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Thema I

Rechte und Pflichten

Wir haben ein Demokratiedefizit. Jede vierte Person, die in der Schweiz lebt, hat keine politische Stimme auf nationaler Ebene – weil sie keinen Schweizer Pass hat. Sie hat Pflichten, zahlt Steuern und Abgaben, besitzt aber keine Rechte. Gleichzeitig rühmen wir uns unserer weitgefassten Demokratie mit ihren vielen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Darin liegt ein Widerspruch.

In einigen Bereichen ist dieser bereits aufgehoben: Auf kantonaler Ebene gewähren die Kantone Neuenburg und Jura ausländischen Staatsbürger*innen das Stimmrecht und das aktive Wahlrecht unter bestimmten Bedingungen. Und doch: Kein Kanton räumt ausländischen Staatsbürger*innen das passive Wahlrecht ein. Auf kommunaler Ebene ist die Mitbestimmung von Menschen ohne Schweizer Pass etwas etablierter – hier zeigt sich übrigens auch, dass mehr Mitbestimmung nicht zwingend politische Mehrheiten verändern würde. In den 600 Schweizer Gemeinden, die das Ausländerstimmrecht kennen, hat sich herausgestellt: Zwar würden Ausländer*innen laut einer Studie eher linken Parteien ihre Stimme geben, das gilt jedoch nur für Menschen, die erst seit Kurzem in der Schweiz sind. Bei Secondos ist der Unterschied zur Schweizer Bevölkerung geringer, bei Terzos kaum mehr vorhanden.

Sollte das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen flächendeckend eingeführt werden?

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Danke! Obdachlosigkeit gehört in die Vergangenheit. Surprise 515/21 Schreiben wir gemeinsam Geschichte.

