4 minute read
Versuchsaufbau
«Demokratie ist ein Experiment»
Diskussion Wir haben sechs Personen an einen Tisch gesetzt und ihnen drei Themen serviert. Vorgabe war: Konsensbildung. Also haben sie diskutiert. Und wie.
TEXT SARA WINTER SAYILIR UND KLAUS PETRUS
Manchmal drängt die Zeit uns Fragen auf. Beispielsweise beim Klima – ist die Demokratie mit ihrer langsamen Entscheidungsfindung womöglich zu träge, um uns vor dem Kollaps zu bewahren? Vielleicht fallen Ihnen noch weitere Beispiele ein, wo Sie sich schon mal gewünscht haben, wir würden uns nicht erst sämtliche Argumente anhören müssen, zwischen den Positionen abwägen, alle Seiten berücksichtigen, sondern einfach schnell und effizient vorwärtsmachen. Aber was hiesse das im Umkehrschluss? Wer würde entscheiden, wohin es geht? Mit welchem Recht? Und würden Sie sich noch als Teil des Ganzen begreifen, wenn Sie gar nicht mehr gefragt würden?
Die Schweiz ist eine Konkordanzdemokratie. Das Wortungetüm leitet sich ab vom lateinischen «concordare», was «übereinstimmen» bedeutet. Das ist eine besondere Form der Konsensdemokratie. Bei dieser eher seltenen Form der Demokratie wird besonders darauf geachtet, dass nicht allein die Mehrheit entscheidet – wie in den meisten anderen demokratisch regierten Ländern –, sondern dass die Repräsentation möglichst weiter Teile der Bevölkerung durch einen breit abgestützten Konsens gesichert wird.
Es ist kein Zufall, dass wir uns dieses System gebaut haben. In stark kleinteilig organisierten und in viele Gruppen und Untergruppen zerfallenden Gesellschaften wie der schweizerischen ist dies eine gute Möglichkeit, die Fliehkräfte unter Kontrolle zu halten – also den Staat vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Sprich: Uns unterscheidet so vieles, so dass wir mehr Zeit und Energie als andere darauf verwenden müssen, das Verbindende zu suchen. Oder positiv formuliert: Wir verwenden mehr Zeit auf den Schutz des Gemeinwesens und der Partikularinteressen – und vergewissern uns damit immer wieder erneut: Wir gehören alle dazu und wollen auf diese Weise miteinander leben.
Was es nicht heisst: Dass wir uns mehr einig sind als andere. Auch ist Konsensfindung in der Dynamik sicher eher etwas langsamer; grosse Veränderungen brauchen mehr Überzeugungsarbeit. Im politischen Alltag sieht unsere Konsensdemokratie auch oft gar nicht danach aus, als würden wir uns gemeinsam um eine möglichst gute Entscheidung bemühen, die für alle stimmt. Im Gegenteil: Die Kampagnenlogik befeuert das Gefühl von Lagerbildung – oft sind die Fliehkräfte stärker zu spüren als das Verbindende.
Das hat natürlich auch mit der Grösse eines Staates zu tun, und dass man nur selten den Konsens mit Menschen aushandeln muss, denen man wirklich gegenübersitzt. Es sei denn, man ist in der Politik. Vielleicht werden auch in manchen Betrieben Entscheide das eine oder andere Mal als Konsens gefällt. Wobei die Wirtschaft in der überwiegenden Mehrheit eher hierarchisch funktioniert, auch wenn sich das Bewusstsein von der Nachhaltigkeit konsensgetragener Entscheidungen und flacher Hierarchien dort langsam durchsetzt. Denn je mehr Mitarbeitende einen Entscheid der Geschäftsleitung verstanden haben und sich gehört fühlen, desto mehr sind bereit, diesen aktiv mitzutragen und umzusetzen. Und wie sieht es in den Familien aus? Sitzen Sie mit allen Beteiligten um einen grossen Tisch und entscheiden gemeinsam, ob nun ein Elektroauto oder ein Lastenrad angeschafft wird, wie die Zimmer in der Wohnung genutzt werden, wer wieviel arbeitet oder wohin es in die Ferien geht?
Auch die unsägliche Pandemie, die wir nun schon lange gern zu Vergangenheit erklären würden, zeigt uns auf, wo unser System an seine Grenzen stösst. In den von Frieden und Wohlstand verwöhnten Industrieländern sind wir es einfach nicht gewohnt, dass etwas nicht diskutabel ist. Wir handeln doch sonst alles aus! Warum nicht auch «Covid – pro und contra»? Wir machen doch zu sonst allem eine Forumsdiskussion. Oder eine «Arena».
Nun ist die «Arena» aber gar kein Ort, an dem Austausch passiert und man versucht, einander zu verstehen und das Verbindende zu suchen. Dort werden eher verfestigte Positionen wiederholt, ein Blick in die verschiedenen Lager geworfen. Das mag seine Funktion haben – manchmal wünscht man sich aber doch, es würde einander auch mal zugehört, aufeinander eingegangen, die eigene Position vielleicht hinterfragt.
Deshalb erschien es uns als gute Idee, über die Feiertage und den Jahreswechsel mal wieder das zu üben, was uns als Schweiz trotz allem zusammenhält: die Erfahrung der magischen Wirkung von Konsens.
Wir haben sechs Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären im Zürcher Sogar-Theater an einen Tisch geholt. Sie kannten sich nicht und wurden einander nur mit Vornamen vorgestellt. Sie kamen unvorbereitet und in Unkenntnis dessen, worum es genau gehen würde. Nacheinander haben wir ihnen drei Themen angerissen, die sie jeweils etwas über eine halbe Stunde miteinander diskutieren sollten. Die Vorgabe war: zu zwei der drei Themen muss ein Konsens erarbeitet werden. Es gab während des Gesprächs keine Moderation, keine Rollen und keine weiteren Regeln (ausser denen der Höflichkeit und des Anstandes).
Wir haben bei der Auswahl versucht, die Gruppe in jeder Hinsicht möglichst divers zu zusammenzustellen. Einzig beim Bildungsstand haben wir bewusst einen Fokus darauf gelegt, dass die Gesprächspartner*innen einander möglichst ebenbürtig begegnen können, um eine gerechte Gesprächsgrundlage zu schaffen.
Natürlich kann eine Gruppe von sechs nicht repräsentativ für unsere Gesellschaft stehen, und wir beanspruchen auch nicht, alle Faktoren gleichermassen berücksichtigt zu haben. Manches haben einfach der Zufall und die Verfügbarkeit bestimmt – so wie es auch im Leben oft genug der Fall ist. Wir wussten nicht, ob es gelingen würde. Wir wussten nur: Es ist ein Experiment und es ist spannend. Hier ist das Skript des Gesprächs in der Reihenfolge, wie es geführt wurde.