Eine Bleibe zu finden, wird schwieriger. Für benachteiligte Menschen ganz besonders.
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«Armut macht unsichtbar – Gewalt macht stumm»
Auf ihrem Sozialen Stadtrundgang durch Basel berichtet Danica Graf von ihrem Weg in die Armut durch Missbrauch und Gewalt – und welche Wege es aus der Gewaltspirale gibt.
Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich.
Etwas Widerständiges
Irgendwann sagte ich während der Arbeit an dieser Ausgabe: Das wird ein ziemlich widerständiges Heft. Ich meine nicht einmal die Themen selber, die hier vorkommen. Sondern kleine Dinge, die wie nebenbei in den Texten stecken. In Nebensätzen, in Gedanken am Rande.
Es fiel mir schon in unserer schmalen Rubrik «Na? Gut!» auf, in der wir positive Entwicklungen aufgreifen. Der Kanton Jura senkt die Hürden, damit Menschen ihre Sozialhilfegelder tatsächlich beantragen, die ihnen in Notlagen per Gesetz zustehen. Dass ein Kanton sich hier aktiv engagiert, hat etwas Widerständiges in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Armut oft als selbstverschuldet dargestellt wird.
Etwas im Grunde Widerständiges erfuhr auch der Surprise Stadtführer Tito Ries in der Art, wie er zu einer Wohnung kam –obwohl er verschuldet war, obwohl er im Gefängnis war, obwohl er keine bezahlte
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! Jura fördert Sozialhilfe-Bezug
6 Verkäufer*innenkolumne Hymne an die Mutter
7 Die Sozialzahl Was Rentner*innen zum Leben bleibt
8 Wohnungsnot Die Suche mit Nachteilen
12 «Wir können keine Notlösungen anbieten»
14 Prekär privilegiert
16 «Debatten schon in den 1970er-Jahren»
17 Vom Zusammenleben im giftigen Klima
Arbeit hatte. Er bekam den Zuschlag, weil ihm ein Vermieter zuhörte und sich dafür entschied, ihn dabei zu unterstützen, auf einen guten Weg zu kommen.
Und dann begegnete mir ein widerständiges Moment auch in unserer neuen Serie «Hinter Mauern» über die Geschichte zweier Freundinnen, die im Mädchenhaus Schutz suchten. Und zwar, als Estella sich selber eingesteht, dass es «nicht normal» ist, Gewalt zu erleben. Dass sie es in Worte fasst und ein Umfeld findet, das ihre Wahrnehmung bestätigt – daraus entsteht auch der Mut zu handeln. Was mir an all diesen Formen des Widerständigen so gefällt: Es sind keine erbitterten Kämpfe, die da ausgefochten werden. Es ist einfach die Entscheidung, für die Menschlichkeit einzustehen.
18 Hinter Mauern Der häuslichen Gewalt entkommen
24 Kino Der Kantengänger
25 Buch Versuchsanordnungen
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner im Westside, Bern
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Surprise-Porträt «Es fehlt eine starke Lobby im Parlament»
DIANA FREI Redaktorin
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Viele Wohnungslose
Insgesamt 531 600 Menschen sind in Deutschland wohnungslos. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Bundes. Davon leben rund zehn Prozent, 47 300, regelmässig auf der Strasse. Weitere 60 400 kommen bei Freund*innen oder Bekannten unter, sie gehören zu den «verdeckt Wohnungslosen». Menschen in Haft, in der Eingliederungshilfe, in Frauenhäusern, im Gesundheitssystem oder solche, die langfristig in alternativen Unterkünften wie Arbeiterbaracken unterkommen, wurden bisher nicht erfasst, aber gelten ebenfalls als wohnungslos. Der Bericht zeigt zudem: Knapp 53 Prozent der Menschen in verdeckter Wohnungslosigkeit sowie 67 Prozent der Menschen ohne jegliche Unterkunft haben eine gesundheitliche Beeinträchtigung. Und mehr als jede*r Zweite von ihnen hat bereits Gewalt erfahren. Die durchschnittliche Dauer der Unterbringung beträgt mehr als zwei Jahre, erst dann finden die Leute wieder zurück ins selbständige Wohnen. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass viele Familien von Wohnungslosigkeit betroffen sind, also auch zahlreiche Kinder.
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EINE
HELDIN
VON SOLCHER STÄRKE,
DASS MAN SICH IN IHREN CHARME VERLIEBT.
Menschen sind in Deutschland wohnungslos.
Unerschwingliches Wohnen
Das britische Medianeinkommen lag 2023 bei 34 500 Pfund. Wie die nationale Statistikbehörde ONS kürzlich bekannt gab, liegt die Zeitspanne, die Menschen dieses Einkommen als Ganzes sparen müssten, um ein Haus zu kaufen, bei durchschnittlich 8,6 Jahren. Seit die Behörde die Preise von Wohneigentum erfasst, haben sich diese doppelt so schnell erhöht wie die Löhne. Daraus folgt, dass nur die reichsten zehn Prozent der englischen Bevölkerung sich den Kauf von Wohneigentum leisten können. In Wales und Schottland ist das Gefälle etwas geringer mit 5,8 und 5,6 Jahren; in London dafür viel, viel grösser.
ASPHALT, HANNOVER
Eine andere Perspektive
Alessandro Bersani ist von Beruf Fotograf. Er ist von Geburt an fast blind, es ist die Folge einer Toxoplasmose-Infektion seiner Mutter. «Ich sehe nur sehr unscharf. Meine Augen können auch keine Farben wahrnehmen. Aber ich kenne die Farben und in gewisser Hinsicht beherrsche ich sie, weil ich sie studiert habe, obwohl ich sie nicht sehe. Ich sehe nur Grautöne», sagt er. «Am Anfang war es schwer, aber ich blieb hartnäckig, bis ich meine eigene Sprache entwickelt habe.» Seit ein paar Jahren leidet Bersani zudem an einem Glaukom, «ein erhöhter Augendruck, der meine Netzhaut weiter zerstört hat». Trotzdem fotografiert er weiter. «Ich werde nie aufhören», sagt er, «es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, um zu zeigen, wie ich die Welt sehe.»
Für den fast blinden Fotografen Alessandro Bersani ist das Fotografieren «die einzige Möglichkeit, die ich habe, um zu zeigen, wie ich die Welt sehe».
Jura fördert SozialhilfeBezug
Nicht alle Menschen, die Anspruch darauf haben, beziehen Sozialhilfe. Wie viele es genau sind, dazu gibt es in der Schweiz kaum Zahlen. Für einzelne Kantone liegen Schätzungen vor. So sind es im Kanton Bern 38 Prozent, die trotz Anspruch keine Sozialhilfe beziehen. Im Kanton Jura sind es sogar 50 Prozent, wie aus dem kantonalen Sozialbericht 2021 hervorging. 15 Prozent der Bevölkerung seien dort entweder von Armut betroffen oder armutsgefährdet.
Um den Nichtbezug von Sozialleistungen zu bekämpfen, hat der Kanton Jura im vergangenen Mai und Juni eine Kampagne durchgeführt. Unterstützt wurde diese durch verschiedene Partnerorganisationen im Sozialbereich. Ziel war es, die Bevölkerung zu sensibilisieren und Informationen zu Sozialleistungen leichter zugänglich zu machen.
Die Bilanz des Kantons fällt positiv aus. Mit der Kampagne konnten Menschen erreicht werden, die bisher keine soziale Betreuung erhielten, und zwar mit der Website JU-lien.org, mit Plakaten, Flyern, Medienbeiträgen und einer niederschwelligen telefonischen Beratung. In den sechs Wochen der Kampagne gingen Anfragen von 145 Personen ein; Ziel war es gewesen, mindestens 100 Personen zu erreichen. Die meisten von ihnen benötigten vor allem Informationen und Orientierung. Ein grosser Teil der bisher nicht erreichten Interessierten sind alleinerziehende Mütter sowie ältere Menschen, die entweder die Unterstützungsmöglichkeiten nicht gekannt oder sich geschämt hatten, nach Unterstützung zu fragen. LEA
An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.
SCARP DE ’ TENIS, MAILAND
FOTOS: ZVG
Verkäufer*innenkolumne
Hymne an die Mutter
Danke, Maman. Danke für Deinen Randensaft. Obwohl er scheusslich schmeckte. Danke für den gekochten Chicorée. Nichts Bittereres als das! Danke für die verabreichten Blütenpollen. Kein anderes Kind musste so leiden.
Maman, Du hast mich stark gemacht. Im Innersten wirst Du gewusst haben: «Mein Kind braucht Kraft. Anfangs war es so oft krank. Und jetzt folgt die nächste Herausforderung: Das Leben.»
Maman hat mir nicht nur das Leben geschenkt. Sie hat es mir auch erhalten.
Jetzt sprühe ich vor Kraft. Seht, meine roten Backen.
Mein sicherer Gang. Meine Zuversicht.
Vater war da anders. Er hätte mir Cola und Pommes gegönnt. Und mich nicht vollgestopft mit Datteln, Feigen, unbelegtem Vollkornbrot.
Andere Kinder kriegten für die Schulpausen Schokolade.
Ich war neidisch. Ob die anderen jetzt neidisch sind auf mich?
Meine Mutter ist längst nicht mehr an meiner Seite. Mein Vater schaut von oben herab. Ich muss Mutters Lehren jetzt alleine befolgen. Mir ist manchmal mulmig zumute.
Man sollte keine Mutter auf Zeit haben. Eine Mutter ist dazu da, nie zu sterben. Sie ist das Herz, an dessen Zipfel das Kind hängt.
Und umgekehrt bleibt das Kind für die Mutter immer ihr Kind.
NICOLAS GABRIEL, 60, verkauft das Strassenmagazin an der Uraniastrasse Zürich und ist Surprise Stadtführer. Er erzählt da von seinen Wegen und dem Bedürfnis, stressfrei Gemeinschaft mitzugestalten.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Was Renter*innen zum Leben bleibt
Die Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamtes für Statistik gibt Auskunft über die Einnahmen und Ausgaben der Bevölkerung in der Schweiz. So liegt zum Beispiel das durchschnittliche Bruttoeinkommen der Rentnerpaarhaushalte in der Periode 2020 bis 2021 bei 8551 Franken im Monat. Allerdings ist die Spannweite zwischen den einkommensschwachen und einkommensstarken Paarhaushalten ab 65 Jahren beträchtlich. Die 20 Prozent mit den tiefsten Bruttoeinkommen (1. Quintil) verfügen über ein mittleres Bruttoeinkommen von 4031 Franken, die 20 Prozent einkommensstärksten (5. Quintil) mit 16 117 Franken über viermal mehr.
Zieht man von diesem Bruttoeinkommen die obligatorischen Ausgaben wie Steuern und Krankenkassenprämien der Grundversicherung ab, gelangt man zum verfügbaren Einkommen. Dieses beträgt für das 1. Quintil noch 2123 Franken im Monat, beim 5. Quintil liegt es bei 10 845 Franken. Die Ungleichheit nimmt zu. Das Verhältnis von Q1 zu Q5 liegt jetzt bereits bei 1:5.
Man kann nun noch die «quasi» unumgänglichen Ausgaben wie jene für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke, Wohnen und Energie sowie Gesundheit vom verfügbaren Einkommen abziehen. Dann gelangt man zu den effektiv frei verfügbaren Einkommen, mit denen die Rentnerpaarhaushalte machen können, was sie wollen.
Die einkommensschwächsten Paarhaushalte ab 65 Jahren geben für Ernährung, Wohnen und Gesundheit im Monat 1927 Franken aus. Dies entspricht rund 90 Prozent ihres verfügba
Paarhaushalte ab 65 Jahren nach Einkommensklassen, 2020 – 2021
Obligatorische Ausgaben
Unumgängliche Ausgaben
Frei verfügbares Einkommen
ren Einkommens. Die einkommensstärksten Paarhaushalte ab 65 Jahren benötigen für die gleichen Konsumausgaben 2644 Franken im Monat, was einem Anteil von nicht ganz 25 Prozent des verfügbaren Einkommens entspricht. Schaut man sich zum Schluss das Verhältnis zwischen dem 1. und dem 5. Quintil der Rentnerpaarhaushalte an, so zeigt sich beim so verstandenen frei verfügbaren Einkommen ein Verhältnis von 1:42!
Diese statistische Analyse macht eines deutlich. Wer über den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachdenkt und dabei die wirtschaftliche Ungleichheit als zentralen Faktor in Betracht zieht, darf nicht nur die Bruttoeinkommen der Haushalte miteinander vergleichen. Die tatsächliche Ungleichheit zeigt sich erst, wenn die unausweichlichen Konsumausgaben mitberücksichtigt werden. Erst dann werden die Unterschiede in ihrem ganzen Ausmass sichtbar. Während den einen Rentnerpaarhaushalten kaum mehr etwas übrig bleibt, über das sie frei entscheiden können, erfreuen sich die anderen einer Handlungsfreiheit grössten Ausmasses. Die einen müssen vom Ersparten leben, die anderen können sogar im Alter noch etwas auf die Seite legen. Die politische Zielgrösse zur Bekämpfung von allzu grosser Ungleichheit kann also nicht einfach nur das Einkommen sein. Entscheidend ist, was nach den obligatorischen Ausgaben und dem unumgänglichen Konsum übrigbleibt. Hier sind die Unterschiede beträchtlich. Diese können das gesellschaftliche Zusammenleben gefährden und zu eigentlichen Parallelwelten führen.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Wohnungsnot Erschwingliche Wohnungen zu finden, wird immer stärker zum Problem, vor allem in Städten. Working Poor, Verschuldete oder Sozialhilfeempfänger*innen stehen vor hohen Hürden.