Hernâni: Also, ich kann jetzt gleich einmal loslegen, weil ich nämlich selbst Ausländer bin. Ich mische mich aber ständig ein. Denn Mitbestimmung und Mitsprache ist nicht das gleiche. Mitsprache betreibe ich extensiv, indem ich überall Propaganda mache und auch Referenden und Initiativen mitergreife. Auch wenn ich dann nicht stimmen kann, weil ich eben keine Stimmberechtigung habe. Ich denke, man sollte für Leute, die hier geboren sind, die keine Strafregistereinträge haben, die die Landessprachen sprechen und überall integriert sind, schon mal etwas machen. Ich bin zwar hier geboren, habe aber den Kanton so häufig gewechselt, dass ich nicht einmal einen Einbürgerungsantrag stellen kann. Jetzt wohne ich in Fribourg, da muss ich zwei Jahre in der gleichen Gemeinde gelebt haben, d.h. ich nächstes Jahr ein Einbürgerungsgesuch stellen kann, wenn der Nachrichtendienst es zulässt, weil der mag mich nicht. (alle lachen) Markus: Ich finde das System, wie es heute ist, eigentlich gut. Man muss eingebürgert sein, um seine Stimme abzugeben. Dass mit diesen Regeln zur Kantonsüberschreitung die Einbürgerung unnötig erschwert wird, das finde ich auch nicht mehr zeitgemäss. Generell finde ich aber, die Demokratie ist ja kein Selbstläufer, sondern etwas kulturell Gewachsenes. Eine Mehrheit kann eine Minderheit plattwalzen. Es braucht eine gewisse Tradition, dass man in einer Demokratie auch die Minderheiten respektiert. Da wächst man hinein. Ich finde es grundsätzlich gut, dass wenn man in die Schweiz kommt aus irgendeiner Kultur, wo diese Art Mitbestimmung vielleicht gar nicht existiert, dass man dieses doch relevante Bürgerrecht nicht sofort kriegt. Hernâni: Aber wenn man hier geboren ist, sollte man es schon sehr stark vereinfachen. Findest du nicht? Markus: Wenn man hier geboren ist und in die Schule geht, ist man ja auch irgendwann zehn Jahre hier und könnte sich einbürgern lassen. Wenn man denn will. Es gibt ja auch erstaunlich viele, die das gar nicht wollen. Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Hernâni: Von meinen Eltern kann ich sagen: Die sind nur hier, um zu arbeiten, und wollen sofort zurück, wenn das Pensionsalter erreicht ist. Der Bezug zur Schweiz ist beschränkt. Sie arbeiten und zahlen Steuern, sind aber eigentlich immer gedanklich in Portugal. Markus: Mitbestimmung ist also in dem Sinne gar kein Wunsch? Hernâni: Nee, sie leiden jetzt auch nicht darunter. Bei mir selber ist das auch kein Problem. Ich mache genug Dinge, beeinflusse Abstimmungen und Wahlen, es ist also nicht so, dass ich mir ausgegrenzt vorkomme. Aber wenn ich abstimmen könnte, wäre das auch nicht schlecht. Gewählt werden will ich gar nicht. Lucia: Ich tendiere eher zu der Argumentation von Markus. Es gab in Basel-Stadt eine Abstimmung dazu: Damals war meine Reaktion, dass man diese Grenze durchaus beibehalten kann und soll. Hernâni: Welche Grenzen meinst du jetzt genau, die Kantonsgrenzen? Lucia: Nein, die Frage, wer ab wann mitbestimmen darf und wie eingebürgert wird. Maurice: Warum? Lucia: Das ist einfach eine spontane Reaktion. Ich denke, wenn man teilhaben will am politischen Leben, dann ist es auch gut, wenn man das System ein wenig kennt und schon länger hier gelebt hat. Das ist für das System besser, als wenn es sich zu schnell verändert. Marina: Ich finde, der Schweizer Pass ist ein Privileg. Und ich habe aus verschiedenen Perspektiven miterlebt, wie dies für Ausländer*innen in der Schweiz zu Diskriminierung führen kann. Es geschehen Demütigungen basierend darauf, beispielsweise bei der Bewerbung um Studienplätze, Arbeits- oder Lehrstellen. Ich habe einen Schweizer Elternteil und einen nichtschweizerischen Elternteil. Das ist ein Zufall. Und ich habe Familienmitglieder, die dieses Privileg nicht hatten. Für sie war es schwierig, den Schweizer Pass zu bekommen. Sie sind ausgezeichnet ausgebildet, wunderbar integriert, haben viel geleistet für die Schweiz. Ich habe Menschen ohne Schweizer Pass erlebt, die von der Schweizer Seite in sehr wichtigen und wegweisenden Situationen ihres Lebens abgewiesen wurden. Ich denke, wenn wir Leute nicht auf dieser Ebene diskriminieren, könnten wir sie ganz anders integrieren und auch die Ressourcen anders nutzen. Lucia: Ich bin hier aufgewachsen in der Schweiz. Ich kenne diese Thematik nicht aus persönlicher Betroffenheit. Ich habe keinen Background, der mich besonders sensibilisieren würde. Denn, und das ist jetzt egoistisch gesprochen, für Leute wie mich funktioniert es ja so. Marina: Es geschieht sicher auf beiden Seiten Unrecht. Es gibt ja auch solche, die das System ausnutzen oder nicht adäquat nutzen. Maurice: Wie kommst du denn jetzt auf ausnutzen? Mitspracherecht heisst ja nicht, dass diejenigen, die von woanders herkommen und keinen Schweizer Pass haben, vollkommen andere Meinungen haben als die Schweizer*innen. Das Argument kann ich nicht nachvollziehen.

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«Mitsprache gehört dazu. Wenn du Pflichten hast, musst du auch Rechte haben. »

