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Obdachlose erringen Etappensieg
Entkriminalisierung Aktivist*innen für die Rechte von Obdachlosen haben die Stadt San Francisco verklagt und gewonnen. «Unfreiwillig Obdachlose» dürfen vorerst nicht mehr drangsaliert werden, so das Urteil.
Ein Zusammenschluss aus Anwält*innen vom «Lawyers’ Committee on Civil Rights (LCCR)» und den Bürgerrechtsorganisationen «American Civil Liberties (ACLU)» sowie «Coalition on Homelessness» haben die Stadt und das County San Francisco vor Gericht gezogen: Die Kläger*innen warfen den Behörden vor, Obdachlosigkeit wie eine Straftat zu behandeln. Der leitende Anwalt Zal Shroff und seine Kollegin Hadley Rood von der University of California in Berkeley sowie Obdachlosigkeitsaktivist und Mitkläger Toro Castano berichten im Podcast der dortigen Strassenzeitung Street Sheet, warum es einen Kurswechsel brauchte.
Zal Shroff: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was die Stadt verspricht und dem, was tatsächlich getan wird. Der Öffentlichkeit wird vermittelt, San Francisco verhalte sich progressiv. Die Stadt reklamiert für sich eine «Service-First»-Haltung und behauptet, dass jeder, der Leistungen oder Obdach benötige, diese auch erhalte. Zudem wird argumentiert, dass Personen, die weiterhin auf der Strasse leben, dies aus freiem Willen tun. Deshalb dürfe man sie auch bestrafen, da sie die Dienstleistungen, die ihnen angeboten werden, nicht in Anspruch nehmen. So wird es der Öffentlichkeit erklärt – die Betroffenen werden für ihre Obdachlosigkeit selbst verantwortlich gemacht. Aber San Francisco hat jahrzehntelang zu wenig in bezahlbaren Wohnraum investiert. Die daraus resultierende Wohnraum-Krise hat zur Folge, dass jedes Jahr rund 20 000 Menschen zeitweise oder langfristig auf der Strasse landen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Jahr sind etwa 8000 Personen in der Stadt konkret obdachlos. Anders als die Stadt es darstellt, gibt es aber nur etwa
4000 Notschlafplätze. Die Hälfte der Betroffenen ist also dazu gezwungen, im Freien zu schlafen, da sie keinen Zugang zu Dienstleistungen oder Unterkünften haben. Die Stadt behauptet jedoch, dass es genügend Unterkünfte für alle gebe, diese aber von den Obdachlosen nicht genutzt würden. Wir haben dazu drei Jahre lang Daten gesammelt. Sie alle haben gezeigt, dass Obdachlose, die von den Behörden angehalten, gebüsst und verhaftet werden, lediglich von einem Strassenabschnitt zum nächsten verfrachtet werden. Die Polizei bringt sie einfach ausser Sichtweite. Dazu kommt die massive Sachbeschädigung durch die Sicherheitskräfte bei den Räumungen der Zeltlagerstätten. Diese Zerstörungen sind grausam und unüblich.
Toro Castano: Bei den ganz grossen Räumungsaktionen sind mehrere Behörden anwesend: Da ist das «Homelessness Outreach Team», das ausschliesslich fürs Räumen zuständig ist. Sie bieten Notschlafplätze an, aber wissen selbst oft nicht genau, wo was frei ist. Dann ist das «Public Works Department (DPW)» vor Ort, um den Menschen so viel persönliche Habe wegzunehmen wie möglich. Gerüchten zufolge verkaufen sie die Sachen auf Flohmärkten weiter, was dazu passen würde, wenn man sich anschaut, welche Dinge sie in der Regel mitnehmen (technische Geräte wie Laptops und Mobiltelefone, Schlafsäcke, Zelte, Gaskocher, Decken, Anm. d. Red.). Die Polizei ist meistens auch da, damit alles ordnungsgemäss abläuft. Ich wurde einmal während einer Räumung verhaftet; das kommt aber selten vor. Normalerweise sind sie nur daran interessiert, die Leute zu vertreiben.