Wie man das Unmögliche schafft
Drei Verkäuferinnen des Strassenmagazins und zwei Surprise Stadtführer erzählen, was es für sie heisst, eine Wohnung suchen zu müssen. Und auch von Glück und Hilfsangeboten.
AUFGEZEICHNET VON DIANA FREI UND SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN IRINA FELLER
Das Thema ist latent präsent bei Surprise: Die Sozialarbeiter*innen in den Städten Zürich, Basel und Bern sind im Hintergrund immer wieder damit beschäftigt, die Verkäufer*innen des Strassenmagazins auch bei der Wohnungssuche zu unterstützen. Oder ihnen zur Seite zu stehen in beengten Wohnverhältnissen, in lärmiger Umgebung oder im Stress befristeter Mietverhältnisse. Die folgenden Geschichten bestätigen die Annahme, dass für viele die Lage ernst ist. Und doch ist auch von Glück, Ideenreichtum und Hilfsangeboten die Rede.
SEYNAB ALI ISSE, 53, verkauft Surprise im Raum Zürich
«Sie sehen nur Probleme»
«Jetzt, da ich seit langem wieder eine Wohnung suche, merke ich: Wenn die Vermieter*innen meinen Lohn sehen, habe ich sowieso keine Chance. Ich bin deshalb bei der Suche auf Unterstützung angewiesen. Es gibt eine Stiftung im Raum Zürich, die sozioökonomisch benachteiligten Menschen bei der Wohnungssuche hilft, das ist die Stiftung Domicil. Ich suche jetzt seit zwei Jahren eine Wohnung für meine ältere Tochter, für meine andere Tochter, die mit einer Behinderung lebt, und mich. Meine ältere Tochter hat die Lehre mit Berufsmatur abgeschlossen, sie macht jetzt die Passerelle, damit sie nachher studieren kann. Wir wohnen zurzeit zu dritt in Winterthur in einer Wohnung, die befristet ist. Sie ist gross und günstig, aber alt. Ich wäre trotzdem glücklich, wenn ich das ganze Leben dort bleiben könnte. Aber sie wollen umbauen und sanieren. Ich habe noch ein Jahr lang Zeit. Andere Mieter*innen sind schon ausgezogen, und wir müssen bleiben, weil wir nichts finden. Ich mache mir Sorgen und kann manchmal kaum schlafen. Ein Jahr geht schnell
vorbei. Ich habe schon ungefähr 200 Wohnungen besichtigt, in Effretikon, in Bassersdorf, Regensdorf, Winterthur, Zürich – im ganzen Kanton eigentlich. Ich bin flexibel und offen, was den Ort angeht, und trotzdem hatte ich bisher keinen Erfolg. Ich war in Effretikon 19 Jahre lang in der gleichen Wohnung. Aber weil meine älteren Kinder unterdessen ausgezogen sind, wurde sie zu gross und zu teuer. Aber durch alle die Jahre habe ich natürlich gar nicht gemerkt, was das für ein Riesenproblem ist heute. Die jetzige Wohnung haben wir bekommen, weil das Mietverhältnis befristet ist.
Nun bewerbe ich mich auf jede freie Wohnung, die ich finde. Ich schicke meine Unterlagen und werde immer abgelehnt. Wenn ich meine Bewerbung schicke, sehen sie das Foto, sie sehen den Namen, sie sehen, dass die Tochter eine Behinderung hat, und sie sehen den Lohnausweis. Das heisst, die Verwaltungen sehen eigentlich nur noch Probleme.
Ganz unbeabsichtigt haben wir schon ein paar Mal den Test gemacht: Eine Kollegin von mir, die all die Nachteile auf dem Wohnungsmarkt nicht hat, die ich habe, und ich bewerben uns für die gleiche Wohnung. Ich bekomme keine Antwort, und wenn ich nachfrage, heisst es: ‹Ah, die ist schon weg!› Wenn meine Kollegin sich ebenfalls bewirbt, bei exakt der gleichen Verwaltung, bekommt sie sofort eine Antwort und dazu einen Termin für die Besichtigung. Das tut mir weh. Wir sind doch alle Menschen. Wieso behandeln sie die einen so und die anderen anders? Ich bekomme nicht mal eine Absage. Manchmal scherze ich, das nächste Mal werde ich mich verkleiden. Ich ziehe eine blonde Perücke an, tue blaue Kontaktlinsen rein und gehe in einer Hose vorbei statt in meiner somalischen Kleidung. Immerhin bin ich ja längst Schweizerin. Irgendwann muss ich es vielleicht so machen, dass jemand anders für mich eine Wohnung mietet, mit meinem Namen und in meiner Lage habe ich keine Chance. Aber man will als erwachsener Mensch doch selber eine Wohnung mieten können. Ich finde das traurig und demütigend.»
BENNO FRICKER, 59, Surprise Stadtführer in Basel
«Um die Hilfe war ich froh»
«Ich war vier Jahre lang obdachlos, immer draussen. Ab und zu konnte ich bei meiner Freundin unterkommen, mal ein, zwei Wochen Luft holen. Sie wohnt in Deutschland, in der Nähe von Saarbrücken. Wir sind jetzt 21 Jahre zusammen. Das ist eine Fernbeziehung, aber wahrscheinlich funktioniert es gerade darum so gut. Ganz zu ihr ins Saarland ziehen wollte ich nicht. Denen geht es wirtschaftlich auch nicht gut. Und es ist halt nicht ganz zuhause. Es ist mir zwar wohl da, da sind auch coole Leute, aber ich gehöre hierher.
2019 hat mir eine Kollegin von Surprise einen Vermieter zugeschanzt, der gibt dir auch eine Wohnung, wenn du einen ellenlangen Betreibungsauszug hast – solange du bei der Sozialhilfe gemeldet bist. Der Typ hat genau den Maximalbetrag an Miete verlangt, den die Sozialhilfe gewährt. Für ein Zimmer mit Badezimmer und einem kleinen Vorräumchen. Die Wohnung war möbliert, aber die Möbel waren Schrott, schlimmer als vom Flohmarkt. Der einzige Wasseranschluss war im Badezimmer. Einen Kühlschrank gab es und zwei Herdplatten. Später konnte ich noch einen kleinen Backofen organisieren. Ich würde es fast nicht als Wohnung bezeichnen, weil eben die Kochgelegenheit fehlte. Da war ich lange drin, 2019 bis 2024. Letztes Jahr hat die Stiftung Habitat das Haus übernommen. Sie sagten, ich müsste im März raus, weil sie das Haus renovieren, aber sie hätten mir was, im Erdgeschoss. Also bin ich zwischenzeitlich in die Erdgeschosswohnung gezogen. Die ist etwa gleich gross, plus eine richtige Küche. Sie war jedoch unmöbliert, aber da hat mir meine Schwester geholfen. Ich konnte mir auch dank der Sozialhilfe zwei, drei Dinge aus dem Brockenhaus zulegen: einen Küchentisch, ein Bettgestell. Matratze und Lattenrost bekam ich von der Schwester. Und noch zwei, drei Schränke und Kommoden. Sie hat mir auch viel Geschirr von sich gegeben.
Nun muss ich jedoch diesen März auch da raus, weil die Wohnungen ebenfalls renoviert werden. Aber die Stiftung Habitat hat auch jetzt wieder eine Wohnung angeboten. Und zwar in einem Neubau von ihnen im St. Johann. Ich habe schon den Vertrag unterzeichnet. Für den Umzug hole ich mir irgendein Kleinunternehmen mit einem Sprinter, das reicht.
Die Küche dieser neuen Wohnung ist doppelt so gross wie jetzt. Dann bin ich wieder im dritten Stock, aber mit Lift. Vor den Wohnungstüren ist eine Art gemeinsamer, umlaufender Balkon. Da darf man nichts hinstellen. Zudem gibt es eine Gemeinschaftsterrasse und einen Aufenthaltsraum.
Damals wieder ein Dach über dem Kopf zu haben und selber kochen zu können, wenn auch rudimentär, das war gut. Mit dem Backofen ging es dann noch ein bisschen besser. Ich kenne Leute, die nach der Obdachlosigkeit ein
Jahr lang noch auf dem Balkon nächtigten, weil sie Angewöhnungsschwierigkeiten hatten. Aber das Problem hatte ich nie. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich auch ab und zu bei der Freundin drinnen schlafen konnte. Ich schlafe jetzt mehr als früher. Auf der Strasse kannst du im Winter nicht länger als vier, fünf Stunden schlafen. Dann wird es kalt und du bist wach. Länger hält der beste Schlafsack nicht, wenn du nicht noch zusätzlich ein Zelt oder irgendeine Wärmequelle hast. Hatte ich nicht, weil ich auch immer alles mitschleppen musste.
Um die Stiftung Habitat bin ich schon froh. Ohne deren Hilfe hätte ich wohl kaum so leicht eine neue Wohnung gekriegt. Und ich musste nun doch 59 Jahre alt werden, bis ich endlich eine eigene Geschirrspülmaschine bekommen habe.»
TSION
YOHANS, 59, verkauft Surprise in Zürich
«Trauerzeit
war schlimm»
«Ich bin seit 11 Jahren in der Schweiz. Die ersten dreieinhalb Jahre wohnte ich im Asylzentrum in Zug, danach in einer normalen Mietwohnung. Im Asylzentrum teilte ich mein Zimmer mit einer Mitbewohnerin. Ich hätte schon früher eine eigene Wohnung suchen dürfen, aber es gefiel mir mit den Familien um mich herum. Ich konnte dort auch als Reinigungsfachfrau arbeiten und ich half, die Kinder zu betreuen. Später wurde mir eine schwierige Person ins Zimmer zugeteilt, da begann ich schnell, eine eigene Wohnung zu suchen. Ich bin mit den Eritreer*innen und vielen Menschen unterschiedlichster Herkunft in Zug gut vernetzt, sie halfen mir, ein Zimmer zu finden. Es war ein möbliertes Studio, kompakt, mit kleiner Küche, WC, Dusche. Etwas herabgesetzt, fast im Keller. Da habe ich sechs Jahre gewohnt.
Während dieser Zeit sind zwei meiner Geschwister gestorben. In unserer Kultur kommen dann deine Freund*innen zu dir nach Hause, um gemeinsam zu trauern. Das sind dann grössere Gruppen. Aber ich durfte nicht so viel Besuch haben, der Hausbesitzer wollte das nicht. Also ging ich zu den anderen. Oder ich ging spazieren, damit all die Leute nicht bei mir auftauchen. Das war eine stressige Zeit, und ich fühlte mich verletzt. Es war aber nur diese Zeit der Trauer, die für mich dort sehr schwierig war. Die Wohnung wurde mir später wegen Eigenbedarf gekündigt. Da musste ich nochmals für ein paar Monate ins Asylheim, weil ich nicht rechtzeitig eine bezahlbare Wohnung fand.
Aber jetzt ziehe ich gerade um, wieder in eine kleine Wohnung, an einer Busendhaltestelle in Zug. Es ist wieder ein Zimmer mit WC, Dusche, Küche. In der Ecke hat ein Bett Platz. Ich lebe teilweise von der Sozialhilfe, und das ist das, was finanziell drin liegt. Ich arbeite, so viel ich kann. Und ich würde auch gerne mehr arbeiten, ich bin eine motivierte Frau.»
TITO RIES, 61, Surprise Stadtführer in Basel
«Eine zweite Chance verdient»
«Ich wohne in einer Einzimmerwohnung, 28 Quadratmeter mit Bad und Badewanne, ohne Balkon. Im Paulus-Quartier, ganz anders als das Kleinbasel, das früher mein Lebensmittelpunkt war. Ich habe mich unterdessen zurückgezogen von der Gasse.