MAURICE NDOTONI

Marina: Nein, nein. Ich meine beispielsweise, man arbeitet in der Schweiz, lässt sich dann das Geld auszahlen und verlässt die Schweiz. Aber das haben wir in der Schweiz auch! Maurice: In Basel gibt es ganz viele Menschen, die leben in Frankreich, gehen in Deutschland einkaufen und arbeiten in der Schweiz. Davon sind ganz viele Schweizer*innen. Marina: Stimmt, und es denken alle: Was nützt mir am meisten? Maurice: Ich finde, Mitsprache gehört dazu. Wenn du Pflichten hast, musst du auch Rechte haben. Markus: Wenn du jetzt in ein anderes Land gehst, würdest du erwarten, dass du dort auch sofort mit abstimmen kannst? Das wäre ja die Konsequenz daraus. Lavinia: Dass man sich beteiligen kann, ja. Markus: Also eine globale Personenfreizügigkeit im weitesten Sinne. Maurice: Wie du ja selbst gesagt hast: Du verstehst nicht, warum das mit den Kantonen so kompliziert ist. Du solltest eine gewisse Zeit im Land sein und dich ein wenig akklimatisieren, da widerspreche ich gar nicht, aber dass es zehn Jahre dauert, bis du einen Schweizer Pass hast, finde ich ein bisschen übertrieben. Oder dass du, wenn du den Kanton wechselst, wieder von vorne anfangen musst. Hernâni: In Schwyz und in Uri muss man zum Teil fünfzehn Jahre lang ansässig sein, im Kanton Fribourg reichen zwei. Das macht überhaupt keinen Sinn. Lavinia: Ich bin ja allgemein für Lösungen oder Entscheide, die dafür sorgen, dass alle gleichberechtigt sind. Nur dann findet für mich eine gerechte Welt statt. Wenn alle mitstimmen dürften, die hier leben, ohne diese ganzen Tests über die Schweiz – diejenigen, die sich einbürgern liessen, wissen mehr als ich –, dann wäre es immer noch nicht klar, ob jemand schliesslich abstimmen geht. Aber ich finde es schön und einladend, wenn man sagt: Hey, ihr seid jetzt hier, ihr arbeitet hier, ihr zahlt Steuern, ihr habt Pflichten, ihr dürft auch dazugehören! Sozial, kulturell und politisch sollte man mitmachen dürfen, egal, woher man gekommen ist. Maurice: Gegenfrage, Markus: Wenn du nach Frankreich zögest, würdest du sofort abstimmen? Markus: Also wenn ich könnte, eventuell schon, ja. Wenn ich dürfte. Aber in der Schweiz mit der direkten Demokratie, das ist schon ein anderer Fall, das sind Bürgerrechte, die man so nirgends auf der Welt in dem Ausmass kennt. Und diese Entscheidungen lenken ja dann die Geschicke der Schweiz. Da hat sich über Generationen ein Staatsverständnis entwickelt, am Ergebnis gemessen ein erfolgreiches Modell. Leute aus anderen Staaten haben ein ganz anderes Staatsverständnis, sie sehen den Staat vielleicht als Feind. Maurice: Aber was macht das für einen Unterschied? Ich bin jetzt Secondo-Terzo, also beides, habe den Schweizer Pass, aber ich kenne auch andere, die in der Schweiz aufgewachsen sind, ihre Eltern aber nicht, die haben den Schweizer Pass, sehen die Schweiz aber nicht unbedingt als ihr Land und stimmen entsprechend ab. Der Pass macht nicht den Unterschied. Markus: Leute, die es anders sehen, gibt es immer. Aber es macht einen Unterschied, ob man hier aufgewachsen ist und die direkte Demokratie quasi inhaliert hat, oder ob man später aus einer ganz anderen Welt dazukommt. Das könnte schon dazu führen, dass man beispielsweise bei einer Abstimmung eher kurzfristig auf seinen eigenen Profit schaut, weil man es so kennt. Und in der Schweiz hat es sich eingebürgert, glaube ich, dass man bei Abstimmungen weiterdenkt – also nicht nur für sich, sondern auch fürs Gesamte. Lavinia: Ja, das muss man schon lernen irgendwie. Marina: Das Verrückte ist ja die Willkürlichkeit auf der kantonalen und teilweise auch auf der kommunalen Ebene. Markus: Beim Einbürgerungsprozess?

