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«An vieles kann ich mich nicht gut erinnern»

Trauma Azade ist aus Afghanistan und dem Iran geflohen, mehrfach, vor Gewalt und Verfolgung. Wie erzählt man ihre Geschichte, ohne sie zu stark zu belasten? Ein Versuch.

TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN SARAH WEISHAUPT

Dies ist die Geschichte von Azade, die mit Anfang zwanzig aus dem Iran durch die Türkei über das Mittelmeer bis in die Schweiz geflohen ist, mit ihren kleinen Kindern und weiteren nahen Angehörigen. Eine solch gefährliche Reise tritt man nicht an, ohne schwerwiegende Gründe dafür zu haben. Es war nicht klar, dass sie es bis in die Schweiz schaffen und überhaupt: dass sie alle überleben würden. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, was es braucht, damit ich eine solche Entscheidung treffen würde. Gern wüsste ich, was sie zu diesem Schritt bewegt hat. Ich nenne meine Protagonistin Azade, das kommt vom persischen Wort für «frei». Auch die Namen aller anderen Personen, die vorkommen, sind anonymisiert.

«Geboren bin ich 1995 in Daikundi in Afghanistan, in einem Dorf. Ich gehöre zu den Hazara, wir sind Schiit*innen. Aber ich glaube nicht mehr an Schia, Sunna, Christentum und so. Ich glaube an Gott, aber egal, welche Religion. Als ich noch klein war, zogen wir in den Iran. Mein Vater hatte einen Onkel in der Nähe von Teheran. Dort fand er Arbeit in einer Ziegelei. Meine Mutter half ihm manchmal. Sie war damals schwanger. An meinen ersten Bruder, der wohl dort zur Welt kam, kann ich mich nicht erinnern, nur aus Erzählungen meiner Mutter. Er hiess Ali Reza Mohammed Davud. Viele Namen, die Eltern konnte sich wohl nicht auf einen einigen. Er wurde nicht einmal ein Jahr alt. Er starb an Gelbsucht. Ich hatte noch einen zweiten Bruder, Abdurrahim. Er war drei Jahre älter als ich. Als ich sieben war und er zehn, arbei- tete er schon mit dem Vater in der Ziegelei. Einmal hatten die beiden Pause am Morgen. Meine Mutter kochte immer Tee für sie. Abdurrahim wollte den Tee holen gehen. Dazu musste er die Strasse überqueren. Ein grosser Lastwagen kam sehr schnell angefahren und hat ihn erfasst. Ich werde dieses Bild nie vergessen, wie er da lag. Einer der grossen Reifen war über seinen Kopf gefahren. Ich war wie taub, konnte nicht weinen. Ich war noch ein Kind! Ich konnte nicht glauben, dass er tot ist. Abdurrahim war immer der gute Sohn gewesen, der arbeitete und meinem Vater half. Ich habe immer meine Mutter angeschaut, wie sie weinte. Plötzlich lief sie ganz krumm.»

Verlust, Gewalt, Flucht – im Leben von Azade ist viel Belastendes, Traumatisierendes auch. Mir ist wichtig, meiner Gesprächspartnerin keine zusätzliche Last aufzubürden. Deshalb entscheide ich mich für ein spezielles Setting, angelehnt an eine Methode aus der Psychotherapie (siehe Box): Ein grosser Bogen Packpapier, darauf zeichne ich eine lange Linie. Ganz unten schreibe ich «Geburt» hin und ans obere Ende «heute». Auf dem Tisch liegen grosse Zettel in verschiedenen Farben, Tesafilm, bunte Magnete und Stifte sowie Post-its. Gemeinsam erarbeiten wir uns einen Einblick in das, was sie erlebt hat, unter der Prämisse, dass ich eher wenig frage, bohre oder lenke und sie so frei wie möglich auswählen kann, was sie teilen kann und möchte. Oft wiederhole ich, was sie erzählt hat, um sicherzugehen, dass wir vom selben sprechen. Manchmal tippt sie einzelne Sätze in ihr

Telefon und lässt diese übersetzen. Dann hält sie mir den Bildschirm hin. Ich schreibe alles auf einen Zettel und wir entscheiden zusammen, wo ich die Erinnerung auf dem Zeitstrahl platzieren soll. Das funktioniert ganz gut. Als wir beim dritten Treffen mit der Übersetzerin alle von mir verschriftlichten Erinnerungen noch einmal abgleichen, gibt es nur wenige Korrekturen. Hier und da vertiefen wir etwas. Trotzdem ist der Wortlaut, den ich hier wiedergebe, nur eine Annäherung daran, wie Azade selbst erzählt.