Ich habe diese Wohnung vom Knast aus gefunden. Ich war auf Bewährung und habe selber gesagt: Ich gehe hier erst raus, wenn ich eine Wohnung habe. Ich will in stabilen Verhältnissen leben und nicht mehr trinken. Mein Bewährungshelfer gab mir Kontakte von Mietangeboten und sagte mir: ‹Ruf hier an und schau, ob du was machen kannst.› Der eine ging nicht ran. Der andere wollte nur befristet vermieten. Und der dritte wollte wissen, wer ich bin. Und dem habe ich dann alles über mich erzählt. Er fragte dann, ob ich im Sinn hätte weiterzutrinken. Ich sagte Nein. Ob ich im Sinn hätte zu arbeiten. Ich sagte Ja, und wenn ich nichts fände, würde ich Freiwilligenarbeit machen. ‹Sie mit Ihrem Background, mit Schulden und Gefängnis – wovon werden Sie leben?› Ich sagte, vorerst sicherlich von der Sozialhilfe. Und er meinte: ‹Sie müssen sich dafür nicht schämen, Sie haben genug gemacht in Ihrem Leben, haben sich durchgekämpft. Wenn Sie jetzt Freiwilligenarbeit finden, wird Ihnen das gut tun. Und wenn Sie aufs Sozialamt gehen, kommt die Miete sicher pünktlich bei mir an.› Ein Job kann morgen schon gekündigt werden. Aber das Amt zahlt immer. Ich war auch schon einige Jahre obdachlos, von 2011 bis 2013. Zuvor hatte ich eine Traumwohnung mit meiner damaligen Freundin. Nachdem wir uns getrennt hatten, konnte ich sie nicht alleine bezahlen. Wir mussten ausziehen. Es war sehr schade: eine Dachwohnung, Wohn-Esszimmer mit offener Küche, hohe Räume und riesige Fenster. Ich räumte meine ganzen Sachen in die Garage eines Freundes. Das war im Haus einer Erbengemeinschaft, von denen einer auch ein Bekannter von mir war. Eine riesengrosse Garage. Es fehlte bloss ein WC, Dusche und eine Küche. Ich stellte eine Wanne auf den Boden, ein Wasserfass auf den Schrank, holte mein Camping-WC, richtete mir eine kleine Küche ein. Aber es war natürlich eine Zweckentfremdung. Mein Freund wusste ‹nur so halbwegs› davon. Ich hatte damals Schlafstörungen, Liebeskummer und war schon ziemlich am Abstürzen mit Alk. Als jemand im Haus Verdacht schöpfte und mir die Sicherungen rausdrehte, rastete ich aus. Einer hat die Polizei gerufen. Mein Bekannter von der Erbengemeinschaft sagte danach: ‹Schau, dass du bald hier draussen bist.› Gleichzeitig wurde auch mein Freund und direkter Vermieter von der Immobilienverwaltung unter Druck gesetzt. Also ging ich raus, in die Gassenküche, die gaben mir einen Gutschein der Notschlafstelle. Da bin ich – es
war Dezember – obdachlos geworden. Und so findest du keine Wohnung mehr. Statt dass die Leute finden, der hätte es am nötigsten, denken sie das Gegenteil: ‹Wenn einer so weit unten ist, dann wollen wir ihn nicht.› Die meisten Häuser werden von professionellen Verwaltungen betreut, mit dem Auftrag, die Wohnungen an solvente Mieter*innen zu vergeben. Früher war in der Regel ein*e Hausbesitzer*in vor Ort und hat dich erlebt, hat dich kennengelernt, mit Herz und Seele. Heute läuft die Bewerbung unpersönlich über mehrere Stufen. Schwächere, wie zum Beispiel Verschuldete, fallen so durch alle Maschen. Als ich damals aus der Kiste kam, hatte ich das unglaubliche Glück, auf Menschlichkeit zu stossen. Darauf, dass mir einer sagte: ‹Es hat jeder eine zweite Chance verdient.›»
JELENA HOFER , 64, verkauft Surprise in Basel
«Nette Menschen»
«Im letzten Juli bin ich umgezogen. Ich habe Glück im Unglück gehabt. Ich hatte Ärger mit der Vermietung dort, eine seltsame, komplizierte Geschichte. Ich wohnte in einer Zweizimmerwohnung in der Kleinhüningerstrasse, und mein Sohn kam für zwei Wochen mit seiner Freundin zu Besuch. Danach bekam ich die Kündigung. Mein Sohn hätte nicht so lange bleiben dürfen, wurde mir als Grund angegeben. Das schien mir nicht rechtens, also ging ich zum Mieterverband. Sie zogen mit dem Fall vor Gericht. Aber ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt in dem Haus. Ich war auch die einzige Person mit einem ausländisch-klingenden Vornamen, manchmal glaube ich, das war auch ein Faktor. Ich habe jeden Monat pünktlich meine Miete bezahlt. Ich begann, nach einer neuen Wohnung zu suchen und wusste, dass meine Chancen schlecht stehen: Ich habe Betreibungseinträge von vor 20 Jahren. Damals war ich krank und konnte Rechnungen wie die Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen. Ich habe zwar Verlustscheine, aber die Einträge bleiben. Meine alte Miete betrug 1025 Franken, es ist auch schwer, in derselben Preisklasse etwas zu finden.
Ich bekomme eine Witwenrente und Ergänzungsleistungen. Zusätzlich verkaufe ich Surprise vor dem Coop im Klybeck. Es ist gut, meine Stammkund*innen zu treffen. Und so habe ich jetzt meine neue Wohnung gefunden! Ich hatte beim Verkaufen mitbekommen, wie eine Frau die andere fragte, ob sie eine Wohnung zu vergeben habe, und sie sagte Ja. Also sprach ich sie ein paar Tage später ebenfalls an, ob sie vielleicht was wüsste – und tatsächlich hatte sie eine Wohnung für mich. Tags darauf hatte ich den neuen Vertrag unterschrieben. Die Frau war die Hausbesitzerin, und alles ging sehr unkompliziert. Die zwei Zimmer sind gross, die Küche ebenfalls. Waschmaschine und Tumbler stehen in der Wohnung, das ist schön. Im Haus wohnen nur drei Parteien, alles Frauen. Ich habe sie schon kennengelernt, nette Menschen.»
«Hier
fliessen viele Lebensthemen zusammen»
Die IG Wohnen vermittelt zwischen Wohnungssuchenden in schwierigen Situationen und Vermieter*innen, darunter grosse Liegenschaftsverwaltungen.
Deborah Lüthy ist als Beraterin bei dem gemeinnützigen Basler Verein angestellt.
Deborah Lüthy, warum ist es so schwer geworden, eine Wohnung zu finden?
Deborah Lüthy: Im Vergleich zu früher gibt es viel weniger günstigen Wohnraum. Hinzu kommt, dass für unsere Klient*innen die Wohnungssuche an sich eine Überforderung darstellt. Es bestehen sprachliche, finanzielle, soziale aber auch digitale Hürden. Bei Working Poor, kinderreichen Familien oder Alleinerziehenden fehlen oft auch die zeitlichen Ressourcen.
Was heisst das?
Menschen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, haben oft keine Zeit, um eine Wohnung überhaupt anzuschauen. Wir haben aber auch Klient*innen mit gesundheitlichen Beschwerden, seien es psychische oder körperliche. Manche können sich sprachlich nicht gut vermitteln. Für Menschen mit Behinderungen sowie für ältere Menschen bieten wir Besichtigungsbegleitungen an.
Wer hat es besonders schwer, eine Wohnung zu finden?
Vor allem Familien mit vielen Kindern haben es schwerer. Grosse Wohnungen gibt es nur sehr wenige. Schon bei vier Zimmern wird es schwierig, erst recht im güns-
IG Wohnen
INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR
tigen Segment. Auch für Menschen mit Schulden ist es nicht immer ganz einfach. Aber oft gelingt es uns, die Schuldensituation den Vermieter*innen gegenüber zu erklären. Das kann helfen, trotzdem eine Zusage zu erhalten.
Haben Sie auch Klient*innen mit Obdachlosigkeitserfahrung?
Auch, immer wieder. Wenn Leuten gekündigt wird und sie nicht rechtzeitig etwas Neues finden, wohnen sie oft übergangsweise bei Freund*innen. Da IG Wohnen keine Notlösungen anbieten kann, verweisen wir im Notfall auf die Notschlafstelle, auf Notwohnungen für Familien oder auf andere Institutionen für Notfälle. Die meisten Klient*innen, die wir unterstützen, haben aber eine Wohnung, die einfach nicht mehr passt, weil sie beispielsweise zu klein oder zu teuer ist.
Wie sieht es denn mit Genossenschaften aus, die sind doch mit dem Gedanken des erschwinglichen Wohnens für Familien und weniger Begüterte entstanden. Vermitteln Sie viele Wohnungssuchende in Genossenschaften? Es ist, zumindest in Basel, sehr schwierig, in eine Genossenschaft zu kommen, wenn
Der gemeinnützige Basler Verein unterstützt seit über 30 Jahren Menschen mit Unterstützungsbedarf bei der Wohnungssuche und vermittelt durch die Zusammenarbeit mit Liegenschaftsverwaltungen und privaten Vermieter*innen stabile Mietverhältnisse. IG Wohnen wird im Rahmen einer Leistungsvereinbarung vom Kanton Basel-Stadt subventioniert. Zusätzlich ist IG Wohnen durch Mitgliederbeiträge und Spenden finanziert. Mehr Informationen unter www.ig-wohnen.ch.
man niemanden kennt. Aber es kommt trotzdem hin und wieder zu Mietverträgen mit Genossenschaften.
Kann jede*r die Hilfe der IG Wohnen in Anspruch nehmen?
Wir bieten eine niederschwellige Wohnberatung für alle an. Man kann sich bei uns erkundigen, wie man am besten nach Wohnungen sucht und wie man sich für eine Wohnung bewirbt. Bei Bedarf nach mehr Unterstützung und Begleitung während der Wohnungssuche muss man von einem unserer Mitglieder bei uns angemeldet werden. Neben der Sozialhilfe haben wir über 30 weitere Mitgliedsinstitutionen. Dazu gehören etwa auch das Amt für Beistandschaften und Erwachsenenschutz oder auch die Bewährungshilfe des Kantons Basel-Stadt, die Schuldenberatung Plusminus und die frauenOase. Sie alle können Personen zur Wohnungsvermittlung bei uns anmelden.
Was sind die Voraussetzungen für eine Anmeldung?
Grundvoraussetzung ist, dass man selbstständig wohnen kann, da wir keine betreuten Wohnverhältnisse vermitteln. Dann muss die finanzielle Existenzgrundlage gewährleistet sein, da wir nur Wohnungen vermitteln, welche sich die Klient*innen auch langfristig leisten können.
Angenommen, man ist bei Ihnen angemeldet: Was passiert dann?
Wir erstellen ein umfassendes Dossier mit allen nötigen Unterlagen für den Bewerbungsprozess. Dann erörtern wir ein realistisches Mietzinsbudget und laden die Klient*innen zu einem Gespräch ein. Dort
lernen wir die Menschen, ihre Geschichte und Wünsche für die Zukunft kennen. Beim Thema Wohnen fliessen viele Lebensthemen zusammen. Manche beraten wir einmalig und erklären einfach, wie die Wohnungssuche funktioniert. Andere benötigen mehr Unterstützung während des Suchprozesses. Für alle Klient*innen übernehmen wir aber die Wohnungsbewerbungen und verfassen ein Referenzschreiben. Unser Ziel sind zufriedene, reibungslose und möglichst langfristige Mietverhältnisse für alle Beteiligten.
Warum braucht es für eine Person, die Sozialhilfe bezieht, noch eine weitere Vermittlung? Ist denn der Staat nicht ein Garant für kontinuierliche Zahlungen?
Die Sozialhilfe hat diese Zusatzunterstützung an uns delegiert, wir werden dafür auch von der Sozialhilfe finanziell unterstützt. Die Wohnungssuche erfordert Durchhaltevermögen, Selbstvertrauen, Organisation und digitale sowie sprachliche Kenntnisse. Wir versuchen die Klient*innen individuell nach ihren Bedürfnissen abzuholen und zu begleiten.
Wie reagieren denn Vermieter*innen auf Klient*innen der IG Wohnen?
Die grossen Liegenschaftsverwaltungen kennen IG Wohnen. Sie wissen, wenn sie eine Bewerbung von uns bekommen, dass das Haushaltsbudget der sich bewerbenden Person bereits überprüft wurde, dass diese die obligatorische Haftpflichtversicherung abgeschlossen hat und auch sonst die Unterlagen vollständig und aktuell sind. Wir kennen die Klient*innen persönlich und deren Geschichte. Im Referenzschreiben gehen wir ausführlich auf die Situation ein, prüfen im Falle von Schulden auch deren Ursprung und thematisieren die künftige Vermeidung. Auch verfügen wir über diverse Hilfsmittel, um die finanzielle Belastung für die Klient*innen zu minimieren, aber auch möglichst das finanzielle Risiko für die Verwaltung auszuschliessen.
Gibt es manchmal auch Abwehrreaktionen?
Es gibt schon Vermieter*innen, die sich fragen, warum die Klient*innen nicht selber anrufen. Dann müssen wir erklären, dass da zum Beispiel sprachliche Barrieren existieren. Im direkten Kontakt lassen sich Vorurteile gegenüber sozial benachteiligten Personen meistens gut entkräften.
Haben Sie eher mit privaten Vermieter*innen oder mit Liegenschaftsverwaltungen zu tun? Beides. Die grossen Verwaltungen haben einfach die meisten Wohnungen.
«Das Ziel sind zufriedene Mietverhältnisse für alle Beteiligten.»
DEBORAH LÜTHY
hat einen Bachelor in Prozessdesign, arbeitete in der Immobilienbranche und ist seit 2024 soziale Wohnungsvermittlerin.
Die IG Wohnen bietet auch Wohnbegleitungen an. Wobei müssen die Menschen denn begleitet werden? Wir besprechen die Mietvertragsklauseln mit ihnen, damit sie wissen, was ihre Rechte und Pflichten sind: Wie müssen sie vorgehen, wenn in der Wohnung etwas kaputtgeht, was müssen sie selber bezahlen, wo müssen sie eine Fachperson holen und es der Verwaltung sagen? Oder wir gehen zusammen die Hausordnung durch. Es geht darum, für alle Beteiligten ein zufriedenstellendes Mietverhältnis zu gewährleisten.