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Marina: Ja, genau. Hernâni: Zum Teil ist es volksgerichtmässig. Marina: Es sollte nicht willkürlich so sein, dass – wenn ich zum Beispiel aufgrund einer neuen Arbeitsstelle den Kanton wechsle – das Ganze wieder von Neuem zu zählen beginnt. Oder dass Schweizer*innen mit weitaus weniger guter Ausbildung darüber bestimmen, ob eine Familie mit gutem Ausbildungsstatus eingebürgert werden sollte oder nicht. Lavinia: Es geht hier gar nicht nur um Demütigung. Es geht darum, dass Menschen gewürdigt werden. Menschen haben Ressourcen. Solange wir solche Barrieren und Hürden aufrechterhalten, fühlen die Menschen sich nicht gewürdigt. Das ist schlimm. Hernâni: In diesem Zusammenhang ist auch die demokratische Legitimität interessant. Wir haben acht Millionen Menschen in diesem Land, und zum Teil verfügen zwei Millionen über die Richtung, die wir einschlagen. Auch weil die Stimmbeteiligung nicht immer der Hit ist, aber auch weil zahlreiche Leute ausgeschlossen sind, nicht nur Kinder, sondern auch Ausländer*innen. Markus: Wenn man sich entscheidet nicht zu wählen, dann ist es auch eine Entscheidung dafür, dass man das Ergebnis akzeptiert. Das ist okay. Ein anderes Problem ist der Einbürgerungsprozess. Zwar kann nicht jeder, der hier ist, abstimmen, aber der Schuh drückt doch mehr beim Einbürgerungsprozess. Marina: Wie man zum Schweizer Pass kommt und wer an die Urne darf, ich stelle beides in Frage. Grundsätzlich bin ich schon der Meinung, dass alle, die sich hier beteiligen, zur Schule gehen, studieren und arbeiten, abstimmen können sollten. Über die Schwelle müssen wir diskutieren. Hernâni: Du hast vorhin die Identitätsfrage aufgeworfen. Das ist bei mir noch lustig. Mein Bezug zu Portugal ist: cooles Land, ich habe da ein paar Verwandte. Aber hier setze ich mich die ganze Zeit ein. Ich bin auch Verfechter der direkten Demokratie. Ich habe das e-Voting bekämpft, weil das aus unserer Sicht die direkte Demokratie aushebelt. Im direkten Gespräch hat man mir schon oft gesagt: So einem wie mir solle man den Schweizer Pass doch direkt geben. Aber einen entsprechenden politischen Antrag hat nie jemand gestellt. Marina: Du hast nach Ansicht gewisser Personen die erwarteten Kriterien erfüllt. In diesen Erwartungen stecken aber auch wieder Vorurteile. Hernâni: Das ist so. Marina: Ihr habt das -ić, ihr habt das, also seid ihr dies oder das ... all das ist schwierig. Da geht es immer wieder um Kategorien. Lucia: Also hier geht es jetzt ja darum, dass wir einen Konsens finden. Es geht also um aktives Wahlrecht, um passives Wahlrecht und das Stimmrecht. Wir sind nun schon so weit, dass wir zwei (zeigt auf sich und Markus) sagen, es soll nicht grenzenlos geöffnet werden. Und auf der anderen Seite sagt ihr, man solle die drei Sachen allen geben von Tag eins an. Und dann gibt es noch das Verfahren, das

«Demokratie ist ein Experiment: Man probiert etwas aus, und hat aber die Möglichkeit, es zu korrigieren, wenn es nicht funktioniert. »

LUCIA HUNZIKER

Thema mit der Würde. Und jetzt müssen wir auf einen Punkt hin: Was wäre ein Kompromiss oder ein Konsens? Also, die Demokratie ist ja ein Experiment ... Lavinia: Aha? Lucia: ... man probiert etwas aus, und hat aber auch die Möglichkeit, es zu korrigieren, wenn es nicht funktioniert. Also bin ich jetzt grundsätzlich offen für das Experiment, dass man zum Beispiel dieses Kantönli-Ding abschafft und ein nationales Konzept daraus macht. Markus: Um in Richtung Konsens zu kommen, finde ich noch etwas anderes relevant: die wirtschaftliche Selbsttragfähigkeit. Wenn man sagt: Man ist in der Schweiz und kann wirtschaftlich für sich sorgen, dann ist das ganz eine andere Ausgangslage, als wenn jemand hier ist und das nicht macht. (Alle reden aufgeregt durcheinander.) Markus: Oder kommen wir da auf Abwege? Maurice: Ich finde schon. Marina: Das ist ein riesiges Thema und schwierig, hier einen Konsens zu finden. Ich verstehe euch (zu Markus und Lucia gewandt), ich verstehe, dass es irgendeine Form von System geben muss – Hernâni: Aber gegen erleichterte Einbürgerungen nach gewissen Bedingungen hat jetzt, glaube ich, niemand etwas. Markus: Das ist vielleicht der Konsens: Dass diese Kantönli-Grenze des Umziehens in der Schweiz aufgehoben werden sollte. Hernâni: Ab Tag eins, würde ich jetzt auch sagen, das wäre zwar idealistisch toll, aber das ist absurd und nicht umsetzbar. Marina: Kompliziert ... gerade wenn man von Wirtschaftlichkeit spricht. Es gibt Leute, die flüchten müssen.