Hadley Rood: Das Vorgehen ist entmenschlichend, abwertend und macht es den Betroffenen schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Einer unserer Kläger berichtete, die Stadt habe ihm sein Zelt so oft weggenommen, dass er sich letztlich dazu entschied, in einer Kartonschachtel zu leben, weil es sich für ihn nicht lohnte, sein Zelt immer wieder zu ersetzen. Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, haben Angst, zu Arztterminen, Wohnungsbesichtigungen oder beruflichen Terminen zu gehen und ihr Hab und Gut mehr als ein paar Minuten unbeaufsichtigt zu lassen. Sie leben in der ständigen Angst, dass etwas passieren könnte.
Das Anwaltsteam focht in seiner Klage die Rechtmässigkeit der Räumungen an und stellte fest, dass die Stadt die verfassungsmässigen Rechte der Betroffenen verletze. Die Jurist*innen beziehen sich dabei unter anderem auf den 8. Verfassungszusatz (amendment), der vor grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung schützt. Er besagt, dass niemand für etwas bestraft werden kann, für das er*sie nichts kann. Im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit heisst dies, dass man die Betroffenen nicht für das Schlafen oder das Aufstellen eines Zeltes im Freien bestrafen darf, wenn sie in ihrer Heimatgemeinde nirgendwo anders hinkönnen, keine Unterkunft oder Wohnung haben. Auch im Falle der Zerstörung von persönlichem Eigentum ohne
Durchsuchungsbefehl und ohne ausreichende Vorankündigung sehen die Anwälte einen Verstoss, diesmal gegen den 4. und 14. Verfassungszusatz, welche die unangemessene Beschlagnahme und die Verletzung des Rechts auf ein ordnungsgemässes Gerichtsverfahren regeln. Darüber hinaus werde nach Ansicht der Anwält*innen auch gegen staatliche Behindertengesetze verstossen. Menschen mit Einschränkungen sind in zweierlei Hinsicht unverhältnismässig stark von den Räumungen betroffen. Die Stadt gibt sich keine Mühe, Behinderten bei Räumungen ausreichend Zeit für das Einsammeln ihrer Habseligkeiten einzuräumen, während die angebotenen Unterkünfte oft nicht behindertenkonform sind.
Hadley Rood: Die Stadt vernichtet wertvolle und lebenswichtige medizinische Gegenstände. Einer unserer Klägerinnen wurden die Beinprothesen weggenommen. Sie ist beidseitig amputiert und muss entweder einen Rollstuhl oder Prothesen benutzen. Auch andere Dinge wie Gehhilfen oder lebenswichtige Medikamente, die Betroffene täglich für ihre chronischen Beschwerden brauchen, wurden beschlagnahmt oder weggeworfen.
Am 23. Dezember gab das zuständige Gericht den Kläger*innen recht und entschied, dass Räumungen von Lagerstätten «unfreiwillig obdachloser Menschen» einzustellen seien, solange die Stadt nicht ausreichend Notschlafplätze zur Verfügung stellen könne. Der Anwalt der Stadt forderte Anfang Januar eine weitere Ausdifferenzierung dieses Urteils in dem Sinne, ob damit alle Obdachlosen-Zeltlager gemeint seien und erkundigte wie der Gerichtsentscheid mit einem früheren Urteil zu vereinbaren sei, das den Behörden geradezu ein strikteres Durchgreifen im Stadtteil Tenderloin auferlegte, wenn Personen sich einer Unterbringung verweigerten. (Zur speziellen Lage in diesem Quartier, wo eine massive Drogenkrise zahlreiche Tote fordert, siehe SurpriseAusgabe 537.) Zudem verwies der Anwalt auf die hohen Kosten für den Bau neuer Unterkünfte (über 1 Milliarde US-Dollar) und die Zeit, die es dauern wird, bis diese fertiggestellt würden. Bleibt zu hoffen, dass die Betroffenen bis zur weiteren Klärung dieser Fragen die Zeit der schlimmsten Kälte ohne weitere Räumungen durchstehen können.
Dieser Artikel basiert u.a. auf einer Episode von «Street Speak», dem Podcast von Street Sheet: streetsheet.org/street-speak-podcast
Übersetzt aus dem Englischen von Translators without Borders. Überarbeitet und ergänzt von Sara Winter Sayilir. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Street Sheet (US) / International Network of Street Papers.