Ergeben sich auch Probleme zwischen Ihren Klient*innen und den Vermieter*innen?
Im Wohnvermittlungsprozess und durch die Mietbegleitungen versuchen wir, mögliche Konflikte präventiv zu verhindern. Aber es kann vorkommen, dass eine Person die Kündigung bekommt, weil das Mietverhältnis nicht problemlos verlief. Diese Fälle sind zum Glück sehr selten.
Geht die IG Wohnen auch vor Gericht, wenn jemand von Vermieter*innen-Seite unfair behandelt wird?
Nein, dann verweisen wir auf die Schlichtungsstelle oder auf den Mieterinnen- und Mieterverband.
Was passiert, wenn eine Person schneller ausziehen muss, als eine neue Wohnung gefunden werden kann?
Das passiert leider recht häufig, weil es auf dem Wohnungsmarkt aktuell sehr schwer ist, so schnell eine passende und günstige Wohnung zu finden. Wie gesagt können wir leider keine Notlösungen anbieten.
Gibt es ähnliche Angebote wie Ihres auch in anderen Städten?
Es gibt in wenigen anderen Städten ähnliche Institutionen, beispielsweise die Stiftung Domicil in Zürich. Aber in der konkreten Ausgestaltung der Prozesse und Unterstützungsleistungen sind alle sehr unterschiedlich.
Studieren, aber wo wohnen?
Probleme treten oft dann ins öffentliche Bewusstsein, sobald sie auch privilegiertere Gruppen zu betreffen beginnen: Auch Studierende haben immer mehr Mühe, eine Wohnung zu finden.
TEXT PAULA-SOPHIA WOLLENMANN
Die Mieten steigen, Wohnungen sind knapp und Zürich belegt hinsichtlich der Wohnungskrise einen Schweizer Spitzenplatz. Die Leerwohnungsziffer – also die Anzahl an leerstehenden Wohnungen in der Stadt – liegt laut dem Statistischen Amt des Kantons Zürich bei 0,07 Prozent, das ist so tief wie zuletzt im Jahr 2011. «Wohnen tut Not – Ein Dach für alle, gegen die Zerstörung von preisgünstigen Wohnungen!», stand aber schon auf den Bannern der Demonstrierenden der Zürcher Jugendunruhen. In den 1970er-Jahren begann Zürich zu wachsen. Während auf der einen Seite neue Bürotürme und Wohnblöcke entstanden, drängten steigende Mieten und Baupläne alteingesessene Bewohner*innen und junge Menschen an den Rand der Stadt – oder aus ihr hinaus. Die Demonstrierenden forderten bezahlbaren Wohnraum und autonome Freiräume, protestieren gegen die steigenden Mieten, den Mangel an günstigem Wohnraum und die zunehmende Gentrifizierung. Als Reaktion auf diese Jugendunruhen wurde 1984 das Jugendwohnnetz Juwo gegründet.
Wer heute in Zürich studiert, kennt den Kampf um ein bezahlbares Zuhause. Für junge Menschen ohne finanzielle Unterstützung ist die Situation schwierig. Doch auch für jene, die auf familiäre Rückendeckung zählen können, ist die Wohnungskrise spürbar. «Studentisches Wohnen in der Stadt Zürich – Präferenzen von Studierenden im Generationenvergleich» heisst eine Masterarbeit, die am Center for Urban & Real Estate Management der Universität Zürich entstand: Hier schätzten 2024 rund 70 Prozent der Studierenden die Problematik, ein neues WG-Zimmer zu finden, als stark bis sehr stark ein. Für das Finden einer Wohnung waren es sogar circa 93 Prozent.
Die drei Student*innen Fynn Berger, Alessia Eckerle und Canberg Özbal müssen zwischen Studium, Nebenjob und der Suche nach einer neuen Wohnung balancieren. Fynn Berger hat ein Jahr lang nach einer Wohnung gesucht, bevor er in eine Siedlung des studentischen Jugendwohnnetzes Juwo in der Nähe des Zürcher Güterbahnhofs ziehen konnte. Das Juwo mietet und kauft selbst Wohnraum, den es an Student*innen vermietet. Berger zog nach seiner Erstausbildung mit 18 Jahren in eine WG und arbeitete in der Gastronomie. Doch Zehn-Stunden-Schichten und ein exzessiver Lifestyle forderten ihren Tribut. Er brauchte eine Pause. So reiste er für knapp drei Monate durch Europa und kehrte schliesslich nach Zürich zurück, um sich beruflich neu zu orientieren und an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK Film zu studieren. Damals zog er wieder bei seiner Mutter ein. Was ursprünglich als kurzfristiger Zwischenstopp geplant war, wurde zur unfreiwilligen Langzeitlösung: Fast ein Jahr lang lebte er im Spielzimmer seiner beiden jüngeren Geschwister, während er nach einer neuen Wohnung suchte. «Die Wohnungssuche war extrem anstrengend. Ich habe Dutzende Bewerbungen geschrieben, unzählige Besichtigungen besucht – ohne Erfolg», sagt er.
Berger ist der Erste in seiner Familie, der studiert. Seine Mutter ist Fotografin, sein Vater arbeitet 20 Prozent als Zeichner Landschaftsarchitektur – ein akademischer Werdegang war für Berger nie selbstverständlich. Dank seiner Immatrikulation konnte er sich nun für eine Wohnung beim Juwo bewerben, das meist befristete Wohnungen zu einem günstigen Preis vermietet. Jedoch war auch hier die Konkurrenz enorm. Die Warteliste zählte 2024 rund 2000 Personen. Nach zahlreichen Bewerbungen und WG-Castings bekam er schliesslich sein jetziges Zimmer in der Dreieinhalbzimmer-Wohnung nahe dem Güterbahnhof. Seit Februar 2024 lebt er dort mit einer Mitbewohnerin. Doch sein Glück ist befristet: «Unser Mietvertrag sollte eigentlich Anfang 2025 auslaufen. Er wurde nun auf Juni verlängert, dann müssen wir aber definitiv raus.»
Die Unsicherheit bleibt
Finanziell ist Alessia Eckerle um einiges privilegierter als Berger, die Kunststudentin wird zu 100 Prozent durch ihre Eltern finanziert. Sie übernehmen ihre Miete und sonstige Fixkosten vollständig und geben ihr zusätzlich 400 Franken Taschengeld pro Monat. «Ich habe gleich nach dem Gymnasium angefangen zu arbeiten und hatte eigentlich auch vor, während meines Studiums selber mein Geld zu verdienen», sagt sie. Doch die Rechnung ging nicht auf. Neben dem Vollzeitstudium blieb ihr kaum noch Zeit für Freund*innen, für sich selbst, nicht einmal für die Kunst, die eigentlich ihr Fokus sein sollte. So übernahmen ihre Eltern die vollen Kosten. «Ich kenne viele Studierende, die alles selbst stemmen müssen.» An der ZHdK, wo auch Eckerle studiert, ist
«Man muss extrem schnell sein beim Bewerben, ansonsten hat man keine Chance.»
ALESSIA ECKERLE
ein Teilzeitstudium – anders als bei vielen Studiengängen der Universität – nicht möglich.
Eckerle lebt in einer charmanten Altbauwohnung beim Stauffacher – Toplage, nahe dem Zürcher Hauptbahnhof – und teilt die Wohnung mit einer Freundin, ebenfalls Kunststudentin. Sie zahlen 1650 Franken – viel Geld für die zwei, doch in Zürich ein Glücksgriff. Die 22-Jährige malt, zeichnet und fotografiert gerne. Ihre Kreativität spiegelt sich in der Dreizimmer-Wohnung: Die stilvolle Einrichtung – von den Möbeln bis zur Dekoration –scheint ihren festen, bedachten Platz zu haben. Dies täuscht über eine Tatsache hinweg: Ihr Mietvertrag ist, wie auch derjenige von Berger, befristet. Bis März 2025, vielleicht. Denn das Datum verschiebt sich ständig. «Es ist eine Dauerunsicherheit», sagt Eckerle, die nun wieder auf Wohnungssuche ist. «Einen knappen Monat vorher erfahren wir, ob wir länger bleiben können.»
«Wenn ich an meine letzte Wohnungssuche denke, mache ich mir nun schon Sorgen», sagt Eckerle. Ein halbes Jahr lang klickte sie sich durch den Immobilien-Dschungel, schrieb zig Bewerbungen und hetzte von Besichtigung zu Besichtigung. «Man muss extrem schnell sein, ansonsten hat man keine Chance.» Obwohl sie sich eigentlich ein langfristiges Zuhause wünschte, entschied sie sich für die befristete Wohnung. «Auf dem regulären Wohnungsmarkt hast du als Student*in kaum Chancen und wenn, dann sind die Wohnungen befristet. Viele Vermieter*innen wollen prinzipiell keine WGs.» Das Juwo sei ein Hoffnungsschimmer, aber keine Lösung für alle. Eckerle hat sich oft beworben, Besichtigungen besucht, doch nie eine Zusage erhalten.
«Unser Mietvertrag wurde nun auf Juni verlängert, dann müssen wir aber definitiv raus.»
FYNN BERGER
Diese Erfahrung macht auch Biomedizinstudent Canbeg Özbal: Zusammen mit zwei Mitbewohnern wohnte er zur Untermiete in einer WG beim Helvetiaplatz in Zürich. «Die damalige Hauptmieterin hatte uns die Übernahme der Wohnung zugesagt, doch die Verwaltung entschied anders.» Plötzlich kam die Kündigung, innerhalb einer Woche mussten sie ausziehen. Notgedrungen zog Özbal bei der Familie seines Mitbewohners ein. Die Wohnungssuche war frustrierend: « Als Studenten mit eher niedrigem Einkommen hatten wir fast keine Chance.» Nach langer, intensiver Suche fand Özbal zusammen mit einem Freund eine teilmöblierte Wohnung zur Untermiete nahe der Hardbrücke. Die Wohnung an der Hohlstrasse ist Teil eines längeren Blocks und liegt im dritten Stock. Sie kostet 1900 Franken – pro Person 950 Franken. «Es ist teuer, aber wir hatten keine andere Wahl.» Özbal wird finanziell zwar von seinen Eltern teilweise unterstützt, trotzdem ist seine Situation angespannt. Zwei bis drei Tage pro Woche arbeitet er in einem Restaurant. «Ich fühle mich finanziell gefordert, aber nicht überfordert. Ich darf nicht zu viel Geld ausgeben, das klappt bis jetzt ganz gut.» Grössere Anschaffungen oder Ersparnisse liegen neben den Fixkosten nicht drin. «Ohne meine Eltern müsste ich mein Studium wohl reduzieren.»
«Die meisten wollen unbedingt in der Stadt bleiben»
Patrik Suter ist Geschäftsführer des Jugendwohnnetzes Juwo. Es existiert, weil der Wohnraum in Zürich schon vor 50 Jahren knapp war.
INTERVIEW PAULA-SOPHIA WOLLENMANN
Patrick Suter, ist die Wohnungsnot in Zürich ein neues Phänomen?
Patrick Suter: Schon in den 1970er-Jahren war Zürich Schauplatz brennender Debatten und aufgebrachter Jugendproteste. Junge Menschen besetzten Häuser, skandalisierten hohe Mieten und forderten Freiräume, die nicht von den steigenden Immobilienpreisen verschluckt wurden. Die Stadt war in Bewegung, und aus dem Druck dieser Zeit entstand das Juwo: eine Antwort auf den Ruf nach bezahlbarem Wohnen. Tatsächlich kehrte in den 1990er-Jahren kurz Ruhe ein. Der Markt stabilisierte sich und es gab mehr bezahlbaren Wohnraum. Ab den 2000er-Jahren schlug das Pendel jedoch erneut aus: Zürich wurde zum Magneten für Unternehmen, Wohlhabende und Investor*innen. Die Nachfrage explodierte, Neubauten wurden zu Luxusobjekten und viele einfache Wohnungen verschwanden.
Die Gründung des Juwo war eine Reaktion auf die Wohnungskrise. Welche Rolle spielt es denn heute im Kampf gegen die Wohnungsnot?
Das Juwo bietet bezahlbare Wohnungen für Menschen in Ausbildung, die weit unter den marktüblichen Mieten liegen. 1000 Wohnungen für Jugendliche in der Stadt Zürich, das war das anfängliche Ziel des Gründungsteams des Juwo. Heute bieten wir etwa 1700 Wohnungen in und um die Stadt Zürich an, dazu gehören auch viele Zwischennutzungen.
Wie kann die Stadt Zürich den Wohnbau fördern, insbesondere für junge Menschen und Menschen mit wenig Einkommen?
Die Stadt Zürich engagiert sich meiner Meinung nach schon sehr aktiv gegen die Wohnungsnot, vor allem auch im Vergleich zu anderen Schweizer Städten. Ein zentraler Bestandteil dieses Engagements ist der Jugend-Wohn-Kreditfonds, der speziell darauf abzielt, jungen Menschen erschwinglichen Wohnraum bereitzustellen. Darüber hinaus hat die Stadt einen 300-Millionen-Franken-Fonds für Genossenschaften eingerichtet. Dieser Fonds unterstützt Baugenossenschaften finanziell dabei, bezahlbaren und nachhaltigen Wohnraum zu schaffen und langfristig zu erhalten.