Maurice: Selbsttragfähigkeit finde ich auch schwierig. Du kommst in ein Land, hast keinen Pass und kannst nicht arbeiten. Das funktioniert ja nicht. Und dann kannst du nicht mitreden, eben weil du geflüchtet bist – Lavinia: Was habt ihr dagegen, dass jemand, der noch nicht lange da ist, aber das System cool findet, mit abstimmen will? Wenn er hier wohnt, hier lebt? Lucia: Finde ich schwierig, weil – Maurice: Weil was? Wovor habt ihr Angst? Lavinia: Oder was willst du schützen? Lucia: Ich habe das Gefühl, es geht zu einem gewissen Grad um Loyalität. Marina: Loyalität, das ist interessant. Ist schon auch spannend, eure Haltung. Lucia: Weil man in dem Gärtchen, in dem man aufgewachsen ist, sich darum bemüht, dass die Blumen schön wachsen. Maurice: Hast du Angst, dass jemand von aussen kommt und sagt: Diese Blumen gefallen mir nicht? Markus: Ich will unseren Wohlstand schützen in der Schweiz. Lavinia: ... vielleicht bringt ja jemand eine neue Blume dazu? Lucia: Ja, das schon, aber –Lavinia: Es wird schwierig, einen Konsens zu finden. Hernâni: Wir müssen ja nicht alles aufs Mal verlangen. Lavinia: Schritt für Schritt. Markus: Ich glaube, es wäre für unseren Wohlstand nicht förderlich, wenn jeder hier sofort mitbestimmen könnte. Die Schweiz ist wirtschaftlich sehr erfolgreich, und das aufgrund der Entscheidungen, die getroffen wurden. Andere Länder sind weniger stabil und erfolgreich, und wenn diese Hintergründe hier mit einfliessen, leuchtet es mir nicht ein, warum es dann besser rauskommen sollte. Maurice: Beispiel? Markus: Zum Beispiel, wenn es um Migrationspolitik geht. Da ist es mir wichtig, dass Leute, die schon lange hier sind, darüber auch entsprechend entscheiden können. Logischerweise sieht das jemand, der gerade erst gekommen ist, ganz anders. Lavinia: Die können ja auch die Sprache noch nicht ... Wir sollten ihnen aber doch die Möglichkeit geben zu verstehen und mitzumachen. Warum nicht? Lucia: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Menschen sollte meines Erachtens nichts damit zu tun haben, ob jemand das Wahl- und Stimmrecht bekommt. Es gibt Leute, die wenig Steuern zahlen, sich aber stark für die Gemeinschaft engagieren, und andere haben einfach extrem viel Geld und engagieren sich ansonsten gar nicht. Markus: Ich meine die Fälle, wo jemand hier ist und quasi nur auf Kosten der Gemeinschaft lebt. Marina: Wer bestimmt, dass jemand nur auf Kosten der Allgemeinheit lebt ... schon das ist schwierig. Lucia: Ja. Man muss eine Mischrechnung machen. Marina: Ich denke, man kann keinen Konsens finden. Hernâni: Also ich denke, wir können schon einen Konsens finden. Markus: Mindestens, was die erleichterte Einbürgerung angeht. Maurice: So ganz pragmatisch-schweizerisch finden wir schon einen Konsens. Markus: Einen Kompromiss vielleicht. Maurice: Ja. Auf kantonaler Ebene darf man abstimmen, wenn man hier wohnt oder so-und-so lange hier wohnt. Zum Beispiel: Wenn du zwei Jahre in der Schweiz bist, kannst du abstimmen. Markus: Wer hier geboren ist, darf ab 18 abstimmen. Dafür wäre ich auch. Maurice: Zum Beispiel. Und wenn du länger als so-und-so lange hier bist, darfst du auch abstimmen, egal, ob du den Schweizer Pass schon hast oder nicht. Da finden wir schon einen Konsens. Marina: Aber wenn jemand als Flüchtling mit 5 in die Schweiz kommt und die Person wird 18, darf die dann nicht abstimmen? Markus: Wer die Schulzeit in der Schweiz absolviert hat. Hernâni: Wir könnten eine Frist definieren, zum Beispiel fünf Jahre oder zehn Jahre. Portugal macht es auch so: Sie legalisieren übrigens auch Sans-Papiers. Von denen haben wir 200 000 in diesem Land. Die leben komplett unter dem Radar. Da sind wir schon ein bisschen sehr restriktiv. Das ist auch ein Wirtschaftsfaktor, der informelle Bereich, die arbeiten da für sehr wenig Geld, alles eigentlich illegal, aber da machen dann auch Schweizer*innen mit, weil Sans-Papiers oft am günstigsten sind. Das ist schon auch ein bisschen ein asoziales Konzept. Marina: Schau dir mal den Pflegesektor an –Hernâni: Ja. Markus: Aber mit einem sehr niederschwelligen System hätte man ja auch die Schattenseite: Es kommt jemand her, ist an nichts interessiert, will sich nicht integrieren – Maurice: Aber das haben wir ja auch jetzt schon! Markus: Aber jetzt kann diese Person noch abstimmen. Maurice: Jemand, der sich nicht interessiert, wird auch nicht abstimmen. Und jemand, der sich nicht interessiert und einen Schweizer Pass hat, wird auch nicht abstimmen oder asozial abstimmen.

