sich nun hauptsächlich um Peter Conrath kümmert. Allerdings lebt Monika im Wallis. Mehr als ein- bis zweimal pro Woche durch die ganze Schweiz fahren liegt nicht drin. Wenn sie ihn besucht, geht sie mit ihm zum Arzt, bringt ihm Kleider, organisiert seine Termine, verhandelt mit der Heimleitung. Für den Rest hat sie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingeschaltet. Von ihr erhofft sie sich unter anderem, dass sie sich dafür einsetzt, dass Conrath einen elektrischen Rollstuhl bekommt – die Voraussetzung dafür, dass ihr Bruder wieder selbständig Surprise-Hefte verkaufen und da-
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mit sein altes Leben zumindest teilweise zurückgewinnen kann. Auch bei der IV ist Conrath angemeldet. Bis zum Rentenentscheid überbrückt der Sozialdienst.
Immer noch auf der Terrasse der Bäckerei, hebt Conrath die Schulter seiner weitgehend gelähmten linken Seite an, dann spreizt er die linke Hand, die auf einem Kissen über dem Rollstuhl liegt – die ersten Erfolge der Physiotherapie machen sich bemerkbar. Gesundheitlich geht es Peter Conrath langsam, aber stetig besser. Schmerzen habe er keine, sagt er an diesem Tag sowie Wochen später am Telefon. Und trotzdem, es plage ihn eine «innere Unruhe» und er vermisse sinnvolle Gespräche. In seinem Pflegeheim leben ausser ihm fast nur psychisch kranke Menschen. «Ich rede mit ihnen, aber es gibt oft kein richtiges Gespräch.» Seine Schwester Monika wird deutlich: «Er vereinsamt da drin, das macht ihn fertig. Er muss da raus.»
Wenig geeignete Pflegeplätze
Das Pflegeheim ist ausserdem nicht durchgehend rollstuhlgängig und die Besuchszeiten sind stark reglementiert. Dies allerdings nur teilweise darum, weil das Heim die Corona-Regeln sehr streng auslegt. Auch wurde ihm viel Ruhe verordnet, was seine Schwester nicht verstehen kann: «Die Besuche, die sozialen Kontakte, sie sind es, die Peter am Leben erhalten.»
Aus diesem Grund sucht sie schon seit Monaten nach einer Alternative. Doch so einfach ist es nicht. Zwar gebe es grundsätzlich genügend Pflegeplätze, wie der Kanton Schaffhausen auf Anfrage mitteilt. Er verweist auf eine kürzlich durchgeführte Studie. Jedoch entfallen von den rund 1500 Pflegeplätzen im Kanton etwa 1200 auf die Alterspflege. Und von den restlichen 300 befinden sich rund zwei Drittel in Einrichtungen für Menschen mit psychischen Störungen. Jüngere Körperbehinderte sind seltener, die Platzsituation ist angespannt. Zumal eines der auf sie zugeschnittene Heime, das Pflegeheim «Hand in Hand», kürzlich nach Skandalen Konkurs ging und schliessen musste. Es bleiben rund 60 Plätze, die explizit für Menschen wie Peter Conrath vorgesehen sind, im Ilgenpark in Ramsen sowie im Lindli-Huus in Schaffhausen.
Dass es zu wenige spezifische Pflegeplätze gibt für Menschen, die zwar pflegebedürftig, aber weder alt noch psychisch krank sind, ist ein schweizweites Problem. Julia Eugster von Fragile Suisse, der Patientenorganisation für Menschen mit Hirnverletzung und deren Angehörige, sagt: «Es bräuchte mehr Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten, damit Betroffene eine Wahl haben.» In den meisten Kantonen gebe es zwar grundsätzlich genügend Pflegeplätze, jedoch zu wenige, die für jüngere Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wie eben Hirnverletzungen geeignet sind. Im ambulanten Bereich sei zudem die Finanzierung ein Problem. Wer zuhause wohnen und versorgt werden möchte, bekommt zwar in vielen Kantonen Spitex-Leistungen bezahlt, nicht aber die notwendige zusätzliche Unterstützung wie etwa im Rahmen eines begleiteten Wohnens.
Es geht gegen 12.30 Uhr an diesem Herbsttag, noch 45 Minuten, dann endet die Besuchszeit und Peter Conrath muss zurück ins Pflegeheim. Monika nimmt die Decken von den Knien ihres Bruders, legt sie über den Stuhl und schiebt den Rollstuhl Richtung Altstadt davon. «Wir müssen dir noch Schuhe kaufen», sagt sie zu ihm, als sie in die Einkaufsgasse einbiegt. Conraths Wohnung in Schaffhausen ist mittlerweile geräumt, seine Möbel sowie rund fünfzehn Kisten mit Kleidern und Material lagern in einem Container. Ins Heim hatte er nur das Nötigste mitgenommen, im Unwissen darüber, wie lange er dort bleiben würde.
Der Weg zurück in die Selbständigkeit: Peter Conrath darf dank der Hartnäckigkeit seiner Schwester im Lindli-Huus probewohnen, einem der wenigen geeigneten Pflegeheime für seinen Fall.
Zwei Wochen nach dem Treffen macht sich die Hartnäckigkeit seiner Schwester bezahlt. Peter Conrath darf im Lindli-Huus, einem der wenigen geeigneten Pflegeheime im Kanton, probewohnen. Ein Zimmer mit eigener Küche und Bad, das mit den eigenen Möbeln eingerichtet werden kann. Im Heim befindet sich zudem eine grosse Werkstatt, wo jede*r eine Arbeit findet. Und Besuch dürfen die Bewohner*innen empfangen, wann sie wollen. Klappt es, wäre das ein grosser Schritt zurück in Richtung selbstbestimmtes Leben. Der nächste wäre ein Elektrorollstuhl, der es ihm erlaubt, wieder mobil zu sein. Noch wartet er auf eine Kostengutsprache dafür.
Bis Peter Conrath wieder auf die Strasse zu den Menschen kann, ist er darauf angewiesen, dass die Menschen zu ihm kommen. So wie etwa Hans Rhyner, einer seiner besten Freunde und ebenfalls Surprise-Stadtführer in Zürich. An manchen Tagen holt er Conrath im Heim ab und isst mit ihm Zmittag im Manor-Restaurant. Dass er seinen Freund in dessen dunkelsten Stunden regelmässig besucht, schulde er nicht nur Peter, sondern auch sich selbst. «Er fehlt mir sehr.»