Was können junge Wohnungssuchende selbst tun?
Sich frühzeitig informieren und suchen. Wer rechtzeitig auf Plattformen wie dem Juwo oder anderen WG-Portalen unterwegs ist, hat bessere Chancen. Wir empfehlen auch, sich parallel bei verschiedenen Plattformen anzumelden –also nicht nur bei uns, sondern überall, wo es Angebote gibt. Flexibilität hilft auch. Manche Wohnorte ausserhalb der Stadt sind weniger gefragt und bieten dadurch gute Chancen. Wir hatten einmal ein schönes Häuschen in Horgen am Zürichsee, mit der S-Bahn 20 Minuten vom HB Zürich entfernt. Das war leider schwer zu vergeben, weil die meisten jungen Menschen unbedingt in der Stadt bleiben wollen.
Tempo, Tempo!
Was die Stadt Zürich Wohnungssuchenden aktuell verspricht, klingt freundlich. Sie sei nämlich aktiv darum bemüht, gemeinnützige Wohnungen denjenigen Personen zu vermieten, «die auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt sind». Das schreibt die Regierung in einem kürzlich veröffentlichten wohnpolitischen Bericht – und sie erwähnt darin explizit Menschen der unteren und mittleren Einkommensschichten, Ältere, Familien mit Kindern, Studierende. Auch die Vermietungsgrundsätze zeugen von gutem Willen: «Die Auswahl der Mieterinnen und Mieter erfolgt diskriminierungsfrei.» Die Stadt orchestriert die Wohnungsvergabe inzwischen mehrstufig und komplett online. Zuerst trifft der Zufallsgenerator eine Vorauswahl. Bei der Vergabe der Wohnung achtet die Verwaltung dann beispielsweise auch darauf, ob jemand Kinder im schulpflichtigen Alter hat und bereits im Quartier lebt.
Auf soziale Nachhaltigkeit ausgerichtete Kriterien haben auch viele Genossenschaften. Manche vermuten, dort kämen nur Linke und Nette zum Zug – sie dürfen sich beruhigt zurücklehnen: Mittlerweile haben auch Bewirtschafter*innen, die in Genossenschaften ar beiten, die Fachausbildung des SVIT durchlaufen, des Verbandes der Immobilien-Bewirtschaftenden. Dort sagt man ihnen, sie seien «ein wichtiges Glied der Wertschöpfungskette der Branche» (gemeint ist die Immobilien-Branche), indem sie dazu beitragen, «die Rendite der Liegenschaften zu steigern». So steht es auf der Webseite des Verbandes.
Während die Stadt ihre Wohnungen über mehrere Tage ausschreibt, sind sie bei Genossenschaften, Stiftungen und institutionellen Vermietern oft nur wenige Stunden online; die Verantwortlichen entscheiden noch am Tag der Besichtigung, wer weiterkommt. Tempo ist zu einem der wichtigsten Kriterien geworden, seit die Wohnungsvergabe hauptsächlich online abgewickelt wird. Die geforderten Dokumente muss man stets parat haben, inklusive individuellem Motivationsschreiben. Wer auf Unterstützung am Computer angewiesen ist, hat in diesem System schon verloren – allen voran Ältere und Sehbehinderte. Aber auch Mieter*innen mit Behinderungen, für die es bauliche Anpassungen braucht, stehen hinten an (obwohl die IV die Kosten dafür normalerweise trägt).
Noch etwas hat sich verändert: Durch die Digitalisierung haben Bewirtschafter*innen heutzutage die Möglichkeit, bei der Sichtung von Bewerbungsdossiers ganze Gruppen effizient rauszufiltern und somit zu
ignorieren. Sie können sich zum Beispiel sagen (oder denken): «Zeig mir nur Bewerber*innen mit einem Einkommen über 10 000 Franken im Monat an!» Oder nur die ohne schulpflichtige Kinder. Wer aussortiert wird, wird nie sichtbar. Da fühlt es sich doch gut an, gerade bei der Stadt Zürich mit ihren bezahlbaren Wohnungen darauf vertrauen zu können, dass man es mit transparenten Kriterien zu tun hat.
Apropos Zürcher Stadtwohnungen und bekannte Kriterien: In der Wirtschaftsmetropole gibt es eine neue Einschränkung bei der Vergabe städtischer Wohnungen. So sollen Menschen, die von aussen kommen – etwa, um eine Stelle in der Pflege, auf dem Bau oder in der Reinigung anzutreten – keine solche Wohnung erhalten, sondern frühestens nach zwei Jahren Aufenthalt in der Stadt. Ausgerechnet die Menschen in den systemrelevanten, aber schlecht bezahlten Berufen fallen also von vornherein durch das Raster. Diese Diskriminierung aus der SVP-Ecke hat das städtische Parlament soeben überraschend mit Stimmen der SP angenommen.
Aber wen wundert’s? Zwar dürften die meisten eigentlich verstanden haben, dass es nicht die zuziehenden Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor sind, die für die Wohnungskrise sorgen, sondern die von der Immobilienwirtschaft entschlossen vorangetriebene systematische Umwandlung einst günstiger Wohnungen in immer noch rentablere Objekte. Aber wenn die Menschen zunehmend Angst haben, im Gerangel um die wenigen noch bezahlbaren Wohnungen chancenlos zu bleiben, wird das Klima mit der Zeit giftiger und Abschottungsbedürfnisse finden plötzlich Mehrheiten. Keine schöne Entwicklung. ESTHER BANZ
Ohne die harte Zeit, sagt Estella (links), hätte sie die tollen Menschen, die sie jetzt hat, nicht kennengelernt.
Schutz und Freundschaft
Hinter Mauern Estella und Abirami kennen sich aus dem Mädchenhaus. Die zwei Freundinnen erzählen, wie sie der häuslichen Gewalt ihrer Eltern entkommen sind.
TEXT LEA STUBER FOTOS ANNICK RAMP
Als ihre Zeit im Mädchenhaus sich schon dem Ende zuneigte und sie sich überlegten, wohin nun, wenn nicht wieder nach Hause, stiessen sie beide auf das gleiche Wohnprojekt, eine Jugendwohngruppe in einer Stadt im Kanton Zürich. Es war Abirami Panchadcharam, die als Erste hier schnupperte. Kurz darauf hatte Estella Schmied ihren Schnuppertag. Zu Abirami sagte sie: Ey, ich habe Angst, dort reinzulaufen, es ist so random, so komisch. Also begleitete Abirami sie.
Estella Schmied und Abirami Panchadcharam, 16 und 18 Jahre, sind Freundinnen, seit sie zur gleichen Zeit im Mädchenhaus gelebt haben und viel zu dritt oder zu viert in ihrem Grüppli zusammen waren. Das war vor zwei Jahren. Zu ihrem Schutz heissen sie hier anders als im wirklichen Leben. Und weil die Freundinnen sich mit Vornamen ansprechen, sind sie auch hier einfach Estella und Abirami. Während in der Küche jemand das Abendessen kocht, beschliessen sie, für das Gespräch ins Sitzungszimmer zu gehen.
Das ältere Einfamilienhaus, weder schön noch hässlich, wie es solche in jeder Stadt gibt, liegt an der grossen Strasse beim Bahnhof. Abirami hat ihr Zimmer im ersten Stock, Estella ihres zwei knarzende Holztreppen weiter oben im Dachstock. In den anderen Zimmern wohnen Amadeo, Samuel, Noé, Isabelle, Annika und Luca. Sie alle sind zu jung, um alleine zu wohnen. Bei den Eltern geht es aber auch nicht mehr. Estella und Abirami sind unterschiedliche Typen. Abirami ist die, die am Anfang offener ist, gesprächiger. Sie ist gross, trägt einen Kapuzenpulli, in der Nase einen goldenen Stecker. Estella sagt erst nicht viel, wirkt schüchtern, und am Ende stellt sich heraus, sie ist die mit der grossen Klappe hier. Sie ist kleiner als Abirami, trägt einen engen schwarzen Pullover. HipHop und Girlie, könnte man denken. Abirami, die Bedachte, die Überlegte, macht eine Lehre zur FaGe und geht ins tamilische Tanzen sowie ins Gym. Estella, die Impulsive, die Direkte, besucht das Gymnasium, sie singt, spielt Klavier und fährt Motorrad. Estella: «An deinem letzten Abend im Mädchenhaus, Abirami, legten wir in deinem Zimmer zwei Matratzen nebeneinander und schliefen zu dritt darauf.» Abirami: «Wir haben Wahrheit oder Pflicht
gespielt, waren mega lange wach.» Estella: «Und am Morgen wurden wir zusammengeschissen.» Abirami: «Du wurdest schon gesucht in deinem Zimmer. Dann kam die Betreuerin rauf in mein Zimmer. Wo ist Estella? Wir sagten ihr: Es ist mein letzter Tag, vielleicht sehen wir uns nachher nicht mehr.» Sie lachen. Sie hören einander aufmerksam zu. Fragen nach, ergänzen manchmal. Oder rufen: «Oh mein Gott!», «Ah, scheisse!». Einmal protestiert Estella: «Abirami, lass mich meine Story erzählen!» Manchmal geht es schnell hin und her: «So war es doch.» – «Nein, so.» – «Nein!» – «Wirklich?» Am ausführlichsten werden sie beide, als sie erzählen, wie sie ihren Freund kennengelernt haben. Estella: «Mittlerweile kenne ich deinen neuen Freund – du kannst ihn behalten, ist approved.» Abirami: «Er ist auch von meinen Eltern approved.»
Estella und Abirami sind nicht beste Freundinnen, da nennen sie ein anderes Mädchen und einen anderen Jungen. Was diese Freundschaft aber kann: der erlebten Gewalt einen Raum geben. Abirami: «Du hast das erlebt, ich habe das erlebt. Wir konnten von Anfang an gut miteinander reden, egal über welches Thema.»
Estella: «Es wurde nie ein Wettkampf, ein ‹Ich habe etwas Schlimmeres erlebt als du›. Auch nie ein ‹Du hast es jetzt besser als ich›. Wir haben beide schwierige Sachen erlebt und jetzt ist gut, dass es uns besser geht.» Abirami: «Ich habe in diesen zwei Jahren so viele Gesichter von dir gesehen.» Estella: «Ich bin bekannt als Drama Queen.» Abirami: «Das wütende Gesicht, das Tomatengesicht, das weinende, das lachende Gesicht. Mich hat in diesem Haus kaum eine*r wütend gesehen.» Estella: «Nein, du bist
Serie «Hinter Mauern»
Was trägt sich hinter Mauern zu? Da, wo wir nur selten Einblick bekommen? Was verbergen Mauern, was wird vom Rest der Gesellschaft abgeschirmt? Und zu welchem Zweck? Wie lebt es sich hinter Mauern, und vor allem: wer? In unserer neuen Serie blicken wir hinter unterschiedliche Mauern – bauliche, aber auch soziale oder symbolische. Der Auftakt zu häuslicher Gewalt zeigt: Mauern können nicht nur einsperren und isolieren, sondern auch Schutz bieten.
höchstens genervt.» Abirami: «Wenn es mir nicht gut geht, weiss das niemand. Nur mein Teddy, ihm erzähle ich alles.» Estella: «Du bist eine so starke und liebevolle Person. Wenn wir Streit haben oder ein Missverständnis und ich denke, jetzt ist alles verloren, kann ich zu dir gehen und dann ist doch wieder gut.»
Kontrolle bei jedem Schritt
Als Abirami im Mädchenhaus anrief, hiess es, es sei voll. «So viele Mädchen, die von zuhause losgegangen sind, weil sie nicht mehr konnten? Das hat mich schockiert.» Schliesslich im Mädchenhaus konnten sie sich mit den anderen Mädchen austauschen und füreinander da sein. Jemanden in den Arm nehmen oder in den Arm genommen werden. Abirami: «Endlich sagte mir jemand: Ey, es ist scheisse, was du erlebt hast!» Estella: «Zu merken, ich bin nicht alleine, es gibt andere, die auch Gewalt erlebten und die mich verstehen, das tat gut.» Als ihre Eltern sie zu schlagen begannen, wünschte Abirami sich, dass es jemand hört, dass ihr jemand zu Hilfe kommt. Ein einziges Mal klingelte ein Nachbar. An ihrem letzten Tag daheim, als sie ankündigte wegzugehen.
Estella und Abirami haben gelernt, was viele nicht können. Oder was viele nicht wagen, aus Scham, aus Angst auch. Über die Gewalt sprechen, die sie erlebt haben. Abiramis Eltern kontrollierten sie. Als ihre ältere Schwester mit einem Mann zusammenkam, der ihren Eltern nicht passte, verstärkten sie die Kontrolle. Dies darfst du nicht machen und jenes nicht, um 17 Uhr musst du wieder hier sein. Ihre Mutter rief an, wollte wissen, wo sie sei. Und mit wem. Die Eltern stellten in der Wohnung Kameras auf. Sie hatten Zugriff auf ihre Anrufliste. Sie durfte ihre beste Freundin nicht mehr sehen; die habe zu viel Kontakt mit Buben. Sie wollten nicht, dass Abirami einen Freund hat, sagten, sie entscheiden, wen sie heirate. Ihre Eltern sagten ihr, wie viel sie für sie getan hätten, und sie? Gebe so wenig zurück. Sie fragte sich: Bin ich wirklich eine so schlimme Tochter?