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Hochschule der Künste Bern Bern Academy of the Arts hkb.bfh.ch/infotage

Lavinia Besuchet, 53, vier erwachsene Kinder und zwei Enkel, soziokulturelle Animatorin, momentan Pflegemutter des einen Enkels, ehemalige Leiterin Surprise Strassenfussball. Arbeitet an ihrem neuen Projekt Papp-City, einem Bau- und Übernachtung serlebnis für Kinder. Lebt in Basel.

Markus Schmidlin, 43, Wirtschaftsinformatiker, Basler Start-Up- Unternehmer im Bereich Steuer- und Compliance-Software für Grosskonzerne. In seiner Freizeit treibt er viel Sport und verbringt gern Zeit mit seinem 12-jährigen Sohn.

Hernâni: Das ist ein schwieriges Thema. Schliesslich haben wir jetzt in der Coronakrise sehr viele Schweizer*innen, die im höchsten Masse staatsgefährdend sind. Aber das machen wir jetzt nicht weiter auf, ja? Marina: Wo ist der Konsens, wo finden wir ihn? Lavinia: Ich glaube und habe das auch im Kleinen immer wieder gesehen oder festgestellt: Wenn wir die Rollen richtig verteilen, die Hierarchie ausnivellieren und alle auf Augenhöhe zusammenarbeiten für das gleiche Ziel, dann funktioniert es besser. Und es macht mehr Spass. Man kann schon sagen: Komm zuerst an, lern ein paar Wörter und versteh ein bisschen das System, geh in einen Verein oder mach einen Kurs. Aber du darfst mit abstimmen, wenn du hier leben wirst. Hernâni: Realpolitisch ist es sowieso so, dass bei der Einbürgerung einiges geprüft wird, auch die wirtschaftliche Fähigkeit, sich selber zu erhalten, sowie irgendwelche Sachen über das Land, die Schweizer*innen nicht mal wissen. Zum Beispiel, wer die Bundesräte grad sind. Ich muss übrigens ständig Schweizer*innen erklären, wie eigentlich unser System funktioniert. Viele wissen es selber nicht. Auch wenn man einfach mal die Verfassung lesen könnte oder auch Gesetze. Das ist eigentlich wirklich noch amüsant. Wenn man sich jetzt darauf einigt, dass man die Fristen schweizweit vereinheitlicht, sodass man leichter an den roten Pass kommt, wenn man gewisse Bedingungen erfüllt, dann wäre das doch schon ein Kompromiss. Solche Initiativen wurden allerdings auch schon mehrmals abgelehnt. Markus: Was ich nicht möchte ist, dass wir es umkehren: Also Menschen kommen her, bekommen alles und aufgrund dessen hoffen wir dann, dass sie sich deswegen integrieren. Also da bin ich skeptisch. In meiner Firma versuchen wir das, alles möglichst flat, keine Hierarchien, da können wir es aber irgendwie kontrollieren. Für das ganze Land aber glaube ich nicht daran, dass es funktionieren würde. Lavinia: Und nach wieviel Jahren dürften sie ...? Maurice: ... abstimmen. Und unter welchen Voraussetzungen? Lavinia: Und mit welcher Bewilligung: A, B, C, D, ...? Das ist ja auch so verrückt. Markus: Na, das ist gar nicht so dumm. Mit einer C-Bewilligung ist man permanent in der Schweiz. Wenn man das Stimmrecht bekäme, sobald man dauerhaft hier ist – Marina: Finde ich gut, mit