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Christopher Zimmer
E = mg²
TEXT CHRISTOPHER ZIMMER
Als Jakob Brunner sich in den Ruheverstand versetzt sah, machte er sich sogleich daran, ein zwar schon lange angedachtes, aber ebenso lange ungewisses, dank den neuen Lebensumständen nun doch noch möglich gewordenes Projekt zu realisieren, dessen erklärtes Ziel es war, mithilfe der von ihm über die Jahre entwickelten Formel E = mg2 (Energie = Mensch x Geist im Quadrat) die Grenzen der Physik, denen er aufgrund ihrer Ausschliesslichkeit mit zunehmender Skepsis begegnete, in allen drei Aggregatzuständen – fest, flüssig und gasförmig – zu überschreiten. Auch wenn er selber nur wenige Notizen hinterliess, so lassen sich die Ereignisse, von denen hier berichtet wird, doch aufgrund des öffentlichen Interesses und dem daraus resultierenden Archivmaterial nicht nur rekonstruieren, sondern auch, allen Anfechtungen zum Trotz und den Intentionen ihres Urhebers getreu, belegen.
Phase 1 – fest. Am 14. August 2012, einem Dienstag, verschwand Jakob Brunner im Alter von 65 Jahren um 12.26 Uhr beim Überqueren des Steinenrings an der Kreuzung Schützenmatte in einem Spalt, der sich in der Mitte des Zebrastreifens unter ihm auftat und sich sogleich wieder über ihm schloss. Dieses Ereignis trug sich so schnell zu, dass Passanten und Autofahrer, die das Vorkommnis bemerkten, mit einiger Verspätung reagierten, dann aber sogleich stehenblieben bzw. an den Strassenrand fuhren und erst zögerlich, endlich aber lebhaft den Vorfall zur Sprache brachten. Durch polizeiliche Ermittlungen konnten der genaue Sachverhalt und die Identität des so Verschwundenen zwar festgestellt werden, doch ergaben Grabungen keinerlei Hinweise auf etwaige seismische oder mutwillige Bewegungen des Bodenmaterials, geschweige denn auf den Verbleib des der Gesellschaft tatsächlich abhanden Gekommenen, der in der unmittelbar folgenden Zeit und auch in den kommenden Jahren weder in seiner Wohnung noch an von ihm privat bevorzugten Örtlichkeiten gesehen wurde. Nach eingehender, alle Möglichkeiten in Betracht ziehender Erörterung gab man derjenigen Theorie den Vorzug, die das Vorgefallene als ein gross angelegtes Täuschungsmanöver interpretierte, als ein nur vorgetäuschtes Geschehen mittels illusionistischer Fertigkeiten, als deren Urheber man den Verschwundenen selbst eruierte. Obwohl von dem so festgestellten Täter zu keiner Zeit und von keiner Person jemals solcherlei Fähigkeiten oder Vorlieben berichtet worden waren und als Motiv für ein derartiges Unterfangen auch keine Ungeregeltheiten in seinem vormaligen Berufs- oder damaligen Privatleben, denen er sich etwa durch eine solcherart verschleierte Flucht zu entziehen gehabt hätte, belegt werden konnten, sahen sich die Ermittler dazu veranlasst, gegen den Obengenannten Anklage wegen Irreführung der Behörden sowie Gefährdung der Verkehrssicherheit durch eine unzulässige bzw. genehmigungspflichtige Veranstaltung zu erheben. Dennoch musste der Fall, der immerhin in der Öffentlichkeit und den Medien einiges Aufsehen erregt hatte, von den ermittelnden Behörden schliesslich ad acta gelegt werden, und das Ereignis geriet in Vergessenheit, bis Jakob Brunner drei Jahre später, wieder um 12.26 Uhr, am 14. August 2015, einem Freitag, in einer am ehesten als Spiegelung des Ereignisses zu beschreibenden Abfolge – Öffnen des Spaltes, umgepolte Bewegung an die Oberfläche, Schliessen des Spaltes, verzögerte Reaktion der Verkehrsteilnehmer – wieder auftauchte. Der ergebnislosen Einvernahme Jakob Brunners auf der Kantonspolizei folgte die Überweisung in die Psychiatrische Universitätsklinik Basel. Den Aufzeichnungen des behandelnden Arztes ist lediglich zu entnehmen, dass Jakob Brunner mehrfach entschieden darauf bestanden habe, nach wie vor nicht älter als 65 Jahre zu sein, da die Zeit seiner Abwesenheit, wie er betonte, nicht angerechnet werden könne. Da keine weiteren Auffälligkeiten festzustellen waren, wurde Jakob Brunner nach einigen Tagen, nicht zuletzt auch aus versicherungstechnischen Erwägungen, aus der Psychiatrischen Klinik entlassen, was aber, wie es sich zeigte, sogleich zur Realisierung von Phase 2 führen sollte.