«Mit der Zeit war ich kaputt, einfach müde.» Ihre beste Freundin bot ihr an, bei ihr zu übernachten. Ihren Eltern sagte sie, sie gehe Hausaufgaben machen. Dann schaltete sie ihr Handy aus
Gewalt und Schutz
und blieb über Nacht. Abirami: «Ich habe mir viele Jahre gesagt: Ich muss da einfach durch. Wenn ich 18 bin, ist diese Zeit vorbei.»
Estella: «Ja, du sagst dir: Ich komme diesem Tag jeden Tag ein Stückchen näher.»
Estella lebte bis elf bei ihrer Mutter, dann bekam der Vater das Obhutsrecht. «Ich wusste, dass es nicht normal ist, was ich bei ihm erlebe. Mein Normal waren die ersten elf Jahre: eine liebevolle Beziehung, Geduld, Akzeptanz, Freiheiten.»
Und trotzdem: Sie gewöhnte sich daran, dass ihr Vater mit einer App kontrollierte, wie lange sie online war. Dass er in ihr Zimmer kam, ihr das Handy wegnahm und ihre Chats las. Dass er rief: «Wo warst du? Was fällt dir ein!», wenn sie fünf Minuten später von der Schule heimkam. Sie war nie gut genug. Ihr Alltag bestand aus: aufstehen, in die Schule gehen, nach Hause kommen, schnell was essen, Schulsachen machen, dreimal pro Woche ins UnihockeyTraining, einmal in den Klavierunterricht, schlafen. Sie horchte nach den Schritten ihres Vaters. Wie weit weg ist er, wird er in ihr Zimmer kommen? Sie hörte den Schritten seine Laune an. Sie konnte nicht in Ruhe ein Buch lesen, nicht schlafen, nicht entspannen. Sie war permanent gestresst. Ihren damaligen Freund durfte sie nicht sehen. Auch den Kontakt zu ihrer Mutter und dem Rest ihrer Familie versuchte ihr Vater einzuschränken. Er liess sie das UnihockeyTeam wechseln. Die Schule. Schliesslich auch den Klavierunterricht.
Estella flüchtete sich mit dem Handy in eine andere Welt. Ihrer Mutter fiel auf, dass sie sich zurückzog. Dass etwas auffiel, wollte Estella aber gar nicht. Sie hatte Angst, dass jemand ihren Vater darauf ansprechen könnte. Nein, nein, alles gut, hätte er gesagt. Und zuhause hätte Estella alles abbekommen.
Längst nicht jeder Fall von häuslicher Gewalt wird registriert. Wenn jemand weder darüber spricht noch von zuhause weggeht, erfährt unter Umständen niemand davon. Bei der Polizei gingen 2023 19 918 Straftaten im häuslichen Bereich ein. Die meisten davon waren Tätlichkeiten, Drohungen, Beschimpfungen und einfache Körperverletzungen. In 16,7 Prozent der Fälle ging es gemäss der polizeilichen Kriminalstatistik um Konflikte zwischen Eltern und Kindern. Schutz finden Mädchen ab 14 Jahren im Mädchenhaus Zürich. Es bietet sieben Plätze für jeweils maximal drei Monate. Einem ähnlichen Pilotprojekt in Biel fehlte das Geld und die politische Unterstützung, um weitergeführt zu werden. Der Europarat empfiehlt pro 10 000 Einwohner*innen ein Familienzimmer in einem Frauenhaus. In der Schweiz wären das 890 Familienzimmer. Tatsächlich gibt es aber nur 216, wie die Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein in ihrem Jahresbericht 2023 schreibt.
Erleben Sie Gewalt? Opferhilfe-schweiz.ch bietet kostenlose, vertrauliche und anonyme Beratung. Infos zu den Frauenhäusern unter frauenhaeuser.ch
Üben Sie Gewalt aus? Unterstützung bietet der Fachverband Gewaltberatung Schweiz (fvgs.ch)
Estella nennt ihn den «Das ist nicht normal»Moment. Da war sie schon im Mädchenhaus und nach dem Ausgang auf dem Heimweg. Sie hatte das Tram verpasst und war zu spät. Panik breitete sich in ihr aus, sie rannte, und nachdem sie das Mädchenhaus angerufen hatte, um die Verspätung anzukündigen, blieb sie stehen. Das ist doch nicht normal, dachte sie. Dass ich durchgehend gestresst bin und denke, dass mir die Leute wegen zwei Minuten den Kopf abreissen. Sie würden ihr den nächsten Ausgang um die zwei Minuten kürzen, und damit wäre es erledigt. «In dem Moment fiel der ganze Stress von mir ab.»
Die Entscheidung
Zum ersten Mal seit ihrer Geburt würde Abirami, falls sie ins Mädchenhaus ginge, nicht bei ihren Eltern sein. Sie hatte Angst. Wie würde es sein an einem fremden Ort? Mit den anderen Jugendlichen? Würden es ihre Eltern akzeptieren? Sie haderte. Abi rami
Estella und Abirami haben gelernt, was viele nicht können.
Oder was viele nicht wagen.
Über die Gewalt sprechen, die sie erlebt haben.
«Ich habe mir viele Jahre gesagt: Ich muss da einfach durch. Wenn ich 18 bin, ist diese Zeit vorbei.»
ABIRAMI
«Ich werde nicht mehr Frieden schliessen mit meinem Vater. Ich will einfach mit dem abschliessen, was war.»
ESTELLA
Estella und Abirami sind zwei von durchschnittlich fünfzig Mädchen, die jedes Jahr im Mädchenhaus Schutz suchen.
Hintergründe im Podcast:
Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Redaktorin Lea Stuber über die neue Serie. surprise.ngo/talk
vertraute sich ihrer Berufsbildnerin an. «Wenn ich selber auf mein Leben blickte, dachte ich, das sei ok. Es hilft, wenn jemand von aussen sagt: ‹So darf man nicht mit dir umgehen›.» Estella: «Es braucht jemand, der dich ermutigt. Wenn man von jemandem hört: ‹Es ist möglich, geh›, dann schafft man es, seine Sachen zu packen.» Abirami: «Irgendwann konnte ich nicht mehr daheim, es war einfach zu viel.»
Estellas Mutter hatte von der Polizei die Nummer vom Mädchenhaus bekommen. «Mittlerweile war ich an einem Punkt, wo ich nichts mehr fühlte. Und doch hatte ich den Gedanken: Jetzt hört es vielleicht auf, jetzt kann ich vielleicht zur Ruhe kommen.» Doch wie sollte sie es überhaupt ins Mädchenhaus schaffen, ohne dass ihr Vater das mitbekäme? Was, wenn die Polizei sie dann wieder zu ihrem Vater bringen würde? Eines Tages gab es «einen schlimmen Vorfall», bei dem ihr Vater noch gewalttätiger als bisher war. Sie möchte nicht, dass hier steht, was genau er getan hat. Da sagte Estella sich, steh für dich ein und geh.
Als sie beim Mädchenhaus anrief, erfuhr Estella, dass es mit der Polizei zusammenarbeitet; das beruhigte sie. Sie würde Ende Woche ins Mädchenhaus gehen. Am Freitag hatte sie Training, danach würde sie das Wochenende bei ihrer Mutter verbringen –ihr Vater würde erstmal keinen Verdacht schöpfen. Sie packte ein paar Kleider und die wichtigsten Dinge in ihren Trainingssack und deponierte ihn in einem Spind in der Schule. Am Freitag dann ging sie fünf Minuten früher von der Schule los und nahm drei Minuten früher den Zug in die andere Richtung. Das Handy liess sie in der Schule, damit ihr Vater sie nicht orten konnte.
Zurück zu den Eltern?
Estella und Abirami, sie beide haben es geschafft, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie sind zwei von durchschnittlich fünfzig Mädchen, die jedes Jahr ins Mädchenhaus gehen. Trotz der Erleichterung plagten Abirami – mal wieder – Schuldgefühle. «Meine Eltern weinen jetzt bestimmt, es geht ihnen nicht gut. Bin ich schuld daran? Soll ich zurückkehren?» Etwa ein Drittel der Mädchen kehrt laut Angaben des Mädchenhauses zu den Eltern zurück. Auch Abiramis Mutter frage: Wann ziehst du wieder zu uns? «Niemals», so offen sagt Abirami ihren Eltern das nicht, ihre Mutter würde es zu sehr verletzen. «Ich hatte lange den Wunsch, dass meine Eltern sich ändern. Das wird nicht passieren.» Sie seien heute zwar offener und sähen eigene Fehler. Würde sie zurückgehen, glaubt Abirami, würden sie sie bald wieder kontrollieren.
Estella hat eine Anzeige gegen ihren Vater erstattet. Doch lange passierte nichts, und so zog sie sie zurück. Abirami entschied sich gegen eine Anzeige. Es seien trotz allem ihre Eltern. Häusliche Gewalt ist in der Schweiz kein eigener Straftatbestand. Sind Eltern gegen ihre Kinder gewalttätig, kann das zum Beispiel unter die Verletzung oder Vernachlässigung der Fürsorge oder Erziehungspflicht fallen und damit verbunden eine Gefährdung der körperlichen und seelischen Entwicklung darstellen.
Estella plant, bald zu ihrer Mutter zu ziehen. Erst müssen sich ihre Eltern vor Gericht einigen, dass das Obhutsrecht zurück zur
Mutter geht. Als Estella ins Mädchenhaus flüchtete, wechselte sie das Handy und die Nummer. Nach einem halben Jahr fand ihr Vater ihre Nummer heraus, «auf eine respektlose und unmenschliche Art». Seither hat sie ihn blockiert. «Ich werde nicht mehr Frieden schliessen mit meinem Vater. Ich will einfach mit dem abschliessen, was war.» Die harte Zeit habe auch ihre guten Seiten, sagt Estella. «Ich weiss jetzt, dass ich mein Leben selber in die Hand nehmen kann. Und ich hätte die tollen Menschen, die ich jetzt habe, nicht kennengelernt.»
Abirami sieht ihre Eltern ab und zu, doch die Beziehung ist heute nicht einfach entspannt. Es fiel ihr schwer, ihren Eltern von ihrem neuen Freund zu erzählen. Als sie ihren Vater zusammen mit ihrer Bezugsperson anrief, hängte er einfach auf. Dann rief er auf das WohngruppenTelefon zurück, schimpfte und verlangte Abiramis Bezugsperson ans Telefon. Er drohte: Wenn er sie nicht gleich sprechen könne, komme er vorbei. Als ihre Bezugsperson ihm schliesslich erzählte, was der Freund für ein Mensch sei, dass er zur gleichen Kaste gehöre, beruhigte er sich. Er lud seine Tochter mit ihrem Freund nach Hause ein. «Äääh, traue ich mich das? Zu meinen Eltern? Mit meinem Freund?» Seither laden sie ihren Freund zu Familienfeiern ein. Abirami ist erstaunt.
Estellas Freund wohnt auch hier in der Wohngruppe, sie lacht. «Das war eine Story!» Sie nimmt ihr Handy, in der Hülle eine Notiz von ihm, «Lieb di, du Fisch», und sucht nach einem Foto von ihm. «Ich glaube, das anständigste ist das.» Abirami: «Das habe ich gemacht.» Estella: «Ich weiss.» Sie habe immer Angst gehabt, an Männer zu geraten, die wie ihr Vater sind. Ihr Freund sei respektvoll und habe nie eine Grenze von ihr überschritten. «Für eine gesunde Beziehung, würde ich sagen, braucht es: Ehrlichkeit, Transparenz, Vertrauen und Kommunikation. Und man muss verstehen: Wie liebt der andere?» Von der Liebe kommen sie zum nächsten Thema. Abirami: «Ich möchte einmal eine Familie haben.» Estella: «Ich auch. Erst muss ich aber aufarbeiten, was ich erlebt habe.» Abirami: «Du hast ja noch Zeit. Als Mutter wäre ich so: Du willst länger raus? Ja, wir können über alles reden. Ist gut, du darfst.» Estella ging mal in die Psychotherapie. Gerade fehlt ihr die Zeit, eine*n neue*n Therapeut*in zu suchen. Seit sie nicht mehr zuhause lebt, habe sie schon viel über sich gelernt, wie sie funktioniere und welche Dinge eine Erinnerung an ihren Vater auslösen können. Zwei Stunden reden die Freundinnen mittlerweile. Sie habe Hunger, sagt Estella. Abirami: «Ich bin nicht angemeldet fürs Abendessen.» Estella: «Ah, du gehst noch raus?»
Dann fällt Estella noch was ein. Ein Mädchen aus ihrer Klasse trainiere «irgendwie sieben Mal pro Woche» und sage, ihr Mami dränge sie, sie müsse die ganze Zeit Hausaufgaben machen, sie dürfe nicht raus und dies und jenes nicht. «Sie sagt das nebenbei in der Pause, ich glaube, ihre Freund*innen merken nicht, was los ist. Und ich stehe daneben und denke: Ich weiss genau, wie es ihr geht.» Darauf ansprechen möchte Estella sie aber nicht. «Sie würde mir nicht sagen, dass es schlimm ist. Für sie ist es normal.»
