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Ukraine
Seit Jahren unter Beschuss
Ukraine In der Ukraine wütet der Krieg, Millionen sind auf der Flucht, die Solidarität mit der Bevölkerung ist gross. Was dabei in Vergessenheit gerät: Im Osten des Landes sind blutige Konflikte für die Menschen schon seit Jahren zum Alltag geworden.
TEXT KLAUS PETRUS FOTOS KLAUS PETRUS UND ROLAND SCHMID
Während ich diese Zeilen schreibe – es ist Anfang März –, bin ich auf dem Weg an die ungarisch-ukrainische Grenze. Seit Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar sind bereits weit über eine Million Menschen auf der Flucht: nach Polen, Moldawien, Rumänien, in die Slowakei und eben auch nach Ungarn. Viele sind in Panik, alle in Sorge: um sich selbst, um ihre Liebsten, um Verwandte und Bekannte, die verstreut in der ganzen Ukraine leben, um ihre Nation. Anteilnahme und Solidarität in anderen Ländern sind gross, ebenso das Entsetzen darüber, wie so etwas passieren konnte.
Dabei herrscht in der Ukraine nicht erst seit diesem 24. Februar Krieg. Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kyiv nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim ein und sicherte wenig später den prorussischen Separatisten im Donbas im Osten der Ukraine seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donetsk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13 000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilist*innen – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt.
Im Reden über den Krieg gehen meist die Menschen im Krieg vergessen. Oder sie werden zu einem stummen Kollektiv. Wie oft ist dieser Tage etwa von «den» Russen die Rede, wo man eigentlich einen Machtführer oder ein politisches Regime meint, das wieder einmal das Völkerrecht bricht? Zugehörigkeiten fallen leichter, wenn man die Menschen – als einzelne – aus dem Blick nimmt. Auch davon ist jetzt wieder zu hören: von einem Kampf zwischen «Ost» und «West», von einem Angriff auf «Europa». Dass damit keine geografische Zuordnung gemeint ist, sondern ein «wir» gegen «die anderen», ist unbestritten. Der britische Politiker Daniel Hannan schrieb jüngst in einer Kolumne: Schockierend an diesem Krieg sei, dass die Ukrainer*innen «uns so ähnlich sind». Seine Einsicht daraus: «Der Krieg kann auch uns treffen.» Und David Sakvarelidze, ehemaliger Sicherheitsbeauftragter der ukrainischen Regierung, meinte nach einem Raketenangriff der russischen Armee gegenüber der BBC: «Hier werden Europäer*innen mit blauen Augen und blondem Haar getötet.»
So befremdend derlei rassistische Aussagen sein mögen, natürlich sollen sie nicht davon abhalten, Stellung zu beziehen. Nur laufen Solidaritätsbekundungen, die auf einem «wir gegen sie» bauen, letztlich Gefahr, Kriegstreiber wie Putin in dem zu bestärken, was sie sowieso am besten beherrschen: im Spiel mit Feindbildern, die sich in den Köpfen der eigenen Leute einnisten und den anderen alles Menschliche nehmen sollen. So fällt Krieg leichter.
Knoblauch und Krieg
Als der Fotograf Roland Schmid und ich beschlossen, in die Ostukraine zu reisen, interessierte uns nicht so sehr das geopolitische Gemenge oder der immer wieder herbeizitierte «Krieg der Mentalitäten» zwischen dem «russischen Volk» und seinem «kleinen Bruder», der Ukraine. Wir wollten erfahren, was die Menschen umtreibt, ob Soldaten oder Zivile. Die Bilder, entstanden 2019 und 2020, stammen von beiden Seiten dieses Krieges ohne Ende: aus dem prorussischen Gebiet (Bilder Roland Schmid) und dem regierungskontrollierten Teil der Ukraine (Klaus Petrus). Hier wie dort sind wir Menschen begegnet, die – ungeachtet ihrer politischen Haltung – am Ende dieselben Sorgen haben: kaum Jobs für die Jungen, magere Renten für die Alten, dazu eine marode Infrastruktur mit kaputten Strassen und zerfallenen Häusern sowie Schüsse, Sprengsätze und Sirenen fast jeden Tag.
Eine von ihnen ist Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya. Als wir die damals 80-Jährige in Luhanske, einem kleinen Dorf nahe der Front, besuchten, tischte sie uns Knoblauchbrote auf. Sie erzählte aus dem Leben, von ihren Liebschaften und ihren Kartoffeln (angeblich die besten im ganzen Land), und meinte dann: «Mag diesen Krieg gewinnen, wer will, es ist mir egal. Hauptsache, er hört auf.»
Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz befragt Klaus Petrus zum Ukraine-Krieg. surprise.ngo/talk
Bild oben (Klaus Petrus): Lehrerzimmer einer Schule in Marinka. Bild unten (Roland Schmid): Souvenirshop in Donetsk – Niemals werden Kriege nur auf Schlachtfeldern geführt, sie spielen sich immer auch in den Köpfen der Menschen ab. Dabei entstehen Feindbilder selten über Nacht, sie sind vielmehr das Produkt einer ausgefeilten Propaganda, die sich alteingesessene Vorurteile zunutze macht. Auch in der Ukraine werden sie fast nach Belieben aktiviert, zu allererst von Nationalist*innen und Kriegstreiber*innen, und zwar hüben wie drüben; sie legen immer wieder mal ein kleines Feuer, doch sie wollen den grossen Brand.
Bild oben (Klaus Petrus): Verlassenes Haus in Katerinivka. Bild unten (Roland Schmid): Verlassenes Haus in Spartak – Eine halbe Million Menschen lebte entlang der heutigen Demarkationslinie in Dörfern und Kleinstädten. Wie viele es heute noch sind, acht Jahre nach Kriegsausbruch, weiss niemand genau. 80 000 vielleicht? Die meisten mussten damals fliehen, ihre Häuser stehen verlassen da, manche wurden geplündert. Und die, die geblieben sind, leben schon wieder in Angst und unter Beschuss.
Bild oben (Klaus Petrus): Schule in Marinka. Bild unten (Roland Schmid): Schule in Donetsk – «Gute und schlechte Ukrainer*innen» – Vorurteile auf beiden Seiten werden bis heute auch in die Schulen hineingetragen. Dazu kommt die Propaganda aus dem Fernsehen und Radio. Orte, wo sich die Kinder und Jugendlichen gemeinsam treffen und kennenlernen können, gibt es nicht. Das würde womöglich helfen, Vorurteile abzubauen. Die Schüler*innen in Marinka auf der westlichen Seite des Donbas haben sich längst an das Geräusch von Schüssen und Sirenen während des Unterrichts gewöhnt; derweil bekommen jene in Donetsk auf der östlichen Seite Uniformen für die jährliche Siegesparade.
REGION CHARKIW
UKRAINE
REGION LUHANSK
POLEN BELARUS RUSSLAND
A
KYIV
UKRAINE
RUMÄNIEN KRIM
B
KRAMATORSK
REGION DONETSK
AVDIIVKA
F
SPARTAK G
MARINKA
E H C
DONETSK PETROVSKYI D
LUHANSK
DONBAS
RUSSLAND
MARIÚPOL
ASOWSCHES MEER
0 von prorussischen Separatisten kontrolliertes Gebiet (Donbas)
Demarkationslinie
Grenze unter Kontrolle der ukrainischen Regierung
Grenze unter Kontrolle prorussischer Separatisten
10 0 KM
Chronik eines Krieges
Nach Protesten auf dem Maidan-Platz in Kyiv A im November 2013 gegen den prorussischen Präsidenten Viktor Yanukovych und der Abspaltung der Halbinsel Krim kam es zu anhaltenden Unruhen auch in der Ostukraine. Im September 2014 wurde im Rahmen des Minsker Abkommens ein erster Waffenstillstand beschlossen, der bis heute aber immer wieder gebrochen wird – mit im Schnitt 300 000 Schusswechseln pro Jahr.
Im April 2014 begann die ukrainische Armee ihren Einsatz in der Ostukraine und gewann die Industriestadt Kramatorsk B östlich von Donetsk zurück; es war dies der Start der Anti-Terror-Operation.
Nach Absetzung von Viktor Yanukovych im April 2014 machten prorussische Separatisten in der Ostukraine mobil, besetzten die Regierungsgebäude in Donetsk C und Luhansk D und riefen nach einem Referendum noch im selben Monat zuerst die Volksrepublik Donetsk (DNR) aus, dann die Volksrepublik Luhansk (LNR). In beiden Fällen sprachen sich über 90 Prozent der Bevölkerung für die Autonomie ihrer Region aus. Im Mai wurde der prorussische Oligarch Petro Poroshenko mit 55 Prozent Stimmen zum ukrainischen Präsidenten gewählt.
Die Demarkationslinie zum Donbas wurde im Zuge des zweiten Minsker Waffenstillstandsabkommens im Januar 2015 gezogen und ist ca. 450 Kilometer lang. Entlang der Frontlinie leben hüben wie drüben meist nur noch alte Leute, die keine Alternative haben. Man schätzt, dass noch 80 000 Menschen in dieser «Grauzone» leben, vor dem Krieg waren es Hundertausende.
Die Waffenstillstandsabkommen von 2014 und 2015 (Minsk I und II) wurden mehrfach gebrochen, so etwa bei einem schweren Angriff im Juni 2015 auf die Stadt Marinka E unmittelbar an der damaligen Frontlinie. Immer mehr Menschen flohen daraufhin aus der sog. «Grauzone» in die grösseren Städte. Insgesamt sind bis Februrar 2022 1,5 Millionen Ukrainer*innen als Binnengeflüchtete registriert, davon 30 Prozent über 65 Jahre.
2017 kam es wieder zu vermehrten Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten in der Kleinstadt Avdiivka F , die zwischen den Fronten liegt; die Bewohner*innen wurden evakuiert, unter Zivilist*innen und Soldaten auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte.
Spartak G war vor dem Krieg 2014 eine geschäftige Kleinstadt mit 5000 Einwohner*innen, einer grossen Sowchose und einer italienischen Konservenfabrik, in der Tomatenpaste produziert wurde. 2020 gab es dort noch 37 Haushalte.
Wegen des andauernden Beschusses durch die ukrainische Armee lebten zeitweise viele Familien in Luftschutzkellern aus dem Zweiten Weltkrieg ausserhalb der Trudovskyi-Kohlenmine in Petrovskyi H . Die Mine wurde wegen der heftigen Kämpfe geschlossen, viele Minenarbeiter verloren ihre Arbeit.
Bei der Präsidentschaftswahl 2019 wurde Poroshenko durch den Schauspieler und Komiker Volodymyr Zelensky abgelöst. Er gilt vielen als Hoffnungsträger für eine befriedete und stabile Ukraine, im Osten des Landes steht man seiner westlichen Haltung skeptisch gegenüber.
Im April 2021 kam es zu den massivsten Truppenbewegungen der russischen Armee seit Ausbruch des Ukraine-Krieges 2014, über 90 000 russische Soldaten befanden sich an der Grenze zur Ukraine und führten Übungsmanöver aus. Im November wurde das Kontingent aufgestockt, woraufhin der US-amerikanische Präsident Joe Biden dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit wirtschaftlichen Sanktionen drohte.
Im Februar 2022 anerkannte Putin die prorussischen Separatistenrepubliken Donetsk und Luhansk als unabhängige Staaten, entsendete Truppen in den Donbas und erklärte der gesamten Ukraine den Krieg.
Bild oben (Klaus Petrus): Vorratskeller eines Hauses in Katerinivka westlich des Donbas. Bild unten (Roland Schmid): Luftschutzkeller bei Donetsk – Sich parat halten für harte Zeiten, die immer da sind. Viele, die in den Dörfern entlang der beiden Seiten der Demaraktionslinie geblieben sind, haben Mühe, ihr Obst, Gemüse oder Eingemachtes auf den umliegenden Märkten zu verkaufen. Die meisten sind in die Städte gezogen. Oder sie müssen sich, wie Ljudmila Nikolaevna und Galina Vashnevna, seit Jahren in einem Luftschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg verkriechen, die Angst ist ihre ständige Begleiterin. Als der Krieg kam, habe sich die ganze Welt für den Donbas interessiert, dann seien sie einfach vergessen worden – so hört man es auf beiden Seiten. Auch heute blicken alle auf die Ukraine. Doch was wird in ein paar Monaten sein?
Bild oben (Klaus Petrus): Oleksandr Ivanovich, 81, und seine Frau Valentina Pavlova, 69, wohnhaft in Stanitsa Luhanska, fünf Kilometer vom Separatistengebiet entfernt. Bild unten (Roland Schmid): Valentina, Oleksandr und Svetlana im Gemeindezentrum von Spartak – «Jeder Mensch hat nur ein Vaterland, und meines ist die Ukraine, denn hier ist unsere Tochter geboren», sagt Oleksandr, der nervös von einem Fuss auf den anderen tritt. Über Nacht sei die Tochter ergraut, aus Angst vor den Gewehren, flüstert seine Frau Valentina, heute wohne sie in Russland, und alles sei gut. Auf der anderen Seite der Demaraktionslinie leben Valentina, Oleksandr und Svetlana, die sich in einem Zelt aufwärmen, das heute als Gemeindezentrum von Spartak dient. Sie erhoffen sich eine Zukunft in der Russischen Föderation. «Dies hier war schon immer russisches Gebiet. Eines Tages wird der ganze Donbas zur Russischen Föderation gehören.»
Bild oben (Klaus Petrus): Bahnhof von Kramatorsk. Bild unten (Roland Schmid): Strassenszene in Donetsk – Im April 2014 fielen prorussische Separatisten in Kramatorsk ein, im Juli war die Stadt mit ihren 160 000 Einwohner*innen wieder in den Händen der ukrainischen Armee, im Oktober wurde sie provisorisches Zentrum der Region. Seither wurde in Kramatorsk mächtig investiert, auch von potenten Geldgeber*innen aus dem nur 70 Kilometer entfernten Donetsk. Diese befindet sich unter Kontrolle der international nicht anerkannten Volksrepublik Donetsk. Der nahegelegene Flughafen wurde 2014/15 zum Mittelpunkt der Kämpfe zwischen beiden Seiten. Die Versorgungslage der Zivilbevölkerung ist noch heute prekär, viele sind auf Hilfslieferungen angewiesen. Oder sie gehen in Richtung Westen. Bis vor Kurzem mochte man denken, Kramatorsk sei sicherer. Jetzt aber sind dort wieder Explosionen und Schüsse zu hören.