«Nach dem Unfall und der Geburt meiner Schwester Farifteh gingen wir zurück nach Afghanistan. Im Iran ist ein afghanisches Leben nicht viel wert, hatte mein Vater gesagt. Ich hatte immer Angst vor meinem Vater. Er war nicht nett zu uns. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter es mit ihm aushielt. Er schlug sie, und uns auch. Aber das war normal bei uns. Alle Männer waren so, im Iran und in Afghanistan. Mein Vater sagte, wir Mädchen sollten unseren Blick auf der Strasse immer auf den Boden richten, damit man nicht schlecht über unsere Familie dächte. Ältere Menschen, Männer wie Frauen, sollten wir höflich grüssen. Gleichaltrige aber durften wir nicht anschauen. In Mazar-e Sharif im Nordosten des Landes wurde ich eingeschult. Ich durfte die erste Klasse überspringen. Meine Mutter hatte im Iran einen Alphabetisierungskurs gemacht, und ich hatte abends immer mit ihr gelernt. Ich konnte also schon lesen und schreiben. Ich ging gern zur Schule, dann konnte ich zuhause raus. In der Schule war es besser. Zwei Mal wurde ich auch in der Schule geschlagen. Einmal war meine Mutter krank, und ich musste früher nach Hause gehen. Ich habe keine Erlaubnis bekommen, ging aber trotzdem. Ich musste ja zuhause helfen. Am nächsten Tag wurde ich zur Direktorin gerufen. Dort gab es Schläge. Doch meine Mathelehrerin kam dazu und hat mich in Schutz genommen. Azade sei eine gute Schülerin, hat sie gesagt, man müsste mich loben statt bestrafen. Das hat mich gefreut. Das andere Mal hatte ich mit einer Freundin den Paschto-Unterricht geschwänzt und die Direktorin hat uns erwischt und ausgeschimpft. Aber das war nicht so schlimm wie der Unterricht, wo ich geschlagen wurde, weil ich nicht gut war. Paschtunen sind nicht gut zu Hazara.»

Die Hazara gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen in Afghanistan. Im 19. Jahrhundert bildeten sie dort die grösste Minderheit. Zwischen 1888 und 1893 wurden als Teil des sogenannten «Nation Building» Afghanistans mehr als sechzig Prozent der Hazara ausgelöscht. Es folgten weitere ethnische Säuberungen. Hazara-Frauen waren besonders betroffen, weil sie gezwungen wurden, Paschtunen zu heiraten und zum sunnitischen Islam zu konvertieren.

Als Azade 1995 auf die Welt kam, befand sich Afghanistan in einem brutalen Bürgerkrieg, nachdem die sowjetisch-gestützte Regierung in Folge des Zusammenbruchs der UdSSR gestürzt war. Wie zahlreiche andere Kampfverbände unterhielten auch die Hazara eine bewaffnete Partei, die Hezb-e Wahdat. Doch sie unterlagen im Kampf um die Vorherrschaft den mehrheitlich sunnitischen, radikalen Kräften: Islamisten und Warlords. Unter ihnen setzten sich 1996 die Taliban durch. Die Hazara als Schiiten

Lebenslinien

Das biografische Gedächtnis von Menschen mit Traumafolgestörungen ist häufig zerrüttet. Sie können nicht willentlich auf Erinnerungen zugreifen, oft gehen ganze Lebensabschnitte unter. Die sogenannte Lebenslinie ist ein möglicher erster Schritt in der Annäherung an das Traumamaterial, der auch bei Laienanwendung zu Erfolgen führen kann. Es geht darum, mithilfe einfacher Symbole die wichtigsten Ereignisse des Lebens in eine Reihenfolge zu bringen. Oft werden dazu Materialien wie Schnur, Blumen und Kiesel verwendet. Diese erlauben, in der sogenannten Narrativen Expositionstherapie (NET) erstmalig kontrollierten Kontakt zu den fragmentierten Erinnerungen aufzunehmen, um daraus später eine chronologische Erzählung zu entwickeln. NET wurde als kurzes und pragmatisches Verfahren zur Anwendung in Krisengebieten entwickelt.

galten und gelten den Taliban als Häretiker*innen und somit nicht nur als verfeindet, sondern mitunter als vogelfrei. Damals zog die Familie in den Iran. Nach dem Elften September 2001 drängte die US-geführte NATO-Operation «Enduring Freedom» die Taliban in Afghanistan zurück. Wie knapp 800 000 Afghan*innen kehrte auch Azades Familie in dieser Zeit wieder zurück. Nach einer bereits jahrhundertelangen Geschichte religiös begründeter Gewalt müssen die Hazara mit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 nun ein weiteres Kapitel mit Hinrichtungen, Zwangsehen und Zwangskonvertierungen befürchten.