Der Kantengänger
Kino Der Dokumentarfilm «Suspekt» von Christian Labhart über die Arbeit des Strafverteidigers Bernard Rambert präsentiert sich als gehaltvolle Mischung aus Gespräch und Schweizer Justizgeschichte.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
«Meine Rolle in einem Strafverfahren ist nicht, mich um das Opfer zu kümmern. Um das Opfer kümmert sich die Staatsanwaltschaft, die Opferanwältin, andere Institutionen. Das Opfer ist nicht auf sich allein gestellt. Der Täter hat mich», antwortet der Anwalt Bernard Rambert auf die Frage, ob er die Bedeutung einer Tat für das Opfer ausblende, wenn er Partei für eine*n Beschuldigte*n ergreife. Dieser Aussage schickt der Jurist in aller Deutlichkeit voraus, dass dies seine Empathie für das Opfer nicht einschränke. Das Gespräch führt Julia Klebs, Redaktorin der linken Zeitschrift Widerspruch. Diese will – so die Selbstbeschreibung – einen «Beitrag zur Wechselwirkung zwischen konkreten Kämpfen sozialer Bewegungen und theoretischer Gesellschaftskritik leisten». Dass Klebs ihr kontroverses Gegenüber zu Beginn die Rolle der Strafverteidigung klarstellen lässt, ist zentral, um dem weiteren Verlauf des Dokumentarfilms «Suspekt» möglichst unvoreingenommen folgen zu können. Gerade wenn es um prominente Fälle geht, macht es Sinn, daran zu erinnern, dass alle einer Tat Beschuldigten Anspruch auf einen Rechtsbeistand haben. Als Lai*in, beeinflusst von der Berichterstattung oder davon, wie sich Politiker*innen und Expert*innen in der Öffentlichkeit zu einem solchen Fall äussern, ist man oft versucht, sich vorschnell ein Urteil zu bilden. Und kann manchmal schwer nachvollziehen, wie sich jemand für mutmassliche Straftäter*innen einsetzen kann.
Bernhard Rambert verteidigte in den letzten fünf Jahrzehnten immer wieder auch Aktivist*innen und Mitglieder terroristischer Gruppen wie Walter Stürm, Marco Ca
menisch und Petra Krause, was ihm in den Medien den Titel «Terroristenanwalt» eintrug. Während vierzehn Jahren wurde er wegen seiner Kontakte zu aktivistischen Kreisen überwacht. Und er verteidigte mit Brian Keller denjenigen Straftäter, der in den letzten Jahren wohl am kontroversesten diskutiert wurde.
Im steten Wechsel zwischen inszeniertem Gespräch und Archivmaterial findet in Christian Labharts «Suspekt» eine Annäherung an den heute 78jährigen Zürcher Juristen statt, die an ein künstlerisches Werkporträt erinnert. Wobei hier anstelle von Werken juristische Fälle eingehend besprochen werden. Regisseur Labhart bettet das Engagement seines Protagonisten sorgsam ein in die grossen Themen der jeweiligen Zeit und stellt zugleich Verbindungen her zu den Werten und Ereignissen, die den Juristen geprägt haben: So erinnert sich Rambert, wie er als etwa 15Jähriger von seiner Mutter das Theaterstück «Antigone» von Jean Anouilh über den französischen Widerstand gegen die NaziHerrschaft in die Hand gedrückt bekam. Er habe seine Mutter immer als eine Rebellin wahrgenommen.
Das Recht als Reflexion über Gesellschaft
An diese Anekdote fügt sich nahtlos der Fall an, als Rambert zwei Frauen verteidigte, die am Frauenstreiktag 2020 an einer unbewilligten Demonstration in Basel teilgenommen hatten. Rambert setzte in seinem Plädoyer auf historische Bezüge und erklärt nun im Film, dass er aufzeigen wollte, für welche Rechte die Frauen gekämpft haben. Es folgen Archivaufnahmen vom Generalstreik von 1918 und
Früher war es der Vietnamkrieg, der Bernard Rambert, 78, geprägt hat. Heute beschäftigt ihn etwa die Besetzung des Bundesplatzes durch den Klimastreik.
von weiteren Frauenkundgebungen. Eine der Angeklagten im Verfahren zur unbewilligten Demo war die Schauspielerin und Regisseurin Anina Jendreyko, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit Fragen zu Machtverhältnissen in der Gesellschaft auseinandersetzt. Nach der Urteilsverkündung 2022 – die Frauen wurden nicht in allen Punkten schuldig gesprochen – zitiert sie einen Satz, der oft Bertolt Brecht zugeschrieben wird: «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.» Rambert antwortet mit dem deutschen Schriftsteller Alfred Andersch: «Viele Kämpfe sind vergebens, aber nie sinnlos.»
Juristische Kämpfe hat Rambert oft ausgefochten. Doch bis es so weit war, wirkten auf den angehenden Anwalt während des Studiums die gesellschaftlichen Kämpfe der 1960er und frühen 1970erJahre ein und formten sein Rechtsempfinden: der Vietnamkrieg, der Militärputsch in Chile 1973 oder die Bombenattentate von Neofaschisten in Italien. Nach dem Studium gründete Rambert Mitte der 1970erJahre ein Anwaltskollektiv, welches den Klient*innen Rechtsberatungen zu einem Honorar anbot, das sich an deren Einkommen anpasste. In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten vertrat er auch Menschen, denen schwere Straftaten vorgeworfen wurden. Etwa Marco Camenisch, militanter Gegner der Atomkraft, der für den Mord an einem Grenzbeamten 2004 zu siebzehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Rambert plädierte in diesem Prozess auf Freispruch und ist bis heute der Meinung, dass der Beweis für Camenischs Schuld nicht erbracht war. Eine Aussage, die im ersten Moment Unbehagen hervorruft – und darüber nachdenken lässt, was es alles braucht, um in einem Strafprozess eine unvoreingenommene Wahrheitssuche sicherzustellen. Würde Rambert auch einmal einen Fall wegen Bedenken ablehnen? Diese Frage wird im Film nicht gestellt. Gut möglich, dass seine Antwort Nein wäre. Weil jede*r Angeklagte das Recht auf eine Verteidigung hat. Ohne Wenn und Aber.
Versuchsanordnungen
Buch In ihrem Essay-Band «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» erkundet Tabea Steiner Leben und Schreiben.
Nach ihrem ersten, für den Schweizer Buchpreis nominierten Roman «Balg» (2019) und dem Roman «Immer zwei und zwei» (2023) hat die Autorin, Moderatorin und Literaturvermittlerin Tabea Steiner nun mit «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» einen Band mit Essays veröffentlicht. Nicht wenige dieser Texte, die von 2016 bis 2024 entstanden sind, hat sie in der verordneten Stille und Abschottung des CovidLockdowns geschrieben.
Stille ist in allen Texten spürbar. Und die Suche nach einer literarischen Form, mit der sich all das, was nebeneinander geschieht, fassen lässt. So sind diese Essays Versuchsanordnungen, mit denen die Autorin das Leben erkundet und zugleich die Möglichkeiten, darüber zu schreiben. Auch dort, wo Unsägliches verschwiegen wird und Sprachlosigkeit aus Schmerz entsteht.
Dabei verbindet sie oft scheinbar nicht Zusammengehörendes und schafft Verknüpfungen, die das Gewohnte in ein neues Licht rücken. Etwa wenn sie nächtliche Begegnungen mit Hirschen, die verkitschte, geschichtsklitternde FilmtheaterSissi und Gedanken zum Wesen der Fotografie zu einer TextCollage verschmilzt. Oder wenn sie ihren der Gesellschaft entfremdeten Grossvater neben den entwurzelten Alpöhi stellt. Und Heidi, die dem Alpöhi vorliest und den Geissenpeter unterrichtet, in Kindern von Migrant*innen spiegelt, die für ihre Eltern übersetzen müssen.
Andere Texte dieses vielschichtigen EssayBandes befassen sich mit dem letzten, berührenden Besuch bei der Grossmutter, mit Missionaren und dem Kolonialismus oder dem Beobachten und BeobachtetWerden. Sei es, dass sie via Webcam Falken beim Brüten folgt, wobei ein Fernsehteam die Autorin wiederum beim Schreiben über das Beobachten dieser Falken filmt. Oder dass sie aus den Fenstern ihrer Zürcher Wohnung heraus auf die diversen sozialen Schichten blickt und dabei als Mieterin im EG selbst zum Schauobjekt von Passant*innen wird.
Auch viel Persönliches und Schmerzliches ist dabei, bis hin zum nahezu Unsagbaren. Dann, wenn sie über ihren nicht erfüllten Kinderwunsch schreibt, über die gravierenden Krankheitsfälle in ihrer Familie oder über die Schrecken des Warschauer Ghettos und des armenischen Genozids. Dann pendeln die Texte zwischen der Furcht, Dinge auszusprechen, weil sie dadurch erst wahr zu werden drohen, und der Hoffnung, Begriffe zu finden, die den Ängsten einen Namen geben und dazu befähigen, davon zu erzählen.
CHRISTOPHER ZIMMER
«Suspekt», Christian Labhart, Dokumentarfilm, CH 2025, 82 Min. Läuft zurzeit im Kino.
Tabea Steiner: Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat.
Essays. Edition Bücherlese 2024
CHF 29.90
Veranstaltungen
Aarau
«Modell Neutralität», Ausstellung, bis So, 11. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Gratiseintritt Do 17 bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch
Aktuelle Kriege inner- und ausserhalb Europas entfachen Diskussionen rund um den Grundsatz der Neutralität neu. Das Thema ist ein spezifisch schweizerisches, eng verbunden mit der Konstruktion eines nationalen Selbstverständnisses. Die Schweiz sieht sich jedoch zunehmend gezwungen, Position zu beziehen in einer Welt, die von Konflikten durchdrungen und zunehmend destabilisiert ist. Entsprechend intensiv wird das Modell Neutralität zurzeit aus völkerrechtlicher, historischer, politischer und ethischer Sicht diskutiert. Und jetzt: Was tun Kunstschaffende hiermit? Ihre Aufgabe ist ohnehin, alte Gewissheiten infrage zu stellen. Das passt. Das Aargauer Kunsthaus gibt vierzehn Kunstschaffenden eine Plattform, über die Neutralität nachzudenken. Dabei darf man daran denken, dass auch Kunsthäuser nie neutrale Orte sein können. Auch Bibliotheken nicht, Bildungs- oder Erinnerungsinstitutionen nicht. Auch Sprache ist es nicht. Ihre vermeintliche Eindeutigkeit nährt aber oft den Eindruck, es gäbe nur einen Weg, die Welt wahrzunehmen und sie zu verhandeln. Man kann diese Liste der Themenfelder, in denen sich die Frage der Neutralität auf spannende – und oft überraschende – Art stellt, noch lange weiterführen. Was heisst: «Neutralität» klingt ein bisschen langweilig, gibt aber viel her. Auch Zündstoff für kontroverse Diskussionen. DIF
Bern
«Koste es, was es wolle», Theater, Mi, 5. und Do, 6. März, Do, 13. und Fr, 14. März, jeweils 20 Uhr, Sa, 15. März, 18 Uhr mit Kinderbetreuung, Schlachthaus Theater, Rathausgasse 20. schlachthaus.ch
und ihre Attraktivität via das Produkt ihrer Wahl. In der realen Welt lebt allerdings jede zehnte Person in der Schweiz in einem Haushalt, der es schwer hat, über die Runden zu kommen. Und nach wie vor sind Frauen in der Schweiz davon stärker betroffen als Männer. «Koste es, was es wolle» ist ein Stück über Wünsche – erfüllte und unerfüllte –und damit letztlich auch über das Prekariat in der Schweiz. Fünf Frauen, eine alleinerziehende Mutter, eine Rentnerin, eine Ausreisserin und zwei Angestellte eines Supermarktes sind die Protagonistinnen in einem bewegten, poetischen Reigen zwischen Früchtestand und Toilettenartikeln. DIF
Bern
«Vom Glück vergessen –Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz», Ausstellung, bis Januar 2026, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Bernisches Historisches Museum, Helvetiaplatz 5. bhm.ch
Wir alle betreten fast täglich einen Supermarkt. Wir bewegen uns vom Eingang durch die Gänge zwischen den Regalen und nehmen uns die Dinge, die wir gerade brauchen oder möchten. Der Supermarkt bildet dabei moderne menschliche Bedürfnisse, aber auch ethische Vorstellungen ab, von der exotischen Frucht über das probiotische Joghurt, das Freiland-Poulet, das plantbased Hackfleisch und die Budgetschokolade bis zum recycelten Toilettenpapier. In den Produkten stecken Wertehaltungen, und in der Welt der Werbung können die Konsument*innen da besonders frei wählen: Sie greifen zu Glück, zu Schönheit oder Gesundheit. Sie zelebrieren ihr Begehren
verstärkt ihre Stimme. Dass ihnen Unrecht geschah, wird heute endlich offiziell anerkannt. Die Geschichten der Opfer kann man nicht genug präsent halten: Die Ausstellung in Bern stellt fünf Betroffene ins Zentrum, Hörspiele und Archivdokumente erzählen ihre Geschichten. In einer Installation stehen 10 826 weisse Punkte für die Anzahl Menschen, die bis im Sommer 2024 vom Bund einen Solidaritätsbeitrag als Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts erhalten haben. 291 Punkte wurden von Hand mit Namen von Betroffenen beschriftet – durch die Personen selbst, durch Angehörige oder durch das Museumsteam –und stehen so für einzelne Schicksale. Eine Veranstaltungsreihe mit wechselnden Gästen greift Aspekte rund um die Ausstellung an vier Abenden im April und Mai auf (30. Apr., 7., 14., 21. Mai). DIF
St. Gallen
«Atiéna R. Kilfa. Wonder Lust», Ausstellung, bis So, 6. Juli, Mo bis Sa, 13 bis 20 Uhr, So 11 bis 18 Uhr, LOK, Grünbergstrasse 7. kunstmuseumsg.ch
Das Unrecht ins kollektive Gedächtnis holen und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber führen: Das ist das, was wir heute noch tun können. Bis in die 1970er-Jahre waren in der Schweiz zehntausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen: fremdplatziert, verdingt, entmündigt, in Anstalten versorgt. Sie kamen aus schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Ihre Armut oder ihre von bürgerlichen Normen abweichende Lebensweise galt als Grund für massive Eingriffe und repressive Massnahmen. Seit einigen Jahren erheben Betroffene nun
Die französische Künstlerin Atiéna R. Kilfa reflektiert in ihrer neuen Videoarbeit die Romantisierung imperialistischer Konventionen. An eine Wand projiziert zeigt die Videoarbeit «Landfall» einen Panoramablick über eine scheinbar weite Landschaft, welche von einer «Rückenfigur» betrachtet wird: einer Figur von hinten, die ihrerseits eine oftmals dramatische Landschaft betrachtet. Bei Kilfa kriegt diese Figur allerdings nicht viel Grossartiges zu sehen, sondern bloss eine Maquette, ein Modell. Das heldenhaften Set-up fällt damit in sich zusammen. Oder da ist dieses Filmstill der Augen, in denen sich die Landschaft spiegelt. Dazu eine Windmaschine, die die Illusion von Windgeräuschen erzeugt. Wir merken: Kilfa beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit filmischen Archetypen und der Konstruktion von Bildern im Film. Und lädt uns zum Nachdenken darüber ein, wie die Bildproduktion auch Zeugnis von Zeit und Ideologien ablegt. DIF
Pörtner im Westside, Bern
Surprise-Standorte: Westside
Einwohner*innen: 136 988
Sozialhilfequote in Prozent: 5,1
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 25,5
Vorgeschichte: 1972 wurde hier zum ersten Mal ein Freizeitund Einkaufszentrum geplant, weitere Projekte folgten und scheiterten. 2008 wurde das Westside eröffnet.