Phase 2 – flüssig. Am 21. August 2015 wurde am dicht besetzten Strand von Rimini ein Mann gesehen, der zwei hölzerne Balken auf der Schulter balancierte und zum Erstaunen und Ergötzen des Publikums in voller Bekleidung auf das Meer zusteuerte, um dort bis zu den Knien in dieses hineinzuschreiten, während sich eine anwachsende Traube von Menschen verschiedensten Alters und unterschiedlichster Herkunft sammelte, die dem Geschehen mit gezückten Smartphones und anfeuernden Rufen beiwohnte, wobei die Redensart, dass Wasser keine Balken habe, schon bald in zahlreichen Sprachen die Runde machte und einiges an Spott und Gelächter hervorrief. Doch der Mann – der in der Folge aufgrund der Fotografien und Videos, die noch lange auf Instagram, YouTube und anderen Plattformen kursierten und beeindruckend hohe Zugriffszahlen erzielten, zweifelsfrei als Jakob Brunner identifiziert werden konnte – Jakob Brunner also reagierte weder auf die Kommentare der Zuschauenden noch liess er sich in irgendeiner Weise von seinem Vorhaben abbringen, das, einmal begonnen, das Verhalten aller Anwesenden erst bis ins Tumultuarische steigerte, um dann in allgemeines Verstummen zu münden, als er einen der beiden Balken auf das Wasser legte und auf diesen stieg, wobei dieser Balken, obwohl doch offensichtlich viel zu kurz, um das Gewicht des auf ihm Stehenden tragen zu können, keineswegs unterging oder auch nur unter die Wasseroberfläche tauchte, worauf Jakob Brunner gewissermassen trockenen Fusses bis an dessen Ende vorwärtsschritt, ohne dass der Balken nun aus dem Gleichgewicht gebracht worden wäre, um von dort aus den zweiten Balken direkt an den ersten anschliessend auf die Wasseroberfläche zu legen und auf diesen hinüberzuwechseln. Alles Weitere geschah dann mit solcher Selbstverständlichkeit, dass die am Strand Zurückgebliebenen noch lange schweigend
zusahen, wie Brunner aus nichts als diesen beiden Balken eine sich nahtlos reihende Strecke legte, auf der er sich immer weiter von der Küste entfernte, bis er am Horizont allen Blicken entschwand. Auch nach diesem Ereignis verliefen wie schon bei Phase 1 die Ermittlungen im Sande und konnten, da sie nicht über blosse Vermutungen hinausgelangten, wiederum nur ad acta gelegt werden. Dennoch sahen sich die Behörden schon bald dazu veranlasst, in öffentlichen Aufrufen dringend von weiteren Nachahmungsversuchen abzuraten, da etliche Personen, die sich einer unter dem #WasserHatBalken ins Leben gerufenen Challenge angeschlossen hatten, nur knapp vor dem Ertrinken gerettet werden konnten, als sie in immer gewagteren Aktionen, selbst bei hohem Wellengang, dem Vorbild von Jakob Brunner nacheiferten, dessen Act bereits nach kurzer Zeit einen Hype auslöste und mit T-Shirts, Tassen und Tattoos gefeiert wurde, bis einige Monate später Phase 3 die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zog.