«2012 war ich fertig mit der Schule, als eine der besten meines Jahrgangs. Ich wäre gern weiter auf die Uni gegangen, aber meine Eltern haben das nicht erlaubt. Sie wollten mich verheiraten. Ich war erst siebzehn. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter das wollte! Sie sah doch selbst, wie schlimm es mit meinem Vater war. Ich habe sie gebeten: ‹Mama, bitte nicht, ich will nicht›, aber sie hat gesagt, ich müsse die Hochzeit akzeptieren. Da waren zwei Cousins, die mich heiraten wollten: Einer war der Sohn des Bruders meines Vaters, der andere der Sohn der Schwester meiner Mutter. Sie haben sich für den Cousin mütterlicherseits entschieden. Der reiste extra mit dem Vater aus dem Iran an. Er hiess Nuruddin. Ich habe ihm direkt gesagt, dass ich nicht will. Er brach in Tränen aus. Auch er war erst 22, was sollte er tun? Er konnte auch nicht frei entscheiden. Und ich glaube, er liebte mich. Also gab ich nach und stimmte zu.»

Das ist der Moment, wo sie beim ersten Treffen einen dieser Sätze in ihr Handy tippt und mir den Bildschirm hinhält.

«Die Hochzeitsnacht war für mich wie eine Vergewaltigung. Ich war auch nie verliebt. Ich weiss gar nicht, wie das ist. Meine Söhne, die liebe ich. Meine Schwestern, meine Mutter. Aber einen Mann? Nein. Ich habe immer nur Angst. Ein Bruder meines Vaters, der mich auch für seinen Sohn wollte, war damals beleidigt, dass meine Eltern sich für den anderen Teil der Familie entschieden hatten. Er sagte, ich sei ihm schon als Baby als Schwiegertochter versprochen worden. Er war auch nicht zur Hochzeit erschienen. Zwei Monate später stand er plötzlich vor der Tür und bedrohte meinen Vater und uns. Einmal waren wir im Basar, da liefen plötzlich zwei Typen sehr nah bei uns, sagten anzügliche Dinge zu mir. Nuruddin sagte etwas zurück, sie griffen ihn an, einer hatte ein Messer und stach meinem Mann zwischen die Rippen. Dann sagten sie, ‹das nächste Mal töten wir euch›, und sind weggerannt. Das hatte mit diesem Onkel zu tun. Ich habe Nurudddin ins Spital gebracht, er musste genäht werden. Danach haben uns meine Eltern in ein Haus an einem anderen Ort gebracht. Wir konnten monatelang nicht rausgehen. Ich musste mit Burka einkaufen. Wir zogen deshalb zu seiner Familie in den Iran.»

Afghanische Geflüchtete sind im Iran vielfältigen Diskriminierungen und Barrieren ausgesetzt. Nicht nur ist offen zur Schau gestellter Rassismus gegenüber Afghan*innen weit verbreitet. Auch haben Migrant*innen aus Afghanistan in der Regel keinen gesicherten Status, sondern lediglich Aufenthaltstitel, die jährlich verlängert werden müssen. Arbeitserlaubnisse sind, sofern sie erteilt werden, befristet und beschränken sich grundsätzlich auf Tätigkeiten mit geringer Qualifikation. Viele, insbesondere jene, die nicht offiziell registriert seien, würden als Tagelöhner*innen auf dem Schwarzmarkt arbeiten und seien der Willkür ihrer Arbeitgeber*innen ausgesetzt, sagt der Analyst David Jalilvand gegenüber der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung. Besonders problematisch ist die Situation afghanischer Frauen. Angesichts tradierter kultureller Praktiken wie Kinder- und Zwangsehen oder Gewalt in der Ehe fehlt afghanischen Migrantinnen in Iran hinreichender Schutz. Denn das iranische Rechtssystem benachteiligt Frauen systematisch und die Zugangshürden sind für Afghaninnen in der Praxis sehr hoch.