Einkaufszentren, insbesondere Einkaufszentren dieser Grösse, strahlen etwas grundsätzlich Optimistisches aus. Welten, in denen es keine Probleme (und keinen Online-Handel) gibt. Aufgesucht werden sie, um Bedürfnisse zu befriedigen oder Wünsche zu erfüllen. Diese müssen nicht einmal materieller Natur sein, hier gibt es eine Bäderwelt mit Fitnesscenter und ein Adventuredome, Orte, an denen man dem Alltag entfliehen oder sich für denselben stärken kann. Dieser Komplex verfügt zudem über ein Multiplex-Kino; eine Wohnsiedlung und eine private Seniorenresidenz sind angeschlossen. Wer nicht hier wohnt und trotzdem nicht mehr nach Hause will, kann im zentrumseigenen Hotel übernachten. Zu kaufen gibt es so ziemlich alles, was man braucht. Schwer-
punkt bilden Mode und Schuhe. «Sale» ist überall gross angeschrieben, passend zur Ausverkaufssaison. Ein Sportgeschäft schliesst für immer, ein Räumungsverkauf, der unangenehm daran erinnert, dass auch in dieser Welt nicht immer alles so läuft, wie es soll. Allerdings hat die Schliessung nichts mit dem Standort zu tun, die ganze Kette wird aufgelöst. Die Konkurrenz, die damit etwas zu tun haben könnte, ist auch schon da. Ausverkaufsfördernde Strandliegen stehen bereit, etwas zur Unsaison, es findet sich aber bestimmt auch ein Reisebüro, das Wärmebedürftige in die entsprechenden Klimazonen bringt. Das Einkaufszentrum erstreckt sich über die Autobahn, ist aber auch mit dem öffentlichen Verkehr gut erreichbar, das Tram hält vor dem Haupteingang. Ein Bild-
schirm gibt Auskunft über die nächsten Verbindungen zurück in den Alltag. So gross ist das Ganze, dass an einer Wand ein Plexiglasmodell hängt, an dem die verschiedenen Bereiche in unterschiedlichen Farben dargestellt sind. Verirren kann man sich trotzdem, sieht aber auch den Himmel, der blau hinter der Glasdecke leuchtet.
Wie schnell man sich hier vergisst, erfährt ein Mann, der seine Handtasche an der Stuhllehne am Tisch einer Verpflegungsstätte hängen lässt und sie wenig später mit grosser Erleichterung wieder abholt. Sie war noch immer am selben Ort. Das Publikum ist an diesem Mittwochnachmittag nicht allzu zahlreich erschienen, neben den obligaten Mallrats, Gruppen von Jugendlichen, die hier ihre Freizeit verbringen, setzt es sich vor allem aus Müttern mit kleinen Kindern, vereinzelt sogar ganzen Familien sowie Rentner*innen zusammen. Im Gegensatz zu Wochenenden ist die Gangart gemütlich, die zu tätigenden Einkäufe unterliegen keiner grossen Dringlichkeit. Der Showroom einer unbekannten Automarke wird heute kaum Umsatz machen. Für die Heimunterhaltung stehen ein Game Shop und eine Buchhandlung bereit, auch die elektronischen Geräte finden sich. Möbel allerdings nicht, die Möbelzentren sind eine Welt für sich, ein paar Autobahnkilometer entfernt. Dafür gibt es einen Foodcourt, ein medizinisches Zentrum und einen Fanshop der lokalen Fussball- und Eishockeymannschaften. Sollte man zu begeistert sein von den vielen Sonderangeboten, steht auch die Bankfiliale bereit, bei der ein Kredit aufgenommen werden kann.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Tour de Suisse
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Neurofeedback-tzk.ch, Kirchberg SG
TYDAC AG, Bern
CPLTS GmbH
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken
Holzpunkt AG, Wila
InhouseControl AG, Ettingen
ZibSec Sicherheitsdienst, Zürich
Mach24.ch GmbH, Dättwil
Martina Brassel - Grafik Design, Zürich
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Praxis Carry Widmer, Wettingen Indian Summer AG, 8804 Au ZH
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
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Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Merima Menur kam 2016 zu Surprise –durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt –er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 41-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen. Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Ralph Schlatter, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Irina Feller, Nicolas Gabriel, Lorena Mayer, Annick Ramp, Paula-Sophia Wollenmann
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#588: «Ich habe keine An g st» «Kaufe gerne wieder»
Kürzlich habe ich einmal wieder das Surprise gekauft und war sehr angenehm überrascht über die frischen und aktuellen Textbeiträge. Früher hatte ich, obwohl studiert, echt Mühe mit den viel zu fundamentalistischen Texten, die kaum zu verstehen waren. Jetzt kaufe ich gerne wieder das eine oder andere Heft.
GERDA GÖBEL-KELLER, St. Gallen
#Strassenma g azin Verkäufer geehrt
Ende Januar gab es eine Überraschung für den Basler SurpriseVerkäufer Werner «Elvis» Hellinger: Der Filialleiter von Coop City am Marktplatz hatte auf eigene Initiative hin einen edlen Aufsteller für den Strassenzeitungsverkäufer produziert –und persönlich überreicht. Hellinger freut sich, so viel Wertschätzung sei schon etwas Besonderes. Nun gehört er offiziell dazu, sagt das Schild und damit der Filialleiter, mit dem Hellinger seit langem immer mal wieder ein Schwätzchen hält. Wir gratulieren!
DIE REDAKTION
#590: Kleine Schätze «Gute Taten»
Diese Ausgabe hat mir sehr gefallen. Die persönlichen Geschichten haben mich berührt, gefreut und auch kulturell weitergebildet. Wenn ich über gute Taten lese, da wird mir immer klar, dass auch ich noch einen grösseren Betrag leisten könnte. Die traurigen Zustände in dieser Welt – darüber zu lesen fällt mir schwer, weil sie mich energiemässig herunterziehen. Das kann ich nur in kleinen Portionen verdauen ... wenn überhaupt.
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Surp rise-Porträt
«Es fehlt eine starke Lobby im Parlament»
«Ich habe mich vor gut zehn Jahren bei Surprise für den Heftverkauf gemeldet, weil ich unbedingt von der Sozialhilfe wegkommen wollte. Einige kleinere Jobs wie Zeitungen austragen in Thun und Bern hatte ich schon, aber es reichte noch nicht. Seither ist viel gegangen, Surprise verkaufe ich aber nach wie vor, und zwar im Berner Hauptbahnhof mitten im Strom der Menschen, die von den Perrons kommen oder auf den Zug wollen. Was andere stresst, ist für mich wie Meditation. Während ich darauf warte, das nächste Heft zu verkaufen, denke ich ein bisschen nach, überlege, was ich noch zu erledigen habe, welches meine nächsten Termine sind.
Mein Kalender ist in der Regel ziemlich voll. Zu den fixen Terminen gehören so zwei bis vier Soziale Stadtrundgänge pro Woche. Ich führe in Bern zwei Touren, ‹In der Armutsfalle› und ‹Wege aus der Sucht›. Dabei stelle ich den Leuten verschiedene Institutionen vor und erzähle von meinen Erfahrungen mit Armut und Sucht.
Ich habe Automech gelernt und bin über den Militärdienst zum Lastwagenfahren gekommen. In Thun, wo ich herkomme, habe ich lange bei einem grossen Bauunternehmen gearbeitet. Ich fing als Lastwagenchauffeur an, wechselte zehn Jahre später in die Disposition und wurde schliesslich zum Abteilungsleiter befördert. Eines Tages wurde in meinem Team eine Stelle gestrichen und wir mussten zu zweit bewältigen, was wir vorher zu dritt erledigt hatten. Trotzdem wollte ich weiterhin mein Bestes geben, war meistens bis spät am Abend erreichbar und gab alles. Doch irgendwann schaffte ich es nicht mehr. Ich fing an, den Stress und den Frust über das Unerledigte mit Alkohol runterzuspülen. Zuerst nur am Feierabend, mit der Zeit dann auch während der Arbeit. Als in jener Zeit noch mein Vater starb und die Beziehung mit der Freundin in die Brüche ging, stürzte ich endgültig ab.
Meine Arbeitgeber bemühten sich am Anfang und halfen mir, eine Therapie zu finden. Aber ich schaffte es einfach nicht, mit dem Trinken aufzuhören. Sicher fünf Jahre waren schliesslich geprägt von Entzügen, Klinikaufenthalten und Rückfällen, bis ich endlich wieder Tritt fassen konnte. Aber bis heute bin ich nicht ‹safe›. Ich sage immer, wenn ich zu viel Stress habe, ist der Weg zum Denner nicht weit. Das ist der Grund, weshalb ich nicht mehr einen ‹klassischen Job› machen kann und bis heute ohne Sozialhilfe nicht durchkäme. Für mich ist es am besten, wenn vier Faktoren erfüllt sind: Ich brauche eine Tagesstruktur, genug Büez, mein familiäres Umfeld muss stimmen, ebenso die Wohnsituation. Für mich ist es am besten respektive am sichersten, in einem betreuten Wohnen zu leben.
Neben dem Heftverkauf und den Sozialen Stadtrundgängen haben sich in den letzten Jahren immer wieder neue soziale Pro-
André «Ändu» Hebeisen, 56, macht verschiedene Touren der Sozialen Stadtrundgänge und verkauft Surprise im Gewusel des Berner Hauptbahnhofs.
jekte ergeben wie Vorträge an Schulen halten oder mein Engagement im Rat für Armutsfragen. Das ist ein sehr wichtiges Projekt, das die Berner Fachhochschule im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen erarbeitet hat und das hoffentlich bald umgesetzt wird. Denn den von Armut Betroffenen fehlt eine starke Lobby im Parlament. Heute sind acht Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen und weitere fünfzehn Prozent armutsgefährdet. Da muss sich in meinen Augen unbedingt etwas ändern in der Schweiz. Der Graben zwischen Arm und Reich ist viel zu gross und wird immer grösser.
Ich selbst kann normalerweise gut damit umgehen, dass ich über wenig Geld verfüge. Schliesslich habe ich genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Was mir aber an die Substanz geht: Wenn ich zum Beispiel mal aus Bern raus möchte, zwischendurch eine Luftveränderung brauche – so ein Tagesausflug ins Wallis oder ein Wochenende im Tessin, das liegt bei meinem schmalen Budget einfach nicht drin.»
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
BETEILIGTE CAFÉS
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