Surprise 521/22

Page 14

Seit Jahren unter Beschuss Ukraine In der Ukraine wütet der Krieg, Millionen sind auf der Flucht, die Solidarität

mit der Bevölkerung ist gross. Was dabei in Vergessenheit gerät: Im Osten des Landes sind blutige Konflikte für die Menschen schon seit Jahren zum Alltag geworden. TEXT KLAUS PETRUS

FOTOS KLAUS PETRUS UND ROLAND SCHMID

Während ich diese Zeilen schreibe – es ist Anfang März –, bin ich auf dem Weg an die ungarisch-ukrainische Grenze. Seit Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar sind bereits weit über eine Million Menschen auf der Flucht: nach Polen, Moldawien, Rumänien, in die Slowakei und eben auch nach Ungarn. Viele sind in Panik, alle in Sorge: um sich selbst, um ihre Liebsten, um Verwandte und Bekannte, die verstreut in der ganzen Ukraine leben, um ihre Nation. Anteilnahme und Solidarität in anderen Ländern sind gross, ebenso das Entsetzen darüber, wie so etwas passieren konnte. Dabei herrscht in der Ukraine nicht erst seit diesem 24. Februar Krieg. Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kyiv nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim ein und sicherte wenig später den prorussischen Separatisten im Donbas im Osten der Ukraine seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donetsk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13 000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilist*innen – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt. Im Reden über den Krieg gehen meist die Menschen im Krieg vergessen. Oder sie werden zu einem stummen Kollektiv. Wie oft ist dieser Tage etwa von «den» Russen die Rede, wo man eigentlich einen Machtführer oder ein politisches Regime meint, das wieder einmal das Völkerrecht bricht? Zugehörigkeiten fallen leichter, wenn man die Menschen – als einzelne – aus dem Blick nimmt. Auch davon ist jetzt wieder zu hören: von einem Kampf zwischen «Ost» und «West», von einem Angriff auf «Europa». Dass damit keine geografische Zuordnung gemeint ist, sondern ein «wir» gegen «die anderen», ist unbestritten. Der britische Politiker Daniel Hannan schrieb jüngst in einer Kolumne: Schockierend an diesem Krieg sei, dass die Ukrainer*innen «uns so ähnlich sind». Seine Einsicht daraus: «Der Krieg kann auch uns treffen.» Und David Sakvarelidze, ehemaliger Sicherheitsbeauftragter der ukrainischen Regierung, meinte nach einem Raketenangriff der russi14

schen Armee gegenüber der BBC: «Hier werden Europäer*innen mit blauen Augen und blondem Haar getötet.» So befremdend derlei rassistische Aussagen sein mögen, natürlich sollen sie nicht davon abhalten, Stellung zu beziehen. Nur laufen Solidaritätsbekundungen, die auf einem «wir gegen sie» bauen, letztlich Gefahr, Kriegstreiber wie Putin in dem zu bestärken, was sie sowieso am besten beherrschen: im Spiel mit Feindbildern, die sich in den Köpfen der eigenen Leute einnisten und den anderen alles Menschliche nehmen sollen. So fällt Krieg leichter. Knoblauch und Krieg Als der Fotograf Roland Schmid und ich beschlossen, in die Ostukraine zu reisen, interessierte uns nicht so sehr das geopolitische Gemenge oder der immer wieder herbeizitierte «Krieg der Mentalitäten» zwischen dem «russischen Volk» und seinem «kleinen Bruder», der Ukraine. Wir wollten erfahren, was die Menschen umtreibt, ob Soldaten oder Zivile. Die Bilder, entstanden 2019 und 2020, stammen von beiden Seiten dieses Krieges ohne Ende: aus dem prorussischen Gebiet (Bilder Roland Schmid) und dem regierungskontrollierten Teil der Ukraine (Klaus Petrus). Hier wie dort sind wir Menschen begegnet, die – ungeachtet ihrer politischen Haltung – am Ende dieselben Sorgen haben: kaum Jobs für die Jungen, magere Renten für die Alten, dazu eine marode Infrastruktur mit kaputten Strassen und zerfallenen Häusern sowie Schüsse, Sprengsätze und Sirenen fast jeden Tag. Eine von ihnen ist Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya. Als wir die damals 80-Jährige in Luhanske, einem kleinen Dorf nahe der Front, besuchten, tischte sie uns Knoblauchbrote auf. Sie erzählte aus dem Leben, von ihren Liebschaften und ihren Kartoffeln (angeblich die besten im ganzen Land), und meinte dann: «Mag diesen Krieg gewinnen, wer will, es ist mir egal. Hauptsache, er hört auf.»

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz befragt Klaus Petrus zum Ukraine-Krieg. surprise.ngo/talk Surprise 521/22


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.