«Meine Schwiegermutter war gemein zu mir, sagte, ich sei zu nichts nütze. Auch die grosse Schwester meines Mannes behandelte mich wie eine Angestellte. Später, als sie selbst verheiratet war, hat sie sich dafür entschuldigt. Sie sagte zu mir, sie habe nicht gewusst, wie es ist, in einer fremden Familie zu leben, es täte ihr sehr leid. Sie wusste es nicht besser, sie war noch jung. Ich hatte Heimweh, jeden Tag sagte ich zu meinem Mann, ich will zurück nach Hause. Anrufen war teuer, Nuruddin gab alles Geld, das er verdiente, seiner Mutter. Selbst Nuruddins Vater gab das Geld seiner Frau. Ich musste um alles bitten. Zwei Jahre haben wir dort gelebt. Dann wurde ich schwanger. Ich wollte kein Kind, ich habe schwere Sachen getragen, gehofft, es würde weggehen. Immer war ich müde und kraftlos. Meine Schwiegermutter sagte, dass sie nicht genug Geld hätten, um mich ständig zur Ärztin zu bringen. Zwei Wochen habe ich hochschwanger in einer Näherei ausgeholfen und Geld verdient. Die Chefin dort hat immer Druck gemacht, ich solle schneller machen.»

Hier wird Azade unsicher: Sie hat Mühe, die Abfolge der Ereignisse klar zu ordnen. Erinnerung ist etwas Wandelbares – auch wenn man sich mitunter einredet, man könnte sich ganz genau erinnern. In Wirklichkeit wandeln sich Erinnerungen im Laufe der Zeit, man übernimmt Teile aus den Erzählungen anderer, der Eltern, Geschwister und Verwandten, kann diese von eigener Erfahrung kaum unterscheiden. Unter hoher Belastung wird besonders Schmerzhaftes vom Gedächtnis mitunter eingekapselt und unzugänglich gemacht. Anderes wird einfach so vergessen. Wir haben nur begrenzt Einfluss auf diese Prozesse. Gleichzeitig erzählen wir gern in einer Weise über uns selbst, als gäbe es eine schlüssige, logisch zusammenhängende Folge von Erinnerungen, die zusammen eine wahre Lebensgeschichte bilden. Mancherorts, beispielsweise im Asylprozess, wird dies politisch sogar zur Bedingung für die Glaubwürdigkeit der Beantragenden gemacht. Dabei haben es gerade emotional schwer belastete Menschen nachweislich schwer, sich (immer gleich) gut an das zu erinnern, was sie durchgemacht haben.

«Ali kam 2014 auf die Welt. Mein Vater war da schon verstorben, das muss im Herbst 2013 gewesen sein. Als meine Mutter mit meinen Schwestern zu uns in den Iran kamen, war Ali etwa fünf Monate alt. Meine Mutter und Schwestern fanden schnell Arbeit im Iran. Erst zogen wir in eine Wohnung gegenüber jener meiner Schwiegereltern. Dort waren wir aber nur kurze Zeit. Dann zogen wir in eine Kellerwohnung, dort war es sehr feucht. Ali hat dort Schmerzen in den Beinen bekommen, bis heute hat er das. Wir konnten uns keine bessere Wohnung leisten. Nuruddin arbeitete als Maurer, er wollte nicht, dass ich auch arbeite. Er war sehr eifersüchtig. Er dachte, wenn ich rausgehe zum Arbeiten, würde ich andere Männer treffen. Er sagte, ich solle auf die Kinder achtgeben. 2017 kam Yasin auf die Welt.»

Nur 15 Prozent der afghanischen Männer sind der Meinung, dass es Frauen erlaubt sein sollte, nach der Heirat zu arbeiten, und 60 Prozent beklagen, dass afghanische Frauen «zu viele Rechte» hätten, das sagt eine von UN Women und Promundo durchgeführte Studie aus dem Jahr 2019. Afghanistan verzeichnet laut UN Women eine der höchsten Raten von häuslicher Gewalt sowie

Gewalt gegen Frauen; bereits vor der Pandemie erlebten neun von zehn Frauen mindestens einmal im Leben Gewalt vonseiten ihres Ehemannes.