Phase 3 – gasförmig. Am 31. Dezember 2015, nur wenige Minuten vor dem Jahreswechsel, erregte mitten auf dem New Yorker Times Square an der Kreuzung Broadway und Seventh Avenue ein Mann mit einem durchaus gelungenen, wenn auch auf den ersten Blick nicht aussergewöhnlichen, allerdings aufgrund von Ort und Zeitpunkt doch eher deplatzierten Handstand die Aufmerksamkeit der unmittelbar Umstehenden. Doch zog er schon bald auch die Blicke des bei der jährlichen Silvesterparty anwesenden Millionenpublikums auf sich, da ein in der Nähe filmendes Kamerateam die nun folgende Aktion – bei der es sich, wieder belegt durch in diesem Fall noch zahlreichere Aufzeichnungen, zweifelsfrei um Phase 3 des Brunnerschen Projektes handelte –, da also dieses Kamerateam die Aktion festhielt und, der dem Gespür der Redaktion für das Sensationelle, ja geradezu Ikonische des Geschehens zu verdankenden Entscheidung folgend, sogleich auf den sich über dem Verlagsgebäude der New York Times befindlichen Riesenbildschirm von News Corp. übertrug. Von dort aus wurde das Ereignis nicht nur für alle Anwesenden weithin sichtbar, sondern auch weltweit übertragen, und es wurde auch nicht unmittelbar von anderen Einblendungen bereits dafür vorgesehener Prominenz verdrängt, sondern konnte seinen Sendeplatz behaupten, was, gemessen am Fortgang des Ereignisses, durchaus nachvollziehbar erscheint, wobei hier nicht verschwiegen werden soll, dass dieser Fortgang trotz der nicht zu leugnenden Fakten unbegreiflicherweise im Nebulösen geblieben ist. Sicher zu gewährleisten ist nur das unmittelbar darauf Folgende, dass nämlich Jakob Brunner nun eine seiner Hände vom Boden löste und also seinen Handstand nur noch auf einer Hand ausführte, was zu Ausrufen der Bewunderung und zu einem rhythmischen, anfeuernden Klatschen führte, das von den direkt um ihn herum Stehenden wie von einem Epizentrum aus bald die ganze, den Times Square dicht an dicht füllende Menschenmenge erfasste. Als Jakob Brunner dann, was zwar unglaublich erscheinen mag und nun doch aussergewöhnlich genannt werden muss, auch noch vier Finger dieser Hand abspreizte und nur noch auf einem seiner Zeigefinger stand, just in dem Augenblick, als der Countdown hin zum Jahreswechsel angestimmt wurde, millionenfach aus den Mündern der anwesenden Masse, da verband sich dieser scheinbar circensische Akt mit eben jenem Countdown, als wäre dieser allein für ihn gemeint, auch noch als die letzte Ziffer Eins in den allgemeinen Jubel überging, dessen Nachhall bereits ins neue Jahr 2016 ausklang, während sich alle in den Armen lagen und in Küssen vereinten, auch das Kamerateam, weshalb die letzte Steigerung von Phase 3 nur noch von einer wackligen TV-Kamera in verwischten Bildern festgehalten wurde und deshalb in der Folge von Medien, Politikern und Experten wiederholt in Zweifel gezogen und als Ausgeburt einer allgemeinen Hysterie dargestellt wurde. Nur wenige sind nicht davon abzubringen, dass die unscharfen Bilder das, was sich tatsächlich abgespielt hat, auch wirklich wiedergeben, nämlich dass Jakob Brunner auch noch den Zeigefinger angehoben und daraufhin sich gänzlich vom Boden gelöst habe und immer höher gestiegen oder gefallen sei – diesbezüglich kursieren auch in der Schar der Bekennenden abweichende Meinungen –, über die feiernde Menge hinaus und von dort aus höher als die angrenzenden Wolkenkratzer und selbst als die höchsten Gebäude dieser gigantomanischen Metropole und immer weiter, hinein in den nächtlichen Himmel und das vom Lichtsmog verschleierte Strahlen der Gestirne, um dort sein Projekt durch die konsequente Ausführung von Phase 3 abschliessend und alles Weitere erübrigend zu vollenden.
CHRISTOPH ZIMMER, geboren 1959 in Aachen, ist in Deutschland und der Schweiz aufgewachsen und lebt in Basel. Er schreibt Fantasy-Romane und Geschichten für Gross und Klein. Mit seinem ersten Fantasy-Roman gewann er den Wolfgang-Hohlbein-Preis.
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