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Buch
CINEWORX BILDER:
60-jährige Mutter sich selbst spielte. «Meine Arbeit hilft mir, meine Vergangenheit zu reflektieren, anders darüber nachzudenken und ein neues Narrativ zu entwickeln. Jede Erinnerung ist gleichzeitig auch eine Fiktion.»
Auch in «Petite Nature» ist die Mutter spürbar präsent. Ebenso die abwesende Vaterfigur, die durch den Lehrer Jean ersetzt wird. Zu ihm baut Johnny ein enges Vertrauensverhältnis auf, das an die für Jean verantwortbaren Grenzen geht. Denn Johnny klopft abends an seine Tür, weil er nicht nach Hause will und nicht weiss, wohin er sonst gehen soll. «Mich interessiert die Frage, wie weit eine Lehrperson gehen kann, um ein Kind zu unterstützen», sagt Samuel Theis. Es erscheint als grenzüberschreitend, als Jean den Jungen auf seinem Motorrad nach Hause fährt und dieser sich im Fahrtwind eng an ihn klammert.
Im Verlauf des Filmes entwickelt Johnny gar Gefühle für seinen Lehrer, versucht sich ihm körperlich zu nähern, worauf ihn Jean schockiert zurückweist. Der junge Protagonist scheitert beim Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der er sich sehnt. Allerdings fällt die sexuell aufgeladene Annäherung etwas aus der Reihe des ansonsten subtil angelegten Filmes. Es stellt sich die Frage, ob dieser Schwenk notwendig war, er nimmt dem eigentlichen Thema Schlagkraft. Denn letztlich ist es die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, die den Film so sehenswert macht; die spürbaren gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber der alleinerziehenden Mutter und der prekarisierten Familie; die kleinen und grossen Ungerechtigkeiten, die zu so hohen Mauern werden, dass sie unüberwindbar scheinen. All dies findet in der Figur von Johnny, der an diesen Mauern scheitert und nicht zu träumen wagt, beklemmende Zuspitzung.
«Petite Nature», Regie: Samuel Theis, Drama, F 2021, 93 Min. Läuft ab 7. April im Kino.
Erzähltheater auf Papier
Buch In «Säwentitu» blickt Bea von Malchus mit ihren eigenen Teenager-Augen auf das Lebensgefühl des Jahres 1972.
«Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?», fragte einst der Philosoph Richard David Precht. Was die Regisseurin und Schauspielerin Bea von Malchus betrifft, so ist sie «sehr viele». In ihren solistischen, wortgewaltigen und humorgetränkten Erzähltheatern schlüpft sie in eine halbe Legion von Figuren. Mal ist sie die Kennedys oder die Nibelungen, mal Mark Twain, Elisabeth I. oder Heinrich VIII., mal spielt sie sich durch das Personal der Bibel oder von Shakespeare. Um nur einige der vielen zu nennen.
Dann kam die Pandemie, und es hatte sich mit den vielen. Sowohl auf der Bühne als auch im Publikum. Also machte Bea von Malchus aus der Not eine Tugend, nutzte die Zeit, schrieb ein Appetit- und Lachmuskel-anregendes Kochbuch und schlüpfte schliesslich literarisch in eine weitere Figur: sie selbst als 13- bis 14-Jährige. Nicht nur als ein Stück Biografie, sondern als ein weiteres Erzähltheater, eines auf Papier.
Der Titel des Stücks: Säwentitu. Ort der Handlung: Dortmund, die kohlenverstaubte Stadt im Ruhrgebiet. Zeit der Handlung: das Jahr 1972. Die Zeit von IRA und RAF, von Olympia-Attentat und Vietnam-Krieg, von Willy Brandt, Nixon und Mao. Vor diesem Zeitpanorama entfaltet sich das Leben der Heranwachsenden mit den alterstypischen Problemen in der Schule, mit dem eigenen Körper, dem Sichselberfinden, mit Tanzstunde und Zungenkuss. Und ein Familienkosmos mit allerlei schrägen Figuren. Dem schüchternen Vater, einem Kettenraucher mit Kriegstrauma und Notvorratskeller, der lauten, dauerpolitisierenden und meinungsdominanten Mutter, beide studierte Volkswirt*innen mit Hang zur Dauerpleite. Oder der komplett wahnsinnigen Ilse, die aus Norwegen in die Wohnung schneit und Zigarren, Alkohol und Männer konsumiert.
Auf diese Zeit blickt Bea von Malchus mit ihren eigenen Teenager-Augen, und dabei wird jede Erinnerung zum Sprungbrett für liebevolle, poetische, politische, bissig-witzige und auch traurige Gedanken. Über einen Jahreszyklus hinweg, von Winter zu Winter, reihen sich viele kleine Geschichten aneinander, farbige Miniaturszenen auf der Lebensbühne, die es verstehen, ein Lebensgefühl einzufangen. «Manchmal bin ich krank nach diesem Leben, das in den Himmel reichte und alles mit goldenen Fäden verband», schreibt sie einmal. Denn in diesem Lesevergnügen steckt auch viel Sehnsucht nach etwas, das so nie wiederkehrt. Man möchte viele Stellen laut lesen – oder sich von Bea von Malchus vorlesen lassen. Was zum Glück inzwischen wieder möglich ist. CHRISTOPHER ZIMMER
ZVG
FOTO:
Bea von Malchus: Säwentitu.
EUR 25 + Porto beavonmalchus.de/saewentitu