«Nach dem Tod meines Vaters wurde die Bedrohung durch meinen Onkel für uns immer besorgniserregender. Meine Mutter und ich fingen an, über eine Flucht in den Westen zu sprechen, wo wir sicher sein würden vor seinem Zugriff. Nuruddin war nicht überzeugt, aber ohne ihn konnten wir nicht gehen – eine Gruppe aus Frauen mit kleinen Kindern, ausgeschlossen. Wir konnten ihn schliesslich überzeugen. 2018 machten wir uns mit dem Bus auf den Weg an die türkische Grenze. Drei weitere Männer, die wir nicht kannten, kamen mit und halfen uns unterwegs mit dem Gepäck und den Kindern. Zwei Jahre waren wir unterwegs. 2020 war ich diejenige, welche – zunächst allein – in die Schweiz einreiste. Als die

Polizisten mich in Lausanne aus dem Bus holten, nahmen sie mich zu dritt mit in ein Gebäude, ich hatte viel Angst. Wir stiegen in einen Fahrstuhl, als die Tür oben wieder aufging, war da eine Frau. Da hatte ich nicht mehr so viel Angst. Ich musste mich ganz ausziehen, aber da waren nur Frauen. Im Verhörraum wollte ich immer nur schlafen. Mir war kalt und schwindlig, ich war sehr erschöpft. Ich hatte 300 Franken, davon haben sie mir 200 weggenommen, als Busse wegen illegaler Einreise. Sie sagten, ich habe zehn Tage Zeit, das Land wieder zu verlassen. Sie haben mich an einer Bushaltestelle abgesetzt. Ich wusste nicht, wo ich war, es war dunkel, ich hatte kaum noch Geld, mein Telefon hatte keinen Akku mehr. Ich habe geweint, es war kalt, ich hatte zu dünne Kleider. Eine Frau kam mit einem Hund, eine Niederländerin. Sie hat mich mit nach Hause genommen. ‹Hab keine Angst›, sagte sie, ‹hier sind nur ich, ein alter kranker Mann und der Hund.› Ich durfte duschen, sie hat mir etwas zu essen gemacht, und ich konnte meine Familie anrufen. Die wussten nicht, wo ich war, wie es mir geht. Ich habe geschlafen. Sie brachte mich auch zum Bahnhof und setzte mich in den Zug nach Basel, dort wartete eine Freundin auf mich. Ich war so durcheinander, ich hatte mir nicht einmal ihren Namen aufgeschrieben. Ich würde mich so gern bei ihr bedanken, sie war so nett.»

Am Ende des dritten Gesprächs ist Azade aussergewöhnlich erschöpft. Wir haben alle Notizen mit der Übersetzerin noch einmal durchgesprochen. Sie erzählt, dass ihr jüngerer Sohn zwei Tage zuvor auf dem Schulweg verloren gegangen war. Eine Stunde lang wusste sie nicht, wo er war. Gemeinsam mit dem Vater, von dem sie mittlerweile getrennt lebt, suchte sie alles ab. Was für andere Eltern ein eher schnell überwundener Schock ist – Yasin ist unverletzt wieder aufgetaucht –, raubte Azade noch Tage danach den Schlaf. Immer wieder geht sie nachts zu ihm ans Bett, um nach ihm zu sehen., erzählt sie. Ich frage, ob sie unseren Aufzeichnungen noch irgendwas hinzufügen möchte.

«Ich erinnere mich an vieles nicht gut. Am liebsten möchte ich das alles nicht noch einmal erzählen müssen.»

Journalismus und Trauma

Viele Journalist*innen führen im Rahmen ihrer Arbeit Gespräche mit schwer belasteten, möglicherweise traumatisierten Menschen In der Regel haben sie hierfür keine entsprechende Ausbildung. Dies birgt Gefahren für die interviewte Person, re-traumatisiert zu werden; auch für die Journalist*innen kann das belastend sein. In der Branche gibt es dafür kaum ein Bewusstsein. Auch weil es oft schnell gehen muss, und weil jede zusätzliche Fachperson wie Therapeut*innen und interkulturelle Übersetzer*innen Geld kostet. Um Betroffene zu schützen, hat sich im angloamerikanischen Raum der sogenannte «trauma-informed journalism» entwickelt. Er vermittelt Journalist*innen ein Bewusstsein für die emotionale Ausnahmesituationen, in der sich die Interviewpartner*innen befinden. Zudem bietet er praktische Regeln und Tipps für verantwortungsbewusste Berichterstattung. Mehr dazu: dartcenter.org.

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