C. Hernâni: Und das Ding kriegst du sowieso erst nach fünf Jahren. Markus: Das C, genau. Und man muss arbeiten. Das fände ich jetzt noch einen guten Punkt. Lavinia: Wenn ich jetzt sage, diesen Konsens kann ich mitunterschreiben: Was bekommen denn diejenigen an politischer Mitsprache, die noch nicht so lange da sind oder nicht hier zur Schule gegangen sind und noch keine Bewilligung C haben? Lucia: Die Gesellschaft bietet ja noch andere Möglichkeiten. Wenn man schreiben, wenn man reden kann, kann man überall hingehen. Wahl- und Stimmrecht ist einfach ein Aspekt, der längerfristig wichtig ist, aber wenn man sich kurzfristig engagieren will, kann man bei sich im Quartier anfangen. Hernâni: Als Gemeinde könnte man die Ausländer*innen, die gerade gekommen sind, auch proaktiv informieren: Da gibt es Parteien, geht doch mal dahin. Lucia: Also die Stadt Basel macht das. Hernâni: Also ich bin jetzt in keiner Partei, aber da kann man eigentlich sogar als Ausländer*in anfangen, die Lokalpolitik mitzubestimmen. Man kann auch Papiere schreiben. Ich habe zum Beispiel beim e-Voting schon mit Nationalräten zusammengearbeitet, die haben dann meine Texte 1:1 ins Parlament eingebracht. Und das wurde von jemandem ohne Stimmrecht verfasst. Es geht ja um die guten Ideen und dass man diese einbringen kann. Damit kann man ja auch unten anfangen. Man kann viel beeinflussen, wenn man sich aktiv einschaltet. Lavinia: Ich bin da einverstanden. Maurice: Ich kann den Kompromiss mit der C-Bewilligung unterschreiben, aber ich möchte darauf hinweisen: Das ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich unterschreibe mit dem Ziel, dass es sich in der Zukunft noch verbessert und wir daran noch weiterarbeiten können. Weil wir ja alle die gleiche Vorstellung haben: Dass wir zusammen die Schweiz weiterbringen wollen. Das ist ja der Grundgedanke, von dem du, Markus, selber auch gesagt hast: Das ist ein Ideal. Markus: Ein Wunschgedanke. Maurice: Eben, wir müssen darauf hinarbeiten. Und nicht sagen: Ich habe Angst, nein, wir machen das nicht. Deswegen suchen wir einen Konsens. Markus: Ich glaube, der trägt der menschlichen Realität nicht Rechnung. Hernâni: Das C kann man übrigens auch verlieren, wenn man strukturell in finanzielle Abhängigkeit verfällt. Das C ist eigentlich direkt schon ein Filter. Da werden Markus’ wirtschaftliche Bedenken noch berücksichtigt. Maurice: Also ist das unser Konsens? Lavinia: Wer kann das noch einmal klar formulieren? Lucia: Also als ersten Schritt haben wir mal einen Konsens, dass man diese Einbürgerungsverfahren auf nationaler Ebene regelt statt auf kantonaler. Das ist das eine. Und das andere? Maurice: Und wenn du die Bewilligung C hast, dann darfst du auch abstimmen. Markus: Und wenn du in der Schweiz geboren bist, dann auch. Lucia: Genau. Maurice: Stimm- und Wahlrecht. (alle klatschen)

Aufgezeichnet von Sara Winter Sayilir.

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