3 minute read
Von Fotos verführt
Kulturwandel Digitale Bilder wirken tagtäglich unmittelbar auf uns ein. Das führt zu neuen Formen der Beschäftigung mit dem Medium Fotografie. Zum Beispiel im Fotomuseum Winterthur.
TEXT DIANA FREI
Bildkulturen wandeln sich. Die Zeiten, in denen sich die Auseinandersetzung mit Fotografie darin erschöpfte, eine Aufnahme in einem Rahmen an die Wand zu hängen, um dann Bildaufbau und Motiv zu diskutieren, sind vorbei. Fotos zirkulieren heute ständig. Menschen schiessen laufend Bilder mit ihren Smartphones, bearbeiten sie, versehen sie mit Text, veröffentlichen sie, kommentieren diejenigen von anderen, teilen sie. Bilder im digitalen Zeitalter haben viel mit unserem Leben zu tun. Mit der Gesellschaft, in der wir leben, mit unserem Blick auf die Welt. Mit uns selbst.
Das Fotomuseum Winterthur hat darauf bereits vor Jahren mit dem Format SITUATIONS reagiert, das die jeweiligen Ausstellungen online begleitete. [permanent beta] ist nun die Weiterführung: eine Plattform auf der Museumswebsite, die den Rechercheprozess hinter einer Ausstellung von Anfang an offenlegt – und erst mal einfach Materialien zu einem Thema versammelt. In ungefähr zwei Jahren sollen daraus dann eine Ausstellung und eine Publikation entstehen.
«Etwa ab 2014 gab es im Bereich der Fotoinstitutionen grosse Unsicherheiten, weil man einerseits spürte, dass das Medium Fotografie in seiner bisherigen Form an Bedeutung verliert und anderseits eine Fotografie entstanden ist, die aktiv zirkuliert wie nie zuvor», sagt Doris Gassert, Research Curator am Fotomuseum Winterthur. «Wir sind als Institution, das auf das Medium spezialisiert ist, der Meinung, dass wir diesen Bildkulturwandel ernst nehmen müssen.» Neu gefragt werden muss also: Wie wirkt sich unser Bildgebrauch auf unser soziales Verhalten aus, auf unser ge sellschaftliches Miteinander? Auf politische Handlungen, soziale Strukturen, auf gesellschaftliche Prozesse?
Das Thema, dem die Kurator*innen von [permanent beta] zusammen mit eingeladenen Künstler*innen und Theoretiker*innen nun quasi unter öffentlicher Beobachtung online nachgehen, heisst «The Lure of the Image» (die Verlockung des Bildes). Wie werden wir von digitalen Bildern verführt oder gesteuert, geködert oder auch getäuscht? Apps, Plattformen, Programme, Kanäle und deren Algorithmen spiegeln gesellschaftliche Prämissen und verstärken sie. «Ich sehe immer mehr Frauen mit aufgespritzten Lippen, bei denen man überspitzt formuliert den Eindruck bekommt, sie hätten sich den Bildfilter einer App ins Gesicht operieren lassen», sagt Gassert. «Ich behaupte, die Dynamik fängt tatsächlich beim Filter und den digitalen Möglichkeiten an, Gesichter formen zu können. Diese Vorgaben beginnen sich in der Realität zu manifestieren.»
Auch die Bilder, die in Programme zur Gesichtserkennung eingespeist werden, formen den Menschen, der als Norm gilt. So entstehen mitunter feine Ausschlussmechanismen und Diskriminierungen, Bildprozesse werden gesellschaftlich relevant.
Repetition schafft Realität
«Wir merken alle, dass wir beeinflusst werden. Als Fotomuseum wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie viele Faktoren daran beteiligt sind» sagt Gassert. «Von Interesse sind also Algorithmen, Strukturen von Plattformen und Methoden, wie Affekte gesteuert und Botschaften gezielt verbreitet werden.» Seien es SocialMediaBeiträge oder Phänomene wie Hatewatching (das Vergnügen, sich etwas anzuschauen, um es zu hassen) oder Clickbaiting (das gezielte Ködern von Aufmerksamkeit, oft verbunden mit Formen des Etikettenschwindels): Es geht im Kern oft um die Herstellung von Emotionen. «Viele Informationen, die Menschen mobilisieren sollen, werden so gestreut, dass sie affekthaft wirken. Mit Bildern kann man viel bewirken, was man mit Wörtern allein nicht schafft», sagt Gassert.
Damit können sie schnell zur politischen Kraft werden. Zugehörigkeitsgefühle werden von Bildern beeinflusst, die eigene Identität, die Bildung von Communitys.
«Wir untersuchen unter anderem die Logik dieser Prozesse, und wir merken, dass zum Beispiel die Repetition dabei ein wichtiger Faktor ist. Gerade auf TikTok ist sie offensichtlich: Menschen machen stundenlang dieselbe Wischbewegung auf dem Smartphone, um sich Clips anzusehen, die nach dem immer gleichen Muster – mit kleinen Abweichungen – funktionieren. Offenbar erzeugt Repetition Wohlgefühl. Entsprechend werden in der Politik Inhalte, die keinerlei Wahrheitsgehalt haben, einfach wiederholt, bis sie sich zu einer Art von eigener Wahrheit verfestigen und mit der Zeit immer breiter akzeptiert werden. Die Repetition ist also eine solche Logik der Verführung.»
[permanent beta] ist in Sektionen unterteilt wie «cheated by an image», «accidental discoveries», «unfinished thoughts»; die Beiträge sind auf Englisch und bestehen aus losen Notizen, kurzen Podcasts oder Chatverläufen zum Mitlesen. «Cheated by an image» (getäuscht von einem Bild) ist eine Serie von kurzen Podcasts, in denen Menschen von Alltagserfahrungen berichten, wie sie auf Bilder «hereingefallen» sind. «Und unter ‹Marginalia› geben wir Einblick in Texte, die wir lesen», sagt Gassert. «Wir verarbeiten die Texte durch unsere Notizen am Rand und teilen sie dann. So legen wir unseren Forschungs und Rechercheprozess offen.»
Das Prozesshafte steht auf [permanent beta] grundsätzlich im Vordergrund. So teilen auch Künstler*innen ihren Arbeitsprozess. Unter der Rubrik «Sponge Project» kann man dabei zusehen, wie die Künstlerin Dina Kelberman sogenannte ASMRVideos (die mittels bestimmter Materialien, Geräusche und Bewegungen eine sensorische Erfahrung bei Zuschauer*innen auslösen sollen) online sammelt und kategorisiert, um eine eigene Videoarbeit daraus zu formen. Ein spielerisches Unternehmen, das aber doch systematisch dem Phänomen nachgeht, wie sich Massen von Menschen von bestimmten Reizen gefangen nehmen lassen.
«Dass Museen verstärkt Arbeitsprozesse mit dem Publikum teilen, ist sicher auch pandemiebedingt nochmals stärker ins Zentrum gerückt», sagt Gassert. «Weil die Institutionen geschlossen waren, hat man Einblicke in Dinge gegeben, zu denen das Publikum in der Regel keinen Zugang hat.» Das Prozesshafte in der Kultur rückt damit immer stärker in den Vordergrund.
1 Dina Kelbermans «Sponge Project».
2 «Marginalia»: Notizen aus dem Forschungsprozess.
3 Für die einen klar erkennbar eine Salamischeibe. Für die anderen Fake News, weil dabeisteht, es handle sich um einen Stern im All.
4 Chatverlauf: Kurator*innen diskutieren (nicht mehr ganz